Willy Seidel
Der Gott im Treibhaus
Willy Seidel

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Neuntes Kapitel

Mit einemmal erschien das »Weibchen«, wie der Professor sie mit Vorliebe zu nennen schien, im Rahmen der Tür und bat beide zum Essen hinüber. – Rupert hatte schon zwischendurch ein Klappern und Hinundherhuschen im Hause vernommen und nun begriff er, daß sie anscheinend ganz allein für den Professor sorgte. Aber man sah diesem Geschöpf nie eine Ermüdung an. Sie trug keine Spur der häuslichen Arbeit an sich.

Sie stand dort in ihrem glatten, dunkelgrünen Seidenkleid, als ob sie soeben ihr Zimmer verlassen habe. Sie lächelte ganz kurz bei der Begrüßung Ruperts, dann jedoch nahmen 98 ihre Augen einen ernsten, fast grübelnden Ausdruck an, den sie das ganze Mittagessen über zur Schau tragen sollte.

Das zum großen Teil aus vegetarischen Dingen bestehende Mahl wurde in der Hauptsache schweigend eingenommen. Der runde Tisch war nicht groß und bot für vier Menschen Plätze. Rupert kam so nahe an Verbena zu sitzen, wie bisher noch nie. Im Flugzeug hatte eine hölzerne Scheidewand bis zur Schulterhöhe sie getrennt. Hier aber geschah es, daß ihr Fuß manchmal den seinen streifte oder daß sie, wenn sie hinausging, mit der Hüfte seine Schulter berührte. – Er hatte noch nie etwas so Beschwingtes erlebt, wie dieses Mädchen. Sie tat keinen Griff zu viel. Sie schien von einem seltsamen Spürsinn besessen, der ihr die kürzesten Wege und Handgriffe ermöglichte. Man hörte sie kaum, wenn sie ging. Sie behielt auch innerhalb des Hauses diesen ganz leicht in den Knien federnden Schritt bei, den er außen schon bei ihr bewundert hatte. Sie verlegte ihr Hauptgewicht anscheinend auf die vorderen Sohlenballen der Füße, doch kam kein Tänzeln dabei heraus, sondern ein rhythmischer Gang von ungemeiner Geschmeidigkeit. – Sie räumte ab und brachte neue Speisen. Er fand alles recht schmackhaft, da es, wie er im Lauf der spärlichen Unterhaltung erfuhr, mit Sorgfalt auf Kohlenfeuer zubereitet war und nicht mit Hilfe von Gas oder Elektrizität. Am Schlusse gab es eine Schüssel bergehoch aufgetürmten frischen Obstes.

Dieses alles war eine Sensation für den guten Rupert. Er hatte, so wahr ihm Gott helfe, noch nie rohes Obst zu Gesicht bekommen. Auch war ihm der Geschmack frischen Gemüses recht interessant gewesen. Diese Leute lebten lukullisch. Er gab seiner Meinung Ausdruck und erntete ein Meckern des Professors.

99 »Sie ärmster Zeitgenosse,« sprach er, mit vollen Backen kauend. »Riechen Sie doch an diesem Rosenkohl. Sie armer, an Konserven gereifter Mensch.«

»Aber Ole,« rief Verbena, »Du mußt ihm Verschiedenes zugute halten. Er hat doch keine Ahnung.«

Der Alte räusperte sich dröhnend und blickte in der Folgezeit leicht verschmitzt drein.

Derlei angriffslustige Neckereien erlaubte sich Örvandill während dieses Mahles noch öfters. Verbena preßte die Lippen zusammen und sah Rupert klar und – wie ihm schien – ohne bestimmten Ausdruck an. Vielleicht erwartete sie von ihm, daß er sich selber helfe, aber sie rührte keinen Finger. – Er war restlos den Späßchen dieses athletischen Scherzboldes ausgeliefert. Das für ihn Beklemmende war, daß der Professor eigentlichen Humor, wenigstens was Rupert darunter verstand, nicht zu besitzen schien. Seine Laune mästete sich an derben Kontrasten und wuchs. Doch gleichzeitig wuchs auch ein gewisser Grimm in seinem Ausdruck, so daß man nie wußte, ob sein Gemüt im Augenblick friedlich sei, oder ob er wieder zu neuen Schlägen aushole. Im allgemeinen war all' dieses keine allzu ermunternde Begrüßung für den Gast.

