Mendele Moicher Sfurim
Die Mähre
Mendele Moicher Sfurim

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Sechzehntes Kapitel

Tanz geht dem Essen nicht voran

Als ich zu Ende geredet hatte, warf ich mich erschöpft und schweißbedeckt mit brennendem Gesicht und wundem Herzen unter den Baum.

Die Mähre war für mich nach einer solchen Aufführung erledigt. Ich hielt sie für verloren, auf ewig verloren. Nimmer würde sie es zu etwas bringen. Ihre Feinde schienen wohl recht zu haben, die Welt ist ja nicht von Sinnen, sie war wohl wirklich ein schlemieliges Unglücksvieh. Was sollte ich sie da betreuen und bemuttern? Ich wollte noch ein wenig warten, dachte ich, bis es rechter Tag würde, um von ihr wegzufliehen, wohin mich die Augen führten. Ich würde selbst ans Lebewohl vergessen und mich nicht verabschieden. Mochte sie tun, was sie wollte. Wir hatten überhaupt nichts mehr miteinander zu schaffen.

Während ich so in meiner Wut dasaß, hörte ich von ferne eine Stimme zu mir sprechen.

»Ja, was bedeutet das, daß du so fliehen willst? Wie, ein Mann wie du und fliehen?!«

»Die Mähre ist eine Zauberin, sie weiß, was im Herzen vorgeht. Sie hat wohl erraten, daß ich von ihr fliehen will!« So dachte ich und glaubte, die Stimme komme von der Mähre, darum stellte ich mich einfältig und fragte stotternd:

»Was . . . fliehen . . . wer . . . vor wem . . .?«

»Vor dem Bauern.«

»Ach vor dem Bauern, fragst du, warum ich vor dem davongelaufen bin?« sagte ich und wurde ruhiger. »Ein Bauer bleibt ja ein Bauer, ein Wilder. Er wollte mich ja schlagen.«

»Was? Wen schlagen?! Dich? Und du bliebst dazu still?!«

»Na, was hätte ich denn tun können?«

»S-s-o-o-o! Du konntest nichts tun, du bist geflohen! Und sein elendes Pferd hat er immer weiter geschlagen! Wie?! Sind denn barmherzige Vereinsmitglieder nicht auf den Wegen und Straßen?«

Ich wurde verwirrt und hatte nichts zu erwidern.

»Die erbarmungsvollen Leute sind wohl wirklich die erbarmungsvollen Leute und die unschuldigen Geschöpfe – die armen unglücklichen Pferde leiden weiter! Die Unglückswesen, die man früher marterte, die quält man wohl auch jetzt noch! Aber aber, geht es in der Welt denn vogelfrei her?!«

Ich ließ bei diesen Worten die Nase hängen.

»Ja, heutzutage gibt's den ›Tierschutz-Verein‹.«

Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen und wandte den Kopf ab.

»Als du früher diese Worte laut von ganzem Herzen ausriefst, hätte man wahrhaftig glauben können, daß die messianische Zeit gekommen sei! Alles Getier und Vieh kommt brüderlich zusammen, Wölfe verbrüdern sich mit Lämmern, Tiger und Ziegen werden Gesellen, sie bitten einander um Verzeihung wegen früherer Sünden, wegen einstigen Unsinns; was gewesen ist, ist gewesen, ab heute sollen gute Einrichtungen getroffen werden. Die scharfen Nägel und die schrecklichen Zähne sind in den Schrank zu tun, mit der Mode des Blutvergießens und Fleischessens ist es vorbei, es gibt keine starken und vornehmen Herren, alle sind gleich, man schreit lustig: ›Hurra, hurra!‹ Die messianische Zeit ist da, und während alle sich freuen und tanzen, muß gerade ein Bauer mit einem Pferde daherkommen und es mörderlich prügeln – und die ganze Freude ist verstört. Ich bitte dich, was hat er dir gesagt, der wilde Kerl?«

»Sie höhnt mich«, dachte ich ärgerlich und erwiderte kein Wort.

