Willy Seidel
Der Gott im Treibhaus
Willy Seidel

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Fünfzehntes Kapitel

»Du hast mir verziehen?«

»Ich habe Dir nie gezürnt. Warum hätte ich Dir zürnen sollen? Du hast mich so gesehen, wie Du mich immer siehst; ein Gewand ist nichts. Ich bin immer dieselbe.«

»Und Ole?«

»Ich habe ihm zugesprochen, es ist alles gut.«

»Verbena!!«

»Ja, ich will versuchen, Dir eine Freundin zu sein. Aber bestürme mich nicht; ich kann Dir nie ganz gehören.«

»Also doch Ole!«

»Nein, nicht dieser.«

Er stand auf und sah sie mit Augen an, die vor Ratlosigkeit 170 flackerten. – »Dann ist es der Dritte, von dem Du immer sprichst. Wer ist dieser Dritte?«

»O, Rupert, frage jetzt nicht. Du wirst ihn kennenlernen. Aber so lange Er da ist, kann ich Dir nicht ganz gehören. Was Er sagt, muß ich tun. Er war sehr erzürnt, als Du mir nachschlichest. Wärest Du Hand in Hand mit mir hineingegangen, Er hätte vielleicht eine ruhige Miene gezeigt; so aber hat Er mir eine schlimme Stunde gemacht, und Ole und Er haben mich mit Worten gepeitscht, daß ich fast krank wurde. Ole verlangte, ich solle Unseren Freund um Entschuldigung bitten; und Er wollte mir kaum verzeihen. Nun aber hat Er sich beruhigt, und Du wirst Ihn kennen lernen.« – Rupert hielt es für das Klügste, keine weiteren Fragen zu stellen. Dieses Rätsel mußte sich lösen.

»Nun gut,« sagte er, »ich will Ihn Dir nicht rauben.«

»Das könntest Du auch nicht,« meinte sie und reckte sich hoch auf. »Ich kenne Ihn so lange ich denken kann; Er ist der Gespiele meiner Kindheit. Er wird nie versuchen uns auseinander zu bringen, dessen bin ich sicher, aber Rupert, Du mußt warten. Es ist schwer, furchtbar schwer, etwas allein zu tun. Ich habe Ihn bis jetzt immer befragt, Er war mein Orakel. Nun tue ich etwas auf eigene Faust, und ich weiß nicht, ob es recht ist, ich habe nur das Gefühl, daß ich mich nicht irre.«

»Nie hast Du Dich weniger geirrt,« atmete er auf und umschlang sie. Seine Hände trafen und umfaßten sich auf ihrem Rücken. Er preßte ihre elastische Brust an die seine und sie hing kaum merkbar atmend mit zurückgelegtem Kopf in seinen Armen und sah ihn durch halbgeschlossene Lider an. Plötzlich fühlte er, wie die Luft ihre Brust mit einem Ruck ausdehnte, als wolle sie das freiwillige, neuartige 171 Gefängnis sprengen. Ihr ganzer Leib straffte sich, sie riß sich mit einer fast jähen Bewegung los. – Zum erstenmal sah er eine Glut auf ihrem Antlitz erwachen. Ja, ihre Wangen und ihr Kinn, sogar noch ihr Hals schienen sanft zu glühen. Trotz und Hohen traten in ihre Haltung: jene abweisende Angriffsstellung, mit der sie ihm im Treibhaus ihre kühle Nacktheit ins Gesicht geschleudert.

