Willy Seidel
Der Gott im Treibhaus
Willy Seidel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Rupert plante und verwarf die erdenkbarsten Methoden, wie er des erstaunlichen Mädchens habhaft werden könne. – Das Erlebnis hatte sich ihm in der Nacht, die er im Hotel verbrachte, kristallisiert zu etwas Urbedeutsamem, das sein Leben bestimmen werde. – Er fühlte sich mit geisterhafter Kette an das seltsame Geschöpf geschmiedet. War sie auch in einigen Schritten Entfernung an ihm vorbeigegangen, so vermeinte er doch die Berührung ihrer Haut zu spüren. Gewöhnlich verwischen sich Erinnerungsbilder, besonders spät abends, wenn sie bei ungewisser Beleuchtung erlebt werden und von des Nachtlebens grellen Bildern übertönt. 64 Diesmal schien es jedoch, als setze sich die Erscheinung gegen alles durch, als tauche sie in ihrem lichtgrauen Kleid hervor, und das Bunte und Absurde sinke darüber in den Schatten.

Er hatte sich beraubt gefühlt, als sei ein Stück seiner selbst hinweggetragen worden auf goldener Schüssel. Er hatte es nicht verwehrt, doch nun fühlte er sich unvollkommen, bis er sich selbst und die ihn so hold bestohlen, wieder zurückerhalten. Sie war so unendlich verschieden von allem, was er je gesehen. Ihn reizte nicht bloß diese Verschiedenheit, sondern er fühlte mehr, – eine erhabene Wesensfremdheit.

Der Tag brach an. Es war leichter Frühnebel draußen. Die Sehnsucht war wie eine Qual, die ihn vorwärtsstieß. Die Menschen bewegten sich noch vereinzelt.

Er suchte wieder den Bezirk auf, wo er sie gesehen, in der Vermutung, sie müsse in jener Gegend zu Hause sein. So trieb er sich mehrere Stunden herum. Die Zukunft lag hinter geheimnisvollem Gitter. Drinnen ging süßes, unerforschtes Leben um, ihm mehr als geschwisterlich zugeneigt; – doch noch taub für seinen Ruf.

Ob sie sich des seltsamen Augenblicks, da sie ihre Blicke in seine getaucht, erinnern würde? – Da sie eine Brücke zwischen ihnen schlug, die wie irrisierende Membran zerriß? – Und doch konnte man auf dem Regenbogen zueinander gelangen, denn man war für einander bestimmt . . .

Wie kann man nur, dachte Rupert, so durchaus ausgefüllt sein von einem anderen Menschen, ohne mit ihm gesprochen zu haben? Daß sie sich nicht trafen, war jetzt bloß ein Zufall, gewiß, denn sie mußten sich ja treffen, früher oder später, magnetisch angezogen von den unaussprechlichen Verwandtschaften, die er in allen Fibern hatte pulsen gefühlt.

65 Nun war die Sonne da und das Herbstblau. Es konnte selbst diese dürren, häßlichen Bauten, die man sah, vergolden. Da: – aus dem Strom der Passanten löste sie sich, ein dunkles Fleckchen von anderen; – sie war's. Er wußte es, bevor er sie noch erkannt. Nun entpuppte sie sich deutlicher. Der schwingende Schritt, die schwingenden Arme.

In der einen Hand trug sie eine Handtasche aus Schlangenhaut. Sie trug dasselbe Kleid, hatte nichts gegen die Kühle übergeworfen, sondern es schien, als sei sie abgehärtet gegen jede Temperatur.

Er blieb nicht stehen, sondern ging ihr langsam entgegen, wobei er angestrengt an ihr vorbeiblickte. Tausend Möglichkeiten der Anknüpfung schossen ihm durch den Kopf und in der Angst, etwas Passendes zu finden, fiel ihm allerhand ein, was er im selben Moment als banal und lächerlich beiseite schob. Ja, je näher sie kam, desto mehr verwirrte er sich in diesen innerlich gestammelten Worten, und der Schreck darüber, nichts bieten zu können, ließ ihm auf einmal wieder die Hände kalt werden und sein Benehmen linkisch.

Es ist ja auch zu seltsam, ging es ihm stockend durchs Hirn, daß ich die ganzen Stunden über mir noch nicht einmal zurechtgelegt habe, was ich sage und wie die Wirkung auf sie sein wird.