»Es ist wohl ein Irrtum. Alles, was du sagtest, war wohl bloß ein Theaterstück, bloß eine Komödie. Da sitzt der Vorstand des Tierschutz-Vereines, ist besorgt, erzählt von Barmherzigkeit, Menschlichkeit, und dort quält man die unglücklichen Geschöpfe. Wer will, lädt den Pferden über ihre Kräfte Lasten auf und preßt ihnen die Seele aus dem Leibe hinaus. Man hilft ihnen anscheinend nur mit einem guten Wort, mit einem Seufzen, mit einem Ach. Das reinste Theater, wahrhaftig! Die heutige Zeit verdient wahrlich den Namen: Die Zeit des Achsagens, Redens, Schwatzens.«

»Genug!« fuhr ich zornig los. Ich konnte bei diesem Gespött nicht mehr an mich halten. »Genug, spotte nicht mehr, wenn man ernst zu dir spricht, wenn man zu dir von Aufklärung und Bildung spricht.«

»Man spricht ernst mit ihr?!« erhielt ich, gleichfalls zornig, die Antwort. »Nun, so höre – warum liegst du wie ein Aas am Boden? –, so höre, was dir aus ganzem Munde gesagt wird. Man spricht ernst mit ihr, sagst du?! Nein soowas! Wenn du einem die Zähne öffnest, dann muß man dir sagen, daß du absonderlich bist, deine Reden und deine Briefe sind ganz absonderlich und es ist wohl nicht anders: Du mußt verrückt sein. Man sagt dem unglücklichen Wesen: ›Lerne!‹ So frage ich: Erstens, du Neunmalweiser, warum befiehlt man es gerade ihr? Gibt es denn in der Welt sonst gar keine ungebildeten Pferde, ganz gewöhnliche Tiere, die in keinem Gestüt erzogen wurden – trotzdem könnte man ihr ein solches Leben wie ihnen wünschen, ohne daß sie zu kurz kämen! Zweitens, wenn sie auch wirklich die Faxen der edlen, gebildeten Pferde nicht kann, darf man sie gleichwohl kein rohes Tier nennen, scheint mir. Und wo steht geschrieben, daß jedes Pferd just das Zeugnis eines Gestüts haben müsse? Drittens, wenn sie zwar nicht so tanzen und Faxen machen kann, wie Gestütspferde, so hat man dafür wieder mehr, viel mehr Nutzen von ihr als von ihnen. Die andern brauchen nichts zu arbeiten, sie kennen nichts als den Spazierwagen und den Jagdritt. Sie dagegen muß die schwersten Arbeiten tun und alle Lasten schleppen. Wo ist ihr Fleisch, ihr Leib hingekommen? Sie hat es an der Arbeit verloren. Man mag sagen, was man will, aber ihre Mühe und Plage haben sehr viel Nutzen gestiftet. Viertens, welchen Zusammenhang, ich bitte dich, haben Essen und die notwendigen Bedürfnisse mit der Bildung? Ist es gerecht und billig, jemanden nicht essen und frei atmen zu lassen, wenn er nicht gewisse Künste erlernt? Jedes Geschöpf, das geboren wird, ist vor allem eine lebendige Sache, von der Natur mit allen nur für es bestimmten Sinnen und Gliedern ausgerüstet, um alles für sein Leben Notwendige zu erhalten. Es hat zum Beispiel einen Mund zum Essen, es hat eine Nase zum Atmen, es hat Füße zum Gehen und nicht zum Tanzen. Tanzen und ähnlicher Krimskrams sind bloß erfundene Dinge, die hat man später selbst erfunden und Bildung genannt. Ich will mich hier nicht ins Philosophieren einlassen, ob die Bildung und alle die Kunststücke gut oder schlecht sind; ob alles, was man lehrt, wie man es angeordnet hat und woher es stammt, ob das alles gar Bildung heiße. Denn man sieht ja viele Künste, die einst auf dem Programm standen und sehr viel galten, während sie heute nicht mehr am Platze sind. Andere Künste wieder, deren ganzes Fundament – o weh! – auf Geschmack und Hypothesen ruht, sind doch bei allen Menschen sehr verschieden. Andere wieder, angeblich ernste Kunststücke, die auf der Willkür des Menschen, auf Launen, auf alten verschimmelten Sitten beruhen. Es gibt auch Geschichten, die man von vornherein auf Sand gebaut hat, auf die Phantasie, die Einbildungskraft. Dann gibt es Geschichten, die sich auf Tatsachen stützen, das heißt darauf, was in der Welt geschehen ist, aber die Tatsachen an und für sich sind wirr und durcheinander, jeder erzählt sie auf andere Weise, jeder sieht sie anders, außerdem werden sie nur von außen abgeschildert, aber wer weiß, was im Innern vorgeht? Nun, und dann darf man ja nicht vergessen, daß auch die angeblich ernsten Geschichten nichts weiter geben als Possen, Faxen und Kinderspiele, aber die im Wesen guten Erfindungen, die edlen, herrlichen Künste, die kommen hier nicht besonders gut weg. Noch einmal: ich lasse mich hier nicht in tiefes Philosophieren ein, ob an der Bildung und euren Kunststücken etwas daran ist oder nicht, ob sie der Welt Glück oder Unglück gebracht haben. Solche Grübeleien kümmern mich jetzt nicht. Ich will nicht mehr sagen, als daß sie bloß Nebensachen sind. Bei der Geburt weiß das Geschöpf nichts von ihnen, es spürt sofort den Trieb zum Essen, zum Atmen und zur Bewegung, bevor es noch die allermindeste Ahnung von jenen ausgedachten Erfindungen hat. Ihr braucht ihm meinetwegen kostbares Geschirr, Kopfbüsche und Flitterkram und ähnliches Spielzeug und Tand nicht zu geben – die ihr für jene Künste bestimmt habt –, aber Nahrung, freies Atmen und alles Notwendige, das der Körper verlangt und ohne das er nicht auskommen kann, all das müßt ihr ihm geben, es hat ein Recht darauf, ihr könnt es ihm unter keiner Bedingung rauben. Ihr könnt das Geschöpf nicht eingesperrt halten, damit es sich nicht bewege, denn dadurch muß es allmählich absterben – so nehmt ihr ihm doch das Recht auf Leben –, ihr dürft es nicht einfach quälen und martern, denn das muß es ja schmerzen, es könnte noch ein elender Krüppel werden – so nehmt ihr ihm ja das Recht auf Gesundheit und Lebensgenuß!