»Für dies, Rupert, bleibt uns noch genug Zeit. Ich setze Gewalt gegen Gewalt.« – Ihre Lippen schürzten sich unmerklich, es war ein leises Heben der Mundwinkel, hatte jedoch nichts mit Lächeln zu tun. – »Sieh einmal,« fuhr sie etwas sanfter fort und legte ihm ihren kräftigen, mattweißen Arm um die Schulter, »wenn Du der bist, den ich mir ausgemalt, und wenn Du mir gönnst, was ich nun einmal haben muß, nämlich die Freundschaft des Anderen, dann werde ich mich Dir vielleicht nicht versagen. Aber ich muß dies alles erst erfahren und wissen. Weißt Du denn, wer ich bin? Du kannst diesen Dritten, den Du für Deinen Gegner hältst und den Du naturgemäß als Beeinträchtigung empfindest, nicht so aus der Welt schaffen, denn Er ist ein Stück von mir, Er hat mich so gemacht, wie ich jetzt vor Dir stehe. Er ist das Vollkommene und ich muß Dir lange, lange Nachmittage erzählen, wer Er ist. Du kannst Ihn nicht über die Achsel werfen, Rupert, Er ist zu stark und zu mächtig. Er würde wiederkommen in tausend Verkleidungen, Du wärst Ihm nicht gewachsen, und bevor Du Ihn nicht durch und durch erkannt hast, hast Du auch mich nicht erkannt. Er ist nötig für uns beide.«

Rupert, der wieder auf den Sessel gesunken war, noch stark geschwächt von seiner freiwilligen Entbehrung und dieser Gemütserregung, blickte sie ratlos an und ergriff dann ihre 172 Hand, die er langsam küßte. Die kühle Haut linderte den heißen Unmut der Enttäuschung, die ihn überkommen wollte, und sanft drehte er diese Hand herum, so daß sein Gesicht nun in ihrem Handteller ruhte. Er preßte es hinein und war auf einmal ganz ruhig. – »Ich glaube Dir,« flüsterte er.

»Du mußt mir schon glauben,« fuhr sie gleichmütig fort. »Mit Gewalt läßt sich gar nichts ausrichten, denn ich kann mich Ihm ebensowenig entziehen wie Du. Nun aber stärke Dich, ich fahre jetzt zurück und erwarte Dich bei uns. Bleibe sitzen und zerbrich Dir über nichts den Kopf, morgen kommst Du dann und ich werde Dir alles erklären.« – Sie beugte sich nieder und küßte ihn auf die Stirn. Während sie ihn mit beiden Händen an den Schläfen herabfuhr bis auf die Schulter, empfand er fast augenblicklich eine wohlige Mattigkeit, wie die Wiederkehr einer großen Genesung für Leib und Seele. Er sah sie noch langsam hinausgehen mit jenem lautlosen, elastischen Gang; aber daß sich die Tür schloß, hörte er nicht mehr. Er verfiel in einen Schlaf, als tauche er in gleichmäßig grünem Dämmerlicht unter, wie es in nie betretenen Waldesgründen herrscht.

Er erwachte.

Er rieb sich die Stirn und blickte sich erstaunt um. Er wollte dem Schmerze lauschen, der in seiner Brust so unerträglich geschrien hatte wie ein Kind im Brunnenschacht; doch es war still. Alles war zugeschüttet, und auf dem Schutt dieser trüben Stunden war neues Leben erblüht, ein Hain von Knospen. – Durch die ganze Wohnung war ein leiser Duft verstreut, wie er an ganz warmen Herbsttagen oder im Vorfrühling ans der Erde quillt: der Duft modernden Laubes, aus dem ungebärdig lichtgrüne Keime brechen; die große 173 Gewißheit, die der März mit sich bringt. – Er wurde sich eines mächtigen Hungergefühls bewußt und leitete diese Wiederkehr zum Leben mit einem Frühstück ein, dessen Reichhaltigkeit ihn selbst in Erstaunen setzte. Dabei ging ihm fortwährend das Rätsel im Kopf herum: wie in aller Welt hatte sie diesen Zustand ahnen können, und wie war sie in die Wohnung eingedrungen? – Dies mußte die erste Frage sein, die er an sie richtete.