Als sie nun wirklich an ihm vorbeischritt, sah sie einen blassen Menschen dort stehen, der sie mit aufgerissenen Augen anstarrte, und dessen Lippen sich leise rührten. Eigentlich hätte sie lächeln müssen, denn es war zu deutlich über seine ganze Person geschrieben, was er vorhatte und nicht fertigbrachte. – Aber in der sanften Ebenmäßigkeit ihrer Züge rührte sich nichts. Sie sah ihn wieder an aus diesen klaren Augen, mit unendlicher Ruhe und Ungetrübtheit; 66 sah ihn fast nachdenklich an, aber nicht so lang, als er hoffte. Dann blickte sie wieder geradeaus mit derselben Miene wie gestern abend und ging weiter.

In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Er glaubte, eine lächerliche Figur gemacht zu haben. Dieser Schmerz saß um so tiefer, weil er es als so grenzenlos unnötig empfand, gerade vor ihr abschreckend zu wirken. Der Rest seiner selbst wurde dort hinweggetragen. Dort steckte er selbst; dort nahm sie ihn mit in ihrem Handtäschchen aus Schlangenhaut und ließ sein leeres Abbild zurück. Ihr gehörte er, und sie wußte es nicht. Sie pflückte ihn im Vorbeigehen ganz gedankenlos, und merkte es nicht einmal.

Die Enttäuschung gab ihm Mut. Er machte sich auf und verfolgte sie. Er bemühte sich sogar, den Takt ihrer Schritte den seinen anzupassen, und während er das tat, kopierte er unbewußt den leichtbeschwingten Gang, sodaß er sich auf einmal der Jugend seines eigenen Körpers bewußt wurde. Nie war er in letzter Zeit so geschritten. Träg geschlichen war er. Sie hatte durch ihren bloßen Anblick neue Lebenskraft in ihn geschleudert, die sich nun auswirkte. Wäre sie gelaufen, er wäre mitgelaufen.

Sie hielt vorläufig nirgends an, dann ging sie in ein Geschäft hinein. Dort konnte er nach ihrem Weggang ihren Namen erfahren. Wußte er einmal den Namen, so konnte er sie einkreisen und festnageln.

Doch der Donner schlage ein, dies war kein Geschäft, sondern ein automatischer Betrieb, wie es deren unzählige in Berlin gab. Tausend kleine Tagesbedürfnisse und Leckereien standen hinter Glasscheiben und spazierten gegen Einwurf von Geld selbsttätig heraus.

Um etwas zu tun, machte er ihr allerhand nach. Mit der 67 Zeit hatte er ein ganz ansehnliches Paket von italienischem Salat erworben. Er blieb nämlich an derselben Scheibe stehen und blickte fortwährend zu ihr hinüber, während er, ohne nachzudenken, Geldstück auf Geldstück hineinschob.

Sie ging wieder hinaus. Eine Gelegenheit, ihren Namen zu erfahren, gab es hier nicht. – Nun würde sie wohl nach Hause gehen. Bemerkte sie, daß er folgte? Es schien ihm einmal, als sei ein flüchtiges Erstaunen in ihre Augen getreten bei einer vorübergehenden Verkehrsstockung, als er zu nahe an sie herangeriet. Ihm war, als gingen die Schultern leicht in die Höhe, mit anheimstellendem Zucken, als straffe sich ihr Rücken; sie blickte sich nicht um, jedoch er hatte das unangenehme Gefühl, daß sie auf eine verzwickt feinhörige Weise seinen Schritt von dem der Passanten unterscheiden könne.

Sie bog plötzlich um Ecken, ging wieder geradeaus, machte einen kleinen Spaziergang an Schaufenstern vorbei, blieb jedoch nirgends stehen und beschrieb eine richtige Schleife; das konnte nur ihrer Absicht zuzuschreiben sein, ihn irrezuführen.

Auf einmal gerieten sie in eine stille Seitenstraße voller Kontorhäuser. Man sah überhaupt nichts weiter wie Bureaugebäude. Er war enttäuscht. Sollte sie in einer dieser häßlichen Backsteinstrukturen hausen? – Sie ging eine Weile schnurgerade. – Auf einmal lief ihm ein kleines Kind zwischen die Beine, von einem Hund gefolgt. Als er wieder aufblickte, war die Straße leer.