Und wenn du einem schon die Lippen aufreißt, so will ich es dir offen sagen: Ich verzichte auf dein Mitleid! Ich will deine Vermittlung nicht, daß man sie nicht so quäle, daß man ihr das Nötige gebe, um ihr Leben zu fristen, bloß aus Barmherzigkeit, weil es ein Jammer ist, das anzusehen. Sie will nicht einmal, daß du alle ihr zum Leben notwendigen Dinge mit der Begründung erbettelst, daß und welchen Nutzen man von ihr habe und haben könne. Das sind alte Geschichten, alte Lieder, die ich schon zu verschiedenen Zeiten singen hörte. Gewöhnlich, wenn die Welt um sich zu sehen und zu überlegen beginnt, spricht man von Humanität, das heißt Menschlichkeit, von Mitleid, von Barmherzigkeit. Es dauert gar nicht lange und die Welt fängt allmählich an, praktischer zu werden – dann wird es Mode, vom Utilitarismus zu sprechen, das heißt, von der Nützlichkeit, vom Nutzen, den man von diesem und jenem haben kann. Zum Schluß, wenn die Welt zur Vernunft und zur Billigkeit kommt und den Weg der Natur und all ihrer Geschöpfe besser begreift, dann beginnt man, von Wahrheit, von Gerechtigkeit zu sprechen. – Ich will nichts von Erbarmen und Nutzen hören. Erbarmen und Nutzen sind Dinge, auf die sich die Welt nicht gründen kann. ›Ich bin allen gleich‹, sagt das Geschöpf mit Recht, ›aus Fleisch und Blut sind wir alle, unsere Bedürfnisse sind die gleichen, und dasselbe Recht zum Leben haben wir alle. Wenn jemand Erbarmen mit mir hat, so heißt das soviel, als daß ich durch seine Gnade lebe; er – hat das Recht aufs Leben und ich – nicht! Daß ich mich erhalte und ein wenig Luft schnappe, das habe ich ganz und gar nur ihm zu verdanken. Während wir beide gleiche Geschöpfe mit denselben Bedürfnissen sind, läßt er mich leben, weil ich ihm Nutzen bringe – das heißt soviel, daß er das Ziel, das Wesentliche ist, und ich bloß lebe, weil ich ihm dadurch nütze bin; für mich selbst hätte ich gar nicht geschaffen zu werden brauchen. Ich will aber so wie alle andern leben, bloß weil ich auch ein Wesen für mich bin. Verstehst du, du gerechter Anwalt, du barmherziger Herr? Auf eure Barmherzigkeit und darauf, daß ihr von mir Nutzen haben könnt, kann ich mich überhaupt nicht verlassen. Morgen kann sich dein Herz verhärten, zu allen Teufeln, du bist schlechter Laune, oder ich werde dir einmal nicht die genaue Ziegelzahl liefern können – dann kannst du in Zorn geraten, deine Wut über mich ergießen, und es wäre um mich geschehen! Wenn ihr mich gerecht behandeln werdet, so wie ihr andere behandelt, dann, siehst du, werden wir über Künste sprechen. In guten Umständen, in angenehmer Lage, ja, dann ist's recht, dann hat man den Kopf für solche Dinge. Du wirst es dir dann sogar ersparen können, mir Predigten zu halten.‹ Nu, was sagst du dazu, mein Herrlein?!«

»Was ich sage?« antwortete ich. »Ich sage: Das muß der Teufel sein, der heute aus dir spricht, ja, der Teufel!«


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