Mit jedem Atemzug, den Rupert aus der Richtung Verbenas holte, war neue Beruhigung und neue Kraft, doch sie saß so seltsam unbeteiligt da und ließ ihre Blicke fast kalt über den Tisch spielen. Zuweilen hielt sie für längere Zeit die Wimpern niedergeschlagen und ließ ihn Rätsel raten, was hinter ihrer schöngewölbten weißen Stirn vor sich gehen mochte. – Mit einemmal kam Rupert zu der Erkenntnis, daß die Gegenwart des Professors ihr irgendeinen Zwang aufzuerlegen schien, denn sie war wie verwandelt. Es war 100 etwas willenlos Mechanisches, in der Gebärde, mit der sie aß, zuhörte, sich im Stuhl zurechtrückte und kurze einsilbige Antworten gab. ›Fast wie ein Zwang,‹ kam ihm gegen Schluß vor. Sie unterlag einem unausgesprochenen Bann, den die hurtigen Bärenaugen des Alten um sie spannen. Es war etwas wie bramarbasierendes Pochen auf Besitz in dessen Gehaben. Wenn er sich in den Schultern drehte, daß die Fäden in seinem alten Gehrock krachten, wenn er Atem holte, daß die Falten auf seiner Weste spurlos verschwanden und zögernd wiederkehrten, so war's, als ob ein machtbewußter Nomadenfürst sich an einer lebenden Beute weide, für die seine Ratschläge bereits Befehl seien. Er konnte offenbar mit diesem Geschöpf tun, was er wollte; die ungeheure Gedankenenergie, die er ausstrahlte, blendete sie.

Auch Rupert fühlte dies Ungemütliche an dem Mann heraus, als seien sowohl er wie Verbena Drahtpuppen, die dieser wunderliche Regisseur zu seinem eigensten Vergnügen agieren lasse. Dies lag nicht eigentlich in den Worten, sondern mehr in der Art, wie er sie behandelte und wie er bedient wurde.

Kurz gesagt, Rupert fühlte, daß nach der morgendlichen Bekanntschaft mit Ole Örvandill von dessen Seite vorerst kein weiterer Schritt erfolge, um diese Bekanntschaft in ein Gleis milderer freundschaftlicher Aussprache überzuleiten. Es war etwas unfaßbar Entgleitendes, etwas Versagendes im Benehmen des Professors. Rupert beschloß, betroffen und nachdenklich, nun auch seinerseits nicht besonders herzlich zu erscheinen. – Er hätte gewünscht, daß Verbena auf seine begeisterte Zustimmung hin, was dessen Lebenswerk betraf, nicht gar so unzugänglich geblieben wäre. Geduld war jetzt die Hauptsache. – Er sah Verbena an. Ein 101 etwas scheuer Blick aus den großen blauen Augen ruhte gerade auf ihm, dann senkte sich die dunkle Wimpernseide schnell wie ein Vorhang, der nach der Vorstellung geschlossen wird. – Das Mahl war nun auch zu Ende, und sie stand, auf ein großes Geräusper Örvandills hin, das wie eine Schlußfanfare im Zimmer wiederhallte, unerwartet plötzlich wie erlöst auf. Bei dieser schnellen Bewegung entglitt ihr die Serviette. Wie ein Wiesel bückte sie sich, um sie aufzuheben, aber Rupert war noch schneller gewesen. Er geriet mit dem Kopf an ihre kleinen festen Brüste und hatte das Gefühl von einer nie berührten Kühle, unter deren Schutz leidenschaftliche Wärme verstohlen pulsiere. Dieser Eindruck war blitzschnell. Sein Kopf schien ganz umhüllt von einem Hauch, wie er von sommerlichen Kleewiesen wallen mag. Seine Hand, die die Serviette ergriff, war vorübergehend kraftlos. Er verstand sich selbst nicht. Es war, als ob der Kontakt mit diesem jungen Leibe etwas Lähmendes habe, als sei man einer elektrischen Leitung zu nahe gekommen und habe einen Stoß davon empfunden. Gleichzeitig durchbrauste es ihn wieder, wie nächtlich damals nach der ersten Begegnung und er erkannte, daß er diesem Geschöpf mit Leib und Seele verfallen sei.