Er sah fünf oder sechs verschiedene Toreingänge, die sich alle ähnelten, wie ein Ei dem anderen. Er merkte sich eine Nummernserie, blickte in jeden hinein, aber sie waren alle nach hinten verschlossen und dunkel. Immerhin hatte er 68 den Fuchsbau des Mädchens abgegrenzt und beschloß, am Nachmittag wiederum zur Stelle zu sein.

Der Nachmittag verstrich ergebnislos. Die Nacht war schlimm. Er überlegte, ob er sich betrinken oder früh schlafen gehen sollte. Er wählte das Letztere. Aber es war nicht das Richtige, denn er tat bis zum Morgen kaum ein Auge zu.

Die schnurgerade Straße mit den Kontorgebäuden war vollkommen menschenleer. Trotz seines scharfen Aufpassens brachte sie es doch fertig, plötzlich wieder vorhanden zu sein, ohne daß er wußte, wo sie aufgetaucht war. Hatte sie etwa gelauert? Dies anzunehmen, hätte ihm schmeicheln müssen . . .

Sie benahm sich durchaus nicht drollig bei der Überrumpelung. Es war fast, als trete eine kleine Falte des Mißmuts in die alabasterne Stirn; und wieder ging die stumme, ach, so beherrschte Jagd los.

Sie wählte diesmal einen anderen Weg. Wieder hatte sie die vertrackte Angewohnheit sich nirgendswo aufzuhalten. Es schien, als nehme ihr Blick ein ganzes Schaufenster auf einmal mit und sie zerlege seinen Inhalt beim Weiterschreiten in Gedanken und werfe ihn achselzuckend über die Schulter. Das gab ihr zu all ihrem sonstigen Wesen noch etwas besonders Entrücktes, als gehöre sie weder dieser Zeit, noch diesen Häusern, noch diesen Menschen an, sondern treibe einsam durch sie hindurch als Wesen höherer Gattung. Sie mußte wieder bei einer Straßenbiegung halten, da eine Reihe von Automobilen und die nachfolgende Trambahn vorbeigelassen wurden. Dann setzte sie mit einem Antilopensprung über die Schienen und lief noch eine Weile, bis sie auf dem sicheren Trottoir stand. Die prächtige Bewegung, mit der sie mehr schwebte als rannte, befestigte seine 69 Überzeugung, daß sie sich sehr viel im Freien aufhalten mußte, und daß dieser elastische Lauf ihre liebste Fortbewegung sei.

Auch er rannte nun, ihm war alles gleichgültig geworden.

Als er dicht hinter ihr war, die gerade in ihren gemessenen Gang zurückverfallen, holte er tief Atem. Dieser Teil der Straße war fast leer. Da rief er mit erhobener Stimme das schmetternde Wort »Halt!« – Sie hielt, wie vom Blitz getroffen, und drehte sich um. Das Täschchen war ihr fast aus der Hand geglitten; der Mund stand halbgeöffnet, über ihre ganze Figur war ein einziges Fragezeichen geschrieben.

Da stand sie, da hatte er sie, jetzt half es nichts mehr. Er zog den Hut und sagte mit blassem Lächeln: »Entschuldigen Sie, mein Fräulein; – dies war aber auch die einzige Möglichkeit, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich Ihnen schon seit vorgestern wie ein Schatten folge.«

»So? – Und was bezwecken Sie damit?«

»Garnichts Schlimmes. Aber es mußte sein. – Ich muß Ihre Bekanntschaft machen.«

Sie blitzte ihn böse an und wollte weitergehen.

»Ja, – zweifeln Sie etwa daran?« rief er fassungslos. – Nun, sie hatte Humor. Sie zögerte und wandte ihm ein erstauntes Gesicht zu. Sie fächelte.

»Sie haben mich wirklich erschreckt,« sagte sie.