Da sein neuer Aufenthalt beim Professor nunmehr ein dauernder zu werden versprach, gab er einen mannshohen Schrankkoffer auf, der alles zum Dasein Notwendige enthielt. – Die Wohnung hatte er nicht gekündigt, da er im Zentrum festen Fuß behalten wollte; dies konnte ihm bei dem »Großen Werk« zustatten kommen. – Als er sich noch in der Wohnung umblickte, zeigte sie ihm ein ungastliches Gesicht. Er hatte zu viel gelitten unter diesen Gegenständen, die ihm vertraut und nun doch verhaßt waren. Wie einer, der Türen endgültig hinter sich schließt, eines völlig neuen Lebens gewärtig, so ließ er alles zurück ohne Bedauern. Fremd war ihm diese üppige Bequemlichkeit der Sessel, dieser raffinierte Luxus, diese Sammlung kleiner handlicher Bequemlichkeiten; es gab auch nichts, was in das Bild passen mochte, das ihm von seinem neuen Aufenthalt vorschwebte.

Er trat in eine reine, strenge Kühle ein, in einen Tempelbezirk, über dessen Mauern nichts vom täglichen Dasein dringen durfte. Es war eine Welt gänzlich anderer Voraussetzungen, und er mußte sie sich ganz zu eigen machen, ganz in ihr aufgehen.

Gegen Mittag fuhr er hinaus. – Genau wie bei seinem 174 ersten Kommen hörte er den mächtigen Schritt des Professors im Vorplatz. Dieser stand schwarz, fast bedrohlich im Rahmen der Tür des kleinen Portikus, die er ganz auszufüllen schien. – Aber Rupert täuschte sich, wenn er mürrischen Grimm, ja auch nur schlechte Laune erwartete. Das große, zerfurchte Gesicht mit der Hakennase trug einen fast bekümmerten Ausdruck. Er hatte schier etwas Mitleidiges in der Bewegung, wie er den Gast diesmal begrüßte. Seine Augen schienen glanzlos und schielten in der Runde umher, als suchten sie einen Anhaltspunkt. Er bat Rupert sogleich in sein Studierzimmer und hieß ihn sich setzen. Nach einem enormen Geräusper, das mehrere Minuten füllte, sprach er plötzlich mit einer Stimme, die zuerst zerborsten klang, dann aber langsam wieder etwas von ihrem alten Brustton zeigte:

»So hat das Weibchen Sie also noch gerade rechtzeitig erwischt, was?« – Da Rupert ihn fragend ansah, fuhr er fort: – »Sie können mir ruhig die Schuld geben, junger Mann.«

»Ja, aber sagen Sie mir,« fragte Rupert eindringlich, »wie ist das möglich gewesen?«

»Nun, wie war es möglich, daß Sie ins Treibhaus gelangten?« setzte der Alte dagegen mit breiter Stimme.

»Ja, aber meinen Zustand, wie konnten Sie den erraten?«

»Nun, das schlägt in ein Kapitel, das Ihnen nicht mehr fremd sein müßte. Glauben Sie denn, Ihr Vater war der Einzige, dem es gelungen ist auf Entfernung zu empfinden? Bei Ihnen war es sogar noch einfacher. Der telephonische Anruf . . . O, glauben Sie nicht, man hätte Ihre Stimme nicht erkannt. Man ist feinhörig hier.« – Er hieb mit der Faust auf den Tisch; etwas wie das alte Feuer schien wie 175 ein kleiner Funke in seinen Augen zu erwachen. »Sie riefen und riefen, unablässig riefen Sie. Wir waren es hier schon fast müde, Ihre Stimme zu hören. Uns beiden gellten die Ohren davon, dem Weibchen und mir. Das begreifen Sie nicht, was? O, wir hören eine Fliege laufen, und es klingt wie ein durchgehendes Pferd für uns, wenn wir Lust haben . . . Irgend etwas zwischen Ihnen und dem Weibchen war naturgewollt. Das begriff ich, und deshalb ließ ich ihr die Zügel locker.«

