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Leonhard Brunow war als ein junger Doktor von der Universität zurückgekehrt und hielt sich bis zum Herbst, wo er eine Stelle in einer chemischen Fabrik antreten sollte, bei seinen Eltern auf. Er hatte sich im ersten Stock ein Laboratorium in seinem früheren Zimmer eingerichtet und verbrachte dort einen Theil der Tageszeit mit Arbeiten und Experimentiren; im übrigen freute er sich seiner Freiheit, die mit dem Eintritt in den neuen Beruf ein Ende nehmen sollte. Auch ihm ward mancherlei erzählt von dem wunderlichen Treiben in dem Hause des Andreas Boldewin und von der seltsamen Schönheit seiner Tochter, denn obwohl sie fast niemand zu sehen bekam, war doch ein Gerücht über dies märchenhafte Wesen in die Stadt gedrungen und alles ward natürlich ausserdem fleissig übertrieben. Da der junge Mann sein Leben im halben Müssiggang verbrachte, so hatte er Zeit, über dergleichen nachzudenken, und da schon während seiner Kindheit alles seine Theilnahme erregt hatte, was man über das merkwürdige Treiben des Herrn Andreas Boldewin und über sein schönes Töchterlein erzählte, so beschäftigte er sich viel mit solchen Gedanken und es erwuchs in ihm der brennende Wunsch, eine nähere Kenntniss dieser Verhältnisse zu gewinnen.
Aber wie sollte dies geschehen, da das Boldewinsche Haus fast schwerer zugänglich war als ein türkisches Serail? Finster und verschlossen, als sei es Jahre lang nicht bewohnt, lag das Haus da, und in den geheimnissvollen Garten konnte man von keiner Seite aus einen Blick werfen. Der junge Doktor hatte die Kühnheit, sich bei Herrn Boldewin als ein Gleichstrebender zu einem Besuche anmelden zu lassen, allein er bewirkte nichts als eine schroffe Abweisung. Und doch war er nur durch eine Wand von jenem Garten getrennt, und zwar durch diejenige seines Laboratoriums. Neben diesem lag eine kleine Kammer, in welcher allerlei altes Gerümpel und dergleichen aufbewahrt wurde, und diese war ganz finster, weil sie merkwürdigerweise gar kein Fenster hatte. Als er dort einmal zwischen alten Büchern kramte, zu welchem Geschäfte ihm die offene Thür des Laboratoriums ein spärliches Licht gab, fiel ihm dies plötzlich auf, da es doch nicht gewöhnlich ist, selbst in solchen alten Häusern, dass Räume ganz ohne Licht gelassen werden. Er fing an, die Wände zu betrachten, konnte aber nichts entdecken. Zugleich setzte sich aus irgend einem Grunde die Thür, welche stets eine Neigung hatte ins Schloss zu fallen, in Bewegung und that sich zu, so dass er plötzlich im Dunkeln war. Als er das Buch, welches er eben in Händen hielt, fortstellen wollte, um die Thür wieder zu öffnen, fiel ihm durch die Lücke, in welcher das Buch gestanden hatte, eine feine glänzende Linie in die Augen, wie ein Sonnenriss, durch welchen das Tageslicht schimmert. Er rückte schnell das Büchergestell von der Wand ab und fand dahinter eine kleine Fensteröffnung, welche mit Rahmen und Scheiben noch vollständig versehen, jedoch von aussen ersichtlich mit Brettern vernagelt war. Das eine dieser Bretter liess durch einen feinen Riss das Licht schimmern. Das Fenster öffnete sich zum guten Glück nach innen, und als er dies bewerkstelligt hatte, fand er, dass er von dem Ziele seiner Neugier, dem geheimnissvollen Garten, nur durch eine dünne und schon ziemlich morsche Bretterwand getrennt war. Zugleich dämmerte ihm plötzlich auf, dass er in seiner Kindheit viel von einem Streit hatte sprechen hören, den sein Vater mit dem alten Klaus Boldewin um ein Fenster geführt hatte, welche Angelegenheit aber, noch bevor die Sache zum Prozess kam, gütlich geschlichtet worden war. Der junge Mann stand eine Weile und horchte, allein hinter dem Bretterverschlag war nichts vernehmlich als ein sanftes, sommerliches Summen und ein Rauschen und ein Plustern wie von Blätterwerk, und als er das Auge an den Sonnenriss legte, bemerkte er nichts als ein grünliches Geflimmer dahinter. Er ging in sein Laboratorium, holte einen Zentrumbohrer und begann, obwohl ihm das Herz klopfte und ihm seine Handlungsweise nicht ganz in Ordnung erschien, leise und vorsichtig ein sauberes, rundes Loch in die Bretterwand zu bohren. Das Holz war alt und nachgiebig, und von oben rieselte durch die Erschütterung reichliches Wurmmehl hernieder. Plötzlich, als er einen etwas stärkeren Druck anwendete, gab das ganze Bretterwerk, welches durch Querriegel zu einer zusammenhängenden Tafel verbunden war, nach, das morsche Holz löste sich von den Nägeln, deren Köpfe längst weggerostet waren, und die ganze Bescheerung rauschte mit ziemlichem Lärm zwischen der Wand und dem Rankenwerk von wildem Wein, welcher diese dicht bedeckte, in die Tiefe. Eine Fluth von grünlichem Lichte drang durch das besonnte Blätterwerk in die langjährige Finsterniss der Kammer ein und beleuchtete das erschrockene Gesicht des jungen Doktors. Zugleich erfüllte ein Strom von süssem Lindenblüthenduft den dumpfigen Raum mit frischem Wohlgeruch.
