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An einem schönen Morgen im Frühling fuhr vor unserem Haus ein Wagen vor, der mich nach Dnjeperstadt zu bringen hatte, wo ich mein Examen machen sollte. Meine Mutter war sehr traurig, ihre Augen wurden von Tränen nicht trocken; sie weinte unaufhörlich und sah mich an, sah mich an und weinte.
»Weine nicht, Mutter«, bat ich sie und heulte selber los. Es war mir schrecklich schwer ums Herz. »Weine nicht, Mütterlein! Ich fahre doch nicht Gott weiß wohin und wozu. Ich muß doch den Tanz einmal überstehen, ich habe soviel gearbeitet und mich geplagt, Gott wird helfen, ich werde mein Ziel erreichen, ich werde mein Brot in Ehren verdienen können und es zu etwas bringen – dann, Mütterlein, wirst du Freude von mir haben. Weine nicht, wahrhaftig, weine nicht, Mütterlein.«
»Ach, Ssrulik«, antwortete sie. »Du hast das so leicht zu sagen. Wenn ein Mutterherz weint, kann man es nicht so leicht beruhigen wie ein Kind. Es weint nicht ohne Grund. Es spürt, es erfühlt etwas, was niemand mit dem Verstand begreifen kann. Ich bitte dich, Ssrulik, vielleicht überlegst du es dir doch noch und fährst nicht? Wozu sollst du dich in den Jahren so plagen, du armer Kerl? Wer weiß, ob du es nach aller Mühe gut haben wirst? Ob dir deine Rackerei etwas helfen wird? Wieviel gebildete Menschen gehen bei uns Juden ohne Stiefel, die armen Teufel! Wieviel gelehrte Leute quälen sich ihr ganzes Leben und gehen zugrunde! Ssrulik, die ganze Geschichte mit ihren Schulen und ihrer Lehre ist ja was ganz Neues, unsere Väter hatten keine Ahnung davon. Gebe Gott, daß das nicht uns und ganz Israel Not bringe, daß nicht Kinder von den Eltern losgerissen werden. Ich bitte dich, bleib daheim. Schwer, sehr schwer ist mir der Abschied von dir.«
Der Fuhrmann kam ins Haus, nahm alle meine Sachen und machte damit meinem Gespräch mit der Mutter ein Ende. Wir küßten und verabschiedeten uns beide weinend. Ich warf mich in den Wagen und fuhr ab.
Lacht nur, ihr heutigen Aufgeklärten, lacht, worüber ihr wollt, aber bitte lacht nicht über die Meinung, daß das Weinen eines Mutterherzens einen Grund haben muß! Solange ihr schweigt und mir die Frage nicht beantworten könnt, was das Leben ist, wie im Innern unseres Gehirnes alle unsere Gedanken und Gefühle entstehen, wie sich in uns aus einem Stoff und Faden, die noch nicht auf der Welt sind und sich erst später entwickeln werden, wunderbare Träume spinnen und weben – solange ihr schweigt und keine Ahnung von Begreifen habt, werde ich euch nicht über die Meinung lachen lassen, daß das Menschenherz fühlt und errät. Ihr dürft nicht, ihr habt nicht das Recht, zu lachen, wenn ich sage, daß meiner Mutter Herz nicht ohne Grund weinte:
Ich fiel durchs Examen!
Es lohnt sich zu wissen, wie und was mir mißlang.