»Also Sie,« schrie Rupert ihn fast an, »sind derjenige, von dessen Behagen es abhängig war, daß sie zu mir kam.«

»Regen Sie sich nicht auf.«

»Aber welche Ansprüche können Sie denn noch an dieses Mädchen stellen?«

Der Alte bekam einen roten Kopf. Er schluckte mehrmals hinunter als ob er etwas sagen wolle, jedoch wurde nur ein heftiges Geräusper daraus. – »Sie nehmen sich viel heraus, aber ich bin das ja gewohnt. Es ist ja nicht das erstemal,« sagte er endlich rasselnd und mächtig. »Ihre Logik ist vortrefflich. Ein alter Esel, denken Sie, der nun einmal das junge Fleisch um sich herum nicht missen will. – – Das stimmt soweit, das ist Ihre Logik und sie hat Berechtigung. Aber mein Lieber, wenn ich Ihnen auch etwas Kostbares abtrete, und das muß ich ja mit der Zeit, so ist es immer freiwillig von mir. Man braucht kein alter Esel zu sein, um das Junge zu schätzen. Aber das steht auf einem Blatt für sich. Da ich mein Leben auf hundertzwanzig taxiere, so habe ich die Hälfte knapp davon überschritten.«

Rupert saß da, von widersprechendsten Empfindungen hin und her geworfen. Seine Hände fuhren ratlos an den Stuhllehnen entlang.

176 »Da ereifert man sich,« fuhr der Alte fort. »Es liegt doch nicht alles so auf der Hand wie Sie glauben. Daß Sie hier sitzen anstatt sich drüben in der Stadt auf so klägliche Weise das Lebenslicht auszupusten, verdanken Sie mir, denn ich war es, der dem Weibchen erlaubte zu gehen. Ich hätte es ihr verweigern können, und dann?«

»Aber sie wollte es doch,« stammelte Rupert.

»Sie hätte zehnmal wollen mögen, noch bin ich da. Glauben Sie mir, ein Augenblinzeln genügt. Ihr seid törichte Kinder, aber da ich Euch durchschaue, gefallt Ihr mir. Ich habe Sie mit einbezogen in meinen Kreis. So experimentiere ich mit Ihnen, wie ich mit Verbena Studien treibe, doch lassen Sie sich das nicht anfechten. Sie werden es ebensowenig merken wie sie. Ich will Euch nicht schaden.«

Rupert sank zusammen. Er hatte keine Erwiderung. Er sah sich wieder einer Macht gegenüber, die er nur halb verstehen konnte und die nur dann wirksam zu bekämpfen war, wenn sie ihm eine Handhabe bot. Der Alte hatte ihm brüsk diese Handhabe entzogen. Er war ihm auf Gnade und Ungnade verfallen. – »Also Sie waren es, der sie schickte,« murmelte er.

»Nicht schickte, junger Freund, der ihr die Freiheit ließ, zu tun, was sie sollte.«

Rupert atmete auf. Dann fragte er, nicht ohne Schärfe: »Aber der Dritte? – – Dort im Treibhaus?« – »Ja, ja, der Dritte!« – Der Alte lehnte sich zurück. Er glich auf einmal einem alten norwegischen Bauern, der zur Winternacht am Kamin eine Erzählung abzuspinnen sich anschickt.