Der Professor ließ seine listigen Blicke hinter den buschigen Brauen herüberspielen und brummte etwas wie einen Singsang, während die breiten Kuppen seiner Finger einen schnellen Takt auf dem Tischtuch trommelten. – Verbena hatte sich längst aufgerichtet. Dort, wo Ruperts Kopf sie getroffen, war etwas wie eine sanfte, rosige Spur auf ihrer weißen Haut zurückgeblieben. Sie war hinausgegangen, noch ehe er sich ganz wieder aufgesetzt, und blieb draußen. Der Professor erhob sich und reichte ihm die Hand hinüber.

102 »Wir pflegen nach Tisch eine Stunde zu schlummern,« sprach er unvermittelt. »Da Sie wohl noch nicht ins Hotel zurückkehren wollen, auch sonst nichts Dringendes vorhaben, so kann ich Ihnen ein Zimmer anweisen.«

Es blieb Rupert nichts übrig, als ihm zu folgen, während er die altmodische knarrende Eichentreppe hinaufstieg. Im oberen Stockwerk, dessen Korridor genau wie der untere mit breiten hellen Fliesen belegt war, öffnete der Professor eine Tür und ließ ihn in ein ziemlich kahles Gemach eintreten. Eine Decke lag dort auf einem von Wachstuch überzogenen Sopha.

»Hier verdauen Sie,« sprach er fast befehlshaberisch. Dann nickte er ihm kurz zu und ging, etwas Unverständliches brummelnd, wieder hinunter.

Rupert war ärgerlich. Er hatte sich auf eine »Plauderei in gemütlichem Kreis« gefreut, und nun verfügte man einfach über ihn und stellte ihn gleichsam hier oben kalt. – Es war ungeheizt im Zimmer. Er legte sich hin, wickelte sich in die wollene Decke und versuchte die Augen zu schließen. »Ich habe zu verdauen, gut,« meinte er, ohne zu merken, daß er schon halb dieser Suggestion von Ruhe unterlag.

Eine Zeitlang mochte er so gelegen sein und die Unlustgefühle verloren sich. War er nicht unter einem Dach mit ihr? – Auf einmal kam ihm die strenge Spärlichkeit des Zimmers trotz Kälte und mangelnden Komforts fast gemütlich vor, aber an schlafen war nicht zu denken. Es war so seltsam still. Leute, die wie er, ununterbrochenen Lärm gewohnt sind, Tag und Nacht vorbeiströmenden, haben es schwer, wenn sie ihn vermissen. – Das große Geräusch all' der vergangenen Jahre war nicht mehr da. – Eine Kulisse schien vorgeschoben. Hinter ihr war noch etwas wie ein unerleuchteter 103 Raum, der für ihn noch nirgendwohin zu führen schien. Daß Verbena sanft leuchtend darin umging, war ihm wohl ein Trost, aber wohin führte das alles?

Das große Geräusch fehlte . . . Er verspürte diesen Mangel wie leichte Atemnot. Er konnte nicht liegen, stand auf und ging ans Fenster. Er öffnete es und beugte sich hinaus.

Er blickte von der hinteren Seite des Hauses in einen ziemlich geräumigen Garten hinein. Bäume von einem Alter und einem Stammumfang, den er nicht für möglich gehalten, erhoben sich in regelmäßigen Abständen vor der weißen Mauer, die sich hier fortsetzte und den ganzen Garten umschloß. Durch die Kahlheit der Zweige konnte man sie noch in der Entfernung schimmern sehen. Sie war sehr hoch. Von den umgebenden Häusern konnte man jetzt wohl hineinblicken, doch war dies wohl schwer möglich, wenn die Bäume vollbelaubt waren. Auch gab es wenige Fenster an den Hinterfronten dieser Kontorhäuser; größtenteils nur Lichtluken für die Liftanlagen. Sie hatten alle gläserne Kuppeln auf den Dächern, was die Beleuchtung durch die breiten Fenster von der Straße zur Genüge zu ergänzen schien.