Da alles still blieb, bis auf ein emsiges Summen fleissiger Bienen, fasste Bernhard neuen Muth, bog vorsichtig die Ranken des wilden Weines bei Seite und steckte den Kopf hindurch, um in den fremden Garten zu blicken. Dass er dort einen blühenden Lindenbaum sah, bereitete ihm weiter keine Verwunderung, aber was unter diesem zu schauen war, jagte ihm solchen Schreck ein, dass er beinahe schnell wieder zurückgefahren wäre. Unter dem Baume standen nämlich zwei Stühle und ein Gartentisch und auf dem Tische ein Teller mit Erdbeeren. Dies war es nun zwar auch nicht, was ihm das Blut zum Herzen trieb, aber auf dem einen dieser Stühle sass ein wunderschönes Mädchen von etwa siebzehn Jahren und sah mit grossen, schwarzbraunen Augen verwundert auf ihn hin, indes die eine ihrer schlanken Hände mit einer Erdbeere auf halbem Wege innehielt. Indem nun diese jungen und hübschen Leute auf einander hinstarrten, errötheten sie beide sehr. Dann blickte das Mädchen ein wenig seitwärts und lachte halb verlegen und halb verwundert, sah wieder auf den jungen Mann hin und erröthete noch stärker. Plötzlich, auf ein Geräusch vom Garten her, fuhr sie zusammen und erbleichte.
Aengstlich und verstohlen winkte sie Bernhard zurück, und obwohl er kaum etwas hörte, sah er doch, dass ihre Lippen Worte formten, die er zu verstehen glaubte. Sie schienen ihm seltsamer Weise zu lauten: »Der Alte kommt!«
Schnell fuhr er mit dem Kopfe zurück und liess die Ranken des wilden Weines sich wieder schliessen. Auf dem Kies des Gartensteiges ward nun ein schlürfender Schritt hörbar und ein kurzes, trocknes Husten liess sich vernehmen. Dann sprach jemand mit einer hässlich knarrenden Stimme: »Was war das eben für ein Geräusch, Eva?«
»Geräusch? ach!« antwortete diese, »ja mir ist auch so, als hätte ich was gehört. Es war wohl die grosse Nachbarskatze; sie ist immer hinter den Sperlingen her.«
»So so! Nun ich gehe jetzt zur Apotheke,« sagte Herr Boldewin, »in einer halben Stunde bin ich wieder da. Adieu mein Schatz.« Dann entfernten sich die Schritte wieder, hallten weiterhin über das Steinpflaster des Hofes, eine Thür ward in der Ferne zugeschlagen und dann war es wieder still bis auf ein emsiges Summen fleissiger Bienen in dem blühenden Lindenbaum.
Nach einer Weile wagte Bernhard wieder hinauszublicken. Eva stand an dem Tische und machte sich mit den Erdbeeren zu schaffen, indem sie diese fortwährend von neuem auf dem Teller ordnete. Dann sah sie flüchtig von der Seite auf den jungen Mann und sagte so vor sich hin: »Nun ist er fort.«
Bernhard wusste durchaus nicht, was er sagen sollte, das Herz schlug ihm mächtig bange, aber in seinem Kopfe war kein einziger Gedanke von klarer Form, sondern nur ein seltsames Strömen und Sieden unklarer aber holder Empfindungen. Natürlich verfiel er auf