»Ich werde Ihnen jetzt einen großen Vertrauensbeweis geben und werde Ihnen berichten, was es mit diesem Dritten für 177 eine Bewandtnis hat. Aber eins müssen Sie mir zuvor versprechen, daß Sie das Weibchen nicht darüber aufklären, was ich Ihnen soeben erzähle. – –

Vor neunzehn Jahren wurde ein einsamer Gebirgshof in der Gegend von Tromsö im nördlichen Norwegen von einem Bergsturz überschüttet. Die beiden Kinder, die zu diesem Hof gehörten, ein Knabe und ein Mädchen, kamen aus Zufall mit dem Leben davon. Der zehnjährige Knabe hatte damals seine erst ein paar Monate alte Schwester auf die Alm genommen, da die Eltern im Hause zu tun hatten. Man fand die beiden Kinder nach dem Felssturz, der seine Trümmer weit und breit umherschleuderte, noch zwischen den zersprengten Gesteinsmassen sitzen, der Knabe hielt die Kleine krampfhaft zwischen die Knie gedrückt. – Er hätte sie fast erdrosselt, so groß war sein Schreck und sein Bestreben, sie mit seinem Leben zu schützen. – Die Katastrophe hatte einen kurzen Luftwirbel erzeugt, der mehrere Meilen weit entfernt in abgelegenen Tälern als Donnerschlag erwachte. Man zerbrach sich zunächst den Kopf, woher das wüste Geräusch stamme, das plötzlich in der klaren Luft dahergewandert kam wie ein böser Albdruck. Nur eine Atemstockung lang währte es. – Dann berechnete man, daß, nach Art solcher Geräuschwellen, in der unberührten Natur sich eine der vielen unbeachteten Katastrophen vollzogen haben mußte, und mehr aus Neugier machten sich ein paar Leute, darunter ich, auf den Weg.

Der Bergrutsch hatte den Lauf eines Gletscherwassers abgelenkt, das nun kurz hinter dem Hof wie ein Geysir in die Höhe fuhr und einen neuen reißenden Bach erzeugte, durch den wir uns erst zu kämpfen hatten. – Eine Mauer war aus Zufall noch übrig, sonst war der ganze nicht sehr 178 geräumige Hof buchstäblich verschwunden. Eine einzige Ziege schrie kläglich mit zerquetschtem Bein aus den Trümmern hervor. – Der Knabe, der entgeistert irgendwo in einer Mulde hockte, gab keinen Laut von sich und starrte uns nur großäugig an. Der plötzliche Donnerschlag mußte ihn verwirrt haben. – Als er uns sah, ließ er einen weißen Gegenstand fallen, den wir nicht gleich erkannten, und rannte davon. Es war vergebens, ihn halten zu wollen. Wir pfiffen und riefen, doch er war bereits im Walde verschwunden und man hat bis zu dieser Stunde nichts mehr von ihm gehört.

Als die Ziege ihr klägliches Geschrei plötzlich einstellte, wurde uns klar, daß noch ein leises Wimmern zurückblieb Es kam von dem Gegenstand, den der Knabe hatte fallen lassen. – Es war ein vollständig ermattetes kleines Mädchen. Seinem Benehmen nach mußte es bereits mehrere Tage ohne Nahrung sein. Wir mußten uns beeilen, es zu retten. In den Trümmern, die wir durchforschten, fand sich gottlob etwas Käse und im Euter der Ziege, die noch gerade am Leben war, Milch genug, um das kleine Wesen zur Not zu sättigen. Ich nahm es mit und behielt es.

Wie jene Leute hießen, ist belanglos. Ich habe das Mädchen adoptiert und seitdem trägt es meinen Namen.

Sie war so gänzlich entwurzelt. Verwandte gab es nicht. Mehr aus Mitleid sorgte ich zunächst für das Kind; dann aber, als es sich zu entwickeln begann, nahm ich seine außergewöhnliche Schönheit und ihre Begabung wahr. Ich hatte mich schon damals, wie Sie wissen, intensiv mit unserem Projekt beschäftigt, und so beschloß ich denn, die günstige Gelegenheit nicht zu versäumen und diesen Menschen, über den ich durch Zufall Vollmacht besaß, so aufwachsen zu lassen, wie es das gottgewollte Erbteil des Menschen ist. – 179 Sie hat nichts von dieser Zeit gespürt, nichts von all dieser verwüstenden Häßlichkeit. Sie ist mein Geschöpf, in meiner Atmosphäre gediehen, ein Stück von mir ganz und gar. Eine Pflanze aus meinem Treibhaus, wenn Sie so wollen. Ich bin ihr Gärtner gewesen und habe ein so herrliches Wachstum gezeugt, wie es wohl nie vorher emporblühen durfte. Sie ist die vollkommene Unschuld. Sie ist stark, rücksichtslos, liebevoll, verschwenderisch und geizig, alles in einem; sie ist die Natur selbst, denn sie kennt nichts anderes als das Walten ihrer Gesetze.