Also war dieses altertümliche Haus mit seinem Garten ein Unikum, das sich wie durch Zufall inmitten der gefräßigen Bauten und Brandmauern erhalten hatte. Was ihm jetzt weiter auffiel, war ein langgestrecktes flaches Gebäude, das am hintersten Ende des Gartens lag. Er strengte die Augen an. Dies mußte ein Gewächshaus sein. Offenbar waren Reste alter Mauern verwendet worden, denn das Fundament machte einen recht verwitterten Eindruck. Bedeckt war es von einem flachen, abgestuften Dach aus dicken, flaschengrünen Glasplatten. Für ein Gewächshaus schien es bedeutend hoch. Er berechnete die Höhe mit vier Metern. Es 104 trug gar nichts Auffälliges an sich, war so geschickt in die Ecke der Mauer hineingebaut, daß es auf den ersten Blick sich von dieser schwer unterscheiden ließ und sich nur durch das gelegentliche Aufblitzen der Glasbedachung verriet, wenn der Beobachter seine Stelle wechselte.

Es lag so recht im Wesen dieses schrullenhaften Mannes, daß er ein Treibhaus besaß. Vielleicht bestritt er einen Teil seines Lebensunterhaltes mit dem Verkauf von Orchideen oder dergleichen. Rupert freute sich im stillen, ein Thema entdeckt zu haben, das dem Alten sicherlich am Herzen lag. Vielleicht würde er etwas gemütlicher werden, wenn man ein Interesse an dieser Beschäftigung wenigstens heuchelte.

Er wußte nicht, wie lange er am Fenster geweilt hatte. War es für ihn ja auch fast schwer, Empfindung für Zeitspannen aufzubringen in dieser vollkommenen Stille. Es war seltsam, wie durchdringend diese Stille war. – Sie durchtränkte das ganze Haus und den Garten. War es nicht, als hätten alle Uhren auf diesem Erdenfleck aufgehört zu schlagen? – Von Geräuschen, die man unbedingt hätte hören müssen, kamen keine Wellen herüber. Es stimmte ja, die Straße war still, aber trotzdem war das Leben dieser Zeit von so heftigem Fieber erfüllt, daß man ihm nirgends entgehen konnte. Auf dem See, ja dort hat diese Stille geherrscht, aber das war hinlänglich weit im offenen Land. – Hier war sie ihm unverständlich. Die Gedanken, die sich unablässig in seinem Hirn abhaspelten, gerieten in ruhigere Bahnen und starben nacheinander milde dahin. So war ihm der Kopf leicht benommen. – Er schritt dem Sopha zu und wollte sich hinlegen, als er auf einmal ein Geräusch hörte. Es klang, als sei es tief unter ihm im Keller. Es war eine tiefe Stimme und eine helle. Der Professor mit Verbena, wer anders 105 konnte das sein. Er lauschte angestrengt, konnte aber nur den Klang der Stimmen unterscheiden.

So hatte der Alte ihm also etwas vorgeflunkert, als er sein Mittagsschläfchen aufs Tapet brachte. Rupert hatte plötzlich das Gefühl, als gehe das Gespräch ihn selber an. Es war ihm unmöglich, ruhig liegen zu bleiben. Er fühlte sich, wenn es um Verbena ging, jedem Verbrechen, selbst dem des unbefugten Lauschens, gewachsen . . . So leise er nur konnte, schlich er in den Vorplatz. Die Fliesen verrieten ihn nicht; auf der Treppe mußte er unendlich vorsichtig sein, denn die alten Eichenbretter begannen unbarmherzig zu knirschen. Stufe nach Stufe stieg er hinab und erkannte, Atem holend, als er unten war, daß das Gespräch im Studierzimmer des Professors stattfand. – Da er überzeugt war, daß in diesem Hause alles hellhörig sei, so hatte er sich mit einem Vorwand gewappnet, falls man sein Heruntersteigen vernommen habe. – Merkwürdigerweise nahm das Gespräch ohne Pause seinen Fortgang und er stellte sich an die Tür und lauschte. 106


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