Ihr Lächeln und ihre Stimme machten ihn jetzt, wo es am allerwenigsten am Platze schien, wieder stumm. So urvertraut und urbekannt war ihm beides. – Ja, das war der dunkle Kamerad in ihm, der ihn geplagt wie süßes Erbteil der Geburt . . . Er hatte nicht gewußt was Lächeln ist, bis er dieses sah. – Nun verfiel er wie alle Leute, die plötzlich von der Verwirklichung eines Lebenswunsches sturzbachartig 70 überschwemmt werden, in ein unaufhaltsames, fast zusammenhangloses Reden. Sie schnitt es ihm mitten durch mit beherrschender Geste und sprach in die Stille hinein, die noch von verstümmelten Sätzen bebte:

»Ich kann wirklich nicht folgen, ich denke nicht schnell genug für Sie. Bitte erklären Sie mir noch einmal langsam und vernünftig, was Ihr Anliegen ist. Wir können ja ein Stückchen zusammengehen.« – Sie blickte ihn von der Seite an, und wieder trat die kleine Falte zwischen ihre Brauen. Ihre Wimpern hatten sich gesenkt; sie blickte gleichmütig vor sich hin. Man mußte ihr nur alles richtig erklären, dann war es nicht so schlimm.

»Vergessen Sie alles, was ich vorzubringen versuchte,« sprach er nach einer Pause vollkommen ruhig. »Ich bin ein wenig einsam gewesen in letzter Zeit, und habe an Verkehrsformen eingebüßt. Ich denke, Kauz der ich bin, es müßte alle Welt interessieren, was mir so durch den Kopf schießt.«

»Nun, alle Welt . . .« Sie lächelte. »Daß Sie aber gerade auf mich verfallen, ist seltsam. Sie haben doch sicher ein mächtig großes Publikum für Ihre Beichten, und können mich entbehren.«

Hier war er auf der Höhe. Sie gab ihm ja die Erklärung geradezu in den Mund. »Es ist eine Marotte von mir,« sagte er stolz, »mir mein Publikum auszusuchen. Es muß mir gewachsen sein, mir wenigstens ähneln. Als ich Sie sah, hatte ich sofort das Gefühl, man könne für meinen Vortrag den ganzen Saal ausräumen, unbeschadet der Wirkung; Bedingung sei nur, daß Sie blieben. – Das wäre mein Erfolg.«

»Mein Gott,« seufzte sie. »Wie kommen Sie nur auf so ausgesuchte Schmeicheleien? Ich nehme doch an, nicht wahr, 710 ich darf mich geschmeichelt fühlen? Wenigstens Sie sind überzeugt davon?«

»Vollkommen überzeugt,« bestätigte er. »Ich kann Ihnen versichern, daß ich mich nicht, wie Sie annehmen, aus Langeweile vor Ihnen auskrame; es hat schon seine äußerst gewichtigen Gründe.«

– Gute Laune erwärmte sein Herz. Dieses Eingehen und Hinüberspielen in das Scherzhafte war ihm wiederum ein Wunder.

Die Erinnerung an jene Kreaturen, unter denen er am vorgestrigen Abend gewesen, stieg ihm in die Kehle wie ein bitterer Geschmack. Er würgte ihn hinunter. Nichts war mehr vorhanden davon: – In einer Atmosphäre ursprünglichster Reinheit schritt er dahin. Ihm war, als trete er keinen Asphalt, als schwebe er, als sei dies alles um sie beide so unendlich belanglos.

»Und was,« meinte sie und sah ihn plötzlich wieder voll treuherziger Klarheit an, »wären diese äußerst gewichtigen Gründe?«

Er stockte. Die Frage kam so kindlich und doch so verständnisvoll von ihren Lippen, daß er sich Gewalt antun mußte sie nicht mit großen Worten einzuschüchtern.

»Es hat,« meinte er mühsam, »mit meiner innersten Überzeugung zu tun, daß wir uns . . .«

»Daß wir uns?«

»Nun, ganz gut vertragen würden.«

»Menschen, die es ehrlich miteinander meinen, vertragen sich gewöhnlich.«

»Abgesehen vom Ehrlichen. Es gibt Grade des Vertragens. Das, was ich meine, ist schon ein wenig mehr als Gedankenaustausch.«

72 »Sie sprechen so geheimnisvoll.«

»Können Sie sich vorstellen, daß man sich so gut miteinander verträgt, daß man überhaupt kaum miteinander zu reden braucht?«