An dem Tage, da ich die Prüfung ablegen sollte, war ich just guter Stimmung und unverzagt und trank auch noch, um mir Mut zu machen, ein Gläslein Branntwein, obwohl ich sonst nie trinke. Unbesorgt, dachte ich, Gott wird mir schon helfen! Warum sollte ich solche Angst haben? Ich habe es doch mit gelehrten, feinen Männern zu tun, die werden mich wohl fein und zart behandeln, so wie es Gelehrte tun müssen, und werden mir Mut machen. Aber wehe! Als ich zur Prüfung kam, ließ ich bald die Nase hangen. Die Lehrer saßen in Uniformen mit Messingknöpfen da und sahen mich so strenge und böse an, als ob ich gestohlen oder einen Menschen erschlagen hätte, sie blickten wie ein Kommissar zu jenen Zeiten, dessen erster Willkommengruß lautete: »Woher? Ich werd dir –! Hast du einen Paß?« Wozu brauchen wohl Lehrer, deren Beruf es ist, aus uns und unsern Kindern Menschen mit Verstand und Gefühl zu machen, deren Beruf es erfordert, daß sie gut, einfach und gegen jedermann zutraulich seien, damit sich ihnen die Herzen, in die sie den Samen der Erkenntnis, des Lebens, des Friedens und der Menschenliebe zu säen haben, eröffnen – wozu brauchen sie wohl Messingknöpfe, wozu blicken sie streng wie die Polizisten? Man sage, was man will, man kann sich Sokrates, Plato, Aristoteles und die anderen doch nicht mit solchen Knöpfen, mit solchen sauren Mienen und finsteren Gesichtern vorstellen! Begreiflicherweise verlor ich bei ihrem Willkomm bald meinen Mut und wußte nicht mehr, was mit mir geschah. Und wenn das der Zweck war, dann erreichten die Lehrer, was sie wünschten, daß es eine Art hatte. Mein Kopf war sofort wirr. Ein Lehrer wandte sich mit einer Miene an mich, als ob er sagte: »Das will auch wer sein! Ich habe einen offenen Kopf, ein gutes Hirn! Ich frage! Verstehst du? Ich, ich frage. Respekt, ja?!« Mit solcher Miene wandte er sich mir zu und warf mir Fragen von hier und von dort an den Kopf, bis wir auf eine Geschichte kamen – just auf die alte Jaha! Ich verwickelte und verstrickte mich, ich kam vom Weg ab und stolperte. Die Lehrer erwiesen mir die Ehre, mir ein Lachen zu schenken, ihre Miene wurde heiterer, und damit war's mit meinem Examen Schluß – aus mit der ganzen Mühe, aus und Schluß mit allen Hoffnungen!
Vor Leid konnte ich nicht in meinem Quartier sitzen bleiben und irrte in der Stadt umher, durchmaß alle Straßen und die schönen hohen Berge in der Umgebung der Stadt. Ich kam bloß ins Quartier, um irgend etwas zu mir zu nehmen und zu schlafen. Ich sage das so: Schlafen: Der Schlaf mied mich gänzlich, und ich verlebte furchtbare Nächte, in denen ich mich in meinem Bette von einer Seite auf die andere warf! Kaum schloß ich die Augen, so tauchten, wie aus dem Boden gewachsen, absonderliche Gestalten vor mir auf, blickten mich böse mit sauern Mienen an – und es begann das Theater – das furchtbare Theater. Eine Komödie wurde gegeben, in der ich der Sühnehahn war und den Spruch von den »Menschenkindern« vor mir im Buch sah, ohne die Bedeutung von »Menschen« zu kennen, ohne zu wissen, was »Menschen« heißt, und fühlte, wie ich durch die Luft flog und kreiste, an allen Vieren gebunden, wie man mit mir Kapures schlug.
Einmal krähte ich während eines solchen Spiels mit gewaltiger Stimme auf und erschrak so heftig über mein Kikerki, daß ich tödlich entsetzt aus meinem Bette sprang und ganz wirr hinausfloh. Mir schien, als ob man mir nachliefe und fortwährend schrie: »Wo ist er? Haltet ihn!« Als ich so Hals über Kopf rannte, stieß ich plötzlich an jemanden und fühlte, daß mich eine kalte Hand eisenfest hielt. Vor mir erblickte ich ein altes Weib, dürr, ohne ein Lot Fleisch, bloß Haut und Knochen. Anstelle der Augen waren zwei tiefe Löcher, verbrämt mit schmutzigfaltiger, lederartiger Haut, von einer eklig-abscheulichen Farbe, der Mund war bis zu den Ohren offen, kein einziger Zahn in seiner Leere und Öde, bloß die Zunge schoß drinnen umher und krümmte sich zappelnd wie ein Wurm in seinem Loch. An ihrem Arm hing ein Korb mit großen lebenden Krebsen, die Ungeheuer krochen übereinander herum und bewegten die Scheren wie Zangen. Sie sah mich schweigend an, ihr Mund zog sich noch breiter auseinander. Er schien zu lachen. Entsetzen, was für ein Lachen das war! Ein finsterer Schatten von Schwermut lagerte sich davon über die Seele, und das Innerste erstarrte zu Eis. Die alte Jaha fiel mir ein, die schon seit Jahren mein Unglück war, die mir im Weg stand und mich nicht emporkommen ließ. Kalter Schweiß drang mir aus allen Poren, es wurde mir zur Ohnmacht übel. Ich tat mir Gewalt an, riß mich von der Stelle los und rannte wie von Sinnen.