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Martin Wedeking war ein wenig, was man einen Einsiedler nennt. Solche gedeihen bekanntlich am besten in den Wüsten und Wildnissen oder in den ganz grossen Städten, wo sich niemand viel um seinen Nebenmenschen bekümmert. Es ereignet sich nun öfter, als manche kluge Leute annehmen, dass solche zum träumerischen Vorsichhinleben geneigte Menschen in der von ihnen gewählten praktischen Thätigkeit voll ihren Beruf erfüllen und zwar in einer nüchternen und tüchtigen Weise, die niemanden ahnen lässt, welche bunte Gedankenwelt noch ausserdem in diesem Kopfe wohnt. Das Leben solcher Sonderlinge ist scharf in zwei Theile geschieden, und der Mensch der Geschäftsstunden ist so sehr von dem Menschen der Freistunden verschieden, dass es kaum glaublich ist, beide könnten in einem Rocke stecken. Martin Wedeking war Oberingenieur in einer der grossen Maschinenfabriken vor dem Oranienburger Thore in Berlin; dort war er kurz, scharf und klar in allen seinen Aeusserungen, sein Denken war mathematisch und einzig auf sein Fach gerichtet, so dass er unter den Genossen für einen der tüchtigsten Ingenieure galt. Wenn er aber zu Hause sass in seiner behaglichen kleinen Wohnung, die an dem sogenannten »Kessel« lag, jenem stillen friedlichen Platz mit Blumenanlagen und Springbrunnen, der sich von der Kesselstrasse abzweigt, da war jene Welt mit ihrem hastigen Getriebe, schnurrenden Riemscheiben, klappernden Rädern und schütternden Dampfhämmern gänzlich versunken und Martin Wedeking war ein friedlicher Träumer, der Blumen zog, seltene einheimische Singvögel fütterte, Ameisen beobachtete, die er in glasbedeckten, mit Erde gefüllten Kästen hielt, und sich mit Werken der Dichtkunst beschäftigte. Daraus wird nun wohl jeder, der sich einige Klugheit zutraut, schliessen, dass er selber ein heimlicher Dichter war und seine Musestunden auch dazu verwandte, schönes weisses Papier höchst unökonomisch nur in der Mitte zu beschreiben, wie Scheffel sagt; allein dies war nicht der Fall, sondern er gehörte zu den heutzutage so seltenen platonischen Liebhabern dieser Kunst. Ihm erschien es wie Wunder und Geheimniss, dass durch den blossen Zauber der Sprache solche Wirkungen erzielt werden konnten, und mit gewissen Lieblingsgedichten vermochte er sich jederzeit in Rührung zu versetzen. Denn er gehörte zu denjenigen Naturen, welche, wenn sie der Schönheit und Vollendung begegnen, davon bis zu Thränen ergriffen werden. Da Martin Wedeking ein grosser Naturfreund war, so gehörten Stifter und Storm zu seinen Lieblingen, andererseits aber auch zog ihn im vollen Gegensatze zu seinem scharf verstandesmässigen Beruf das Märchenhaft-Phantastische an, und an manchem stillen
Winterabend ergötzte er sich höchlich an Hoffmann, Edgar Poe und Gullivers Reisen von Swift, welches Buch er immer und immer wieder lesen konnte, wobei ihn weniger die grausame Satire auf das Menschengeschlecht als vielmehr die ungewöhnliche Kunst zu fabulieren anzog, durch welche dieser ausserordentliche Schriftsteller auch das Wunderbarste anschaulich zu machen versteht.
So lebte Martin Wedeking in seinen zwei Welten behaglich vor sich hin mit der Regelmässigkeit eines Uhrwerkes, und nur alljährlich im Sommer durchbrach er diese Einförmigkeit seines Daseins dadurch, dass er sich auf vier Wochen frei machte, um aus der Einsamkeit der grossen Menschenwüste in die wirkliche Einsamkeit des Gebirges, des Waldes, der Haide oder des Seestrandes zu verschwinden. Dies waren die stillen Freuden- und Glanzpunkte seines Lebens, von welchen er das ganze Jahr hindurch in der Erinnerung zehrte. Nachdem er nun dergleichen Sommervergnügen schon in den einsamsten Theilen des Harzes und Thüringer Waldes, ja einmal sogar in Ausführung eines langgehegten Planes in der Lüneburger Haide zugebracht hatte, war die Sehnsucht nach der See und nach dem Strandwalde in ihm erwacht, und als wieder der Sommer kam, war er fest entschlossen, seinen Urlaub diesmal in seiner mecklenburgischen Heimat an der Ostsee zu verbringen. Er wusste dort einen Ort, im Walde gelegen und nicht weit vom Strande, der nur aus den Gehöften von zwei kleinen Bauern und dem Anwesen eines Forstwärters bestand. Wenn er dort unterkommen konnte, was er nicht bezweifelte, war er nach seinen Begriffen wohl aufgehoben, und dachte er daran, so hörte er schon im Geiste das eintönige Singen der Tannenwipfel, vernahm das taktmässige Rauschen der Wellen, die unablässig an's Ufer schlagen, fühlte den wunderbar frischen Anhauch des Seewindes, und jene Sehnsucht nach grüner Waldeinsamkeit stieg in ihm empor, deren zwingende Kraft nur der Naturfreund kennen lernt, welchen sein Geschick jahraus, jahrein in der Häuserwüste einer riesigen Stadt festhält. So machte er sich denn rechtzeitig frei, begab sich an einem schönen Junitage auf den Stettiner Bahnhof und bald versank hinter ihm der aus ungezählten Schornsteinen dampfende geräuschvolle Norden Berlins mit seinen rauchgeschwärzten Fabrikgebäuden. Einem anderen Norden rollte er zu, wo er nicht nur mit dem Kopfe, sondern auch mit dem Herzen zu Hause war.