»Das stimmt,« sagte sie mit einemmal mit leuchtendem Begreifen. »Denken Sie, wie sonderbar ist das! Mehr als wir gesprochen haben, brauchten wir jetzt gar nicht zu reden. Wenn wir so miteinander gehen, so genügt das. – Sie sind sicher ein guter Mensch.«

»Das bin ich,« meinte er mit Biederkeit. »Aber auch dies hat seine Gründe. Ich wurde deshalb gut, weil Sie mir nicht davonliefen. Sie haben sicher einen Instinkt für Menschen. Weil Ihr Instinkt immer Recht hat, so bin ich auch gut.«

»Aber Sie stellen es ja auf den Kopf. Sie setzen bei mir Instinkt voraus. Den habe ich vielleicht nicht.«

»Doch, doch, viel mehr wie Sie glauben. – Sie haben alles.«

Hierauf herrschte wieder eine Weile Schweigen zwischen den beiden. Sie lächelte versonnen vor sich hin, dann war sie auf einmal ernst. So kam und ging das Lächeln auf ihrem ungemein beweglichen Gesicht, das der empfindlichste Spiegel von Seele war.

Er merkte, daß er bis jetzt überhaupt noch keine Menschengesichter gesehen hatte, sondern nur Masken.

Sie waren am Eingang ihrer Straße angelangt. »Hier wohne ich,« sagte sie, »aber Sie dürfen nicht mitkommen, denn mit meinem Oheim ist nicht gut Kirschen essen. Es würde ihn in maßloses Erstaunen versetzen, daß jemand mich angesprochen hat.«

»Aber das könnte doch recht häufig vorkommen,« fragte er erstaunt.

73 »Das kommt auch vor,« lächelte sie. »Aber er weiß es nicht, und wenn er's wüßte, würde er nie auf die Idee kommen, daß ich geantwortet hätte. Er hat mich nämlich mit so viel Formeln gepanzert, mit so viel Ermahnungen bepackt und so viel Kreuze über mir geschlagen, daß ich mir schon fast wie eine Hexe vorkomme, vor der alles Reißaus nehmen muß.« – Sie sah ihn mit weit offnen Augen an. Es war plötzlich ein Rätsel in ihnen. – »Es gibt da Dinge . . .« fügte sie hinzu. – ». . . Aber . . .« sie lachte hell auf – »lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen. Ich plaudere gern mit Ihnen, und wir können uns ja wieder treffen. Es ist mir, als dürfte ich das mit Ihnen, als versagten hier seine Formeln. Vielleicht stellt es sich auch heraus, daß er nichts dagegen hat. Nur dürfen wir nichts überstürzen. Auf Wiedersehen.«

Sie reichte ihm die Hand und schritt so energisch aus, daß er ihr nicht zu folgen wagte. Er stand von den widersprechendsten Gedanken überfallen noch eine Weile da und starrte ihr nach. Sie bog in einen der Toreingänge ein und diesmal merkte er sich das Tor. Doch er trat nicht näher. Es war ihm, als habe sie ihm gesagt: »bis hierher und nicht weiter;« und als sei es eine Art Aufdringlichkeit, wenn er seine Neugier überhandnehmen lasse.

Schwer in Gedanken ging er zurück. Was hatte es für eine Bewandtnis mit diesem »Oheim«? Es war sicher ein alter Mann, der sich voll Eifersucht an das Liebste klammerte, was ihm vielleicht im Leben verblieben war, und der seinen Einfluß jahrelang ungestört und ungehemmt auf sie hatte walten lassen können. – Nichts durfte hier gewaltsam gemacht werden. Erst mußte er all die Fäden überblicken. Zerreißen durfte er nichts, nur heranpirschen durfte er 74 sich, und ihr Stück nach Stück die Wissenschaft herauslocken.

Seine Ungeduld ging zur Rüste. – Nur eine große, stille Neugierde saß in ihm, die auf den Tag der Enthüllung, dieses Tages sicher, behutsam harren müsse. Er stand etwas Rätselvollem und doch unendlich Vertrautem gegenüber. Ihm war, als müsse er dies alles so vorsichtig behandeln wie sich selber. Er kannte sich, und kannte sich doch wieder nicht. – Aber diese Widersprüche hatten das Gesicht der Heimat. 75


 << zurück weiter >>