Natürlich war es nicht leicht für mich, das Weibchen zu hüten, doch sie war so gewöhnt an mich und ist es noch, daß ihre Gedanken die meinen sind und daß ich in ihrer Seele lese wie in dem klarsten Spiegel. Aber wie der Mensch der Urzeit sich Mythen und Symbole schuf, um sich das Walten der Natur begrifflich zu machen, so mußte auch ich in dieses jungfräuliche Menschentum Mythen streuen, an denen sie zur wahren Einheit mit der Natur gelangen konnte, wie auf goldener Leiter, deren Sprossen aus handfesten Begriffen bestehen. – Mein ältester Mythus ist der ›Dritte‹, ist ›Unser Freund‹.

Setzen Sie einen Menschen der Frühzeit in die unberührte Welt, so erschafft seine Phantasie sich Dämonen, die seines Leibes sein müssen, um für ihn begrifflich zu sein. So auch erzählte ich schon der Fünfjährigen von jenem guten Geist, und da ihre nachschaffende Phantasie sich nicht beruhigte, sondern sich selbst schöpferisch betätigte und eine Frage der andern folgen ließ, so gestaltete ich für sie, mehr zum Spaße für mich, jedoch zur notwendigen Freude für die junge Seele, ein Geschöpf. – Und was war der natürlichere Aufenthalt für dieses Geschöpf, als der unter Pflanzen? Sie hatte 180 mich immer in das Treibhaus begleitet und ihre rege Findigkeit hatte dort Unendliches entdeckt, was mir selbst wie neues Wunder erschien. Ich hatte wahrgenommen, daß sie, wenn ich ihr vorschwärmte, einen starren Blick bekam und daß ihr Geist auf Wanderschaft ging, durchaus nur eingelenkt in Bahnen, die ich ihr mit zufälligen Worten vorgezeichnet. – Ein Blick von mir genügte, um sie zum willenlosesten Werkzeug meiner eigenen Phantasie umzuschaffen. Sie lebte in meinen Worten. Alle Begriffe, die ich ihr vortrug, wurden lebende Wesen, die sie vor sich sah, und so konnte es nicht ausbleiben, daß sie den Gerüchten über jenen guten Geist, der in ihrer Nähe stehe, der ihr bester Freund sei, der dort im Treibhaus hause, das willigste Ohr lieh. – So, mein junger Freund, entsteht eine Religion.

Eines Tages kam sie atemlos zu mir. Sie habe ihn gesehen. – Ich forschte. Noch war ihre Beschreibung lückenhaft, die Worte mangelten ihr. Mit einem Blick und einer leisen Berührung schläferte ich sie ein und brachte ihr in diesem Zustand hellsichtigen Halbschlummers neue Begriffe bei. – Ich beschrieb ihr den Geist. Ich hatte meine vertrackte Freude daran. Ich machte aus diesem Pflanzengott ein Idol. Er war wie Pan, der sich aus der Stille arkadischer Wälder gebar. Und als sie erwachte, ging sie wieder zu ihm hinein.

Diesmal hatte sie ihn deutlicher gesehen. Das Natursymbol hatte sich verdichtet zu leiblicher Plastik. Alles hatte sie gesehen, was ich ihr beschrieb, und diesmal hatte sie auch des längeren mit ihm geplaudert und er hatte ihr Antwort gegeben. Freilich war das alles Echo ihrer eigenen Seele, das sie ihm in den Mund legte, und mündete letzten Endes in meinem Hirn. Aber je mehr ich ihn formte und je mehr sie mir von ihm erzählte, desto froher ward ich um ihren 181 Glauben, denn das gute grüne Gespenst da drinnen entwickelte sich mehr und mehr zu ihrem Schutzgeist, und die Ratschläge, die er ihr gab, glichen, hätte sie mich gefragt, zum Verwechseln den meinen. – Sie empfand diese Vorstellung schließlich als eine festumrissene Persönlichkeit, die neben uns lebte, durch meine Macht im Treibhaus festgehalten und verzaubert. Ich hütete mich natürlich, sie jemals aufzuklären, ich ging selbst hinein und brachte ihr Berichte mit. Ich führte die kleine Komödie heiter und folgerichtig durch. – Dies fiel mir um so leichter, als ich selbst eine derartige Verwandtschaft zu all diesem Pflanzlichen spürte, so daß ich mir vorstellen kann, daß es zur Personifikation nur ein ganz geringer und angenehmer Schritt ist.

Der Geist wollte Spielraum. Er hatte das Verbena zu verstehen gegeben, wie sie mir bedeutsam erklärte. – So ließ ich da drinnen eine kleine Wildnis erblühen, legte einen Teich an und schuf für ihn selbst eine Art Nische, in der er sitzt, wenn sie ihn ruft. – So stehen die Dinge und ich habe es auf diese Weise verstanden, ihr alles zu ersetzen, was ein junges Weib ihres Alters zu brauchen wähnt. Sie entbehrt nichts. – Auf so zarte Weise erschöpft sich der Drang ihres Geschlechtes in der Vorstellung dieses Phantoms, daß sie sich der wahren und auf der Hand liegenden Bestimmung ihres Körpers bis jetzt noch nicht klar geworden ist. Der Drang nach Vereinigung war blind und setzte sich ins Gefühl der allgemeinen Umschlingung und Verwandtschaft mit all dem stummen Leben dort drinnen um. – Ja, in ihren stillen Ekstasen ward sie ganz zum Weib, ohne es jedoch im eigentlichen Sinne zu sein. Ich staunte oft über das verzehrende Glück, das sie beseelte. Sie gab sich dieser Traumgestalt hin. Sie verlor sich ganz an sie und ihre frohlockenden 182 Worte verrieten, wie glühend sie dies alles erlebt und daß es für sie eine Wirklichkeit war, von der sie sich selbst keinen Begriff machen konnte; denn ihr Verstand war ausgeschaltet, ihr Gefühl loderte wie eine reine Flamme. Und so erlebte sie die Hingabe unendlich stärker als die selbstquälerische und sterile Glut jener Frauen, die als ›Bräute Christi‹ altern . . . Dies alles müssen Sie wissen.

Um was ich Sie nun bitten möchte, rauben Sie ihr diese Vorstellung nicht. Ich kann Ihnen ja verraten, daß der einzige Weg für Sie, jemals eine maßgebende Rolle bei ihr zu spielen, der einer allmählichen Vertauschung ist. Überstürzen Sie nichts, sie wird langsam, langsam an Ihre Seite treten, und das Phantom dort hinten wird für sie verblassen. – Aber reißen Sie sie nicht roh heraus aus diesem so liebevoll gezüchteten Traumleben; Sie würden es bereuen, denn dann würden Sie sie verlieren. Geben Sie ihr nach, lassen Sie die eigene Phantasie spielen, freuen Sie sich der harmlosen und fruchtbaren Idee. Je mehr Sie ihr darin zugute halten, desto schneller werden Sie selbst Ihren Platz finden.«

Rupert stand langsam auf und reichte dem Professor die Hand. – »Wenn es auch lange dauert,« sagte er, »ich werde es versuchen und es muß mir gelingen.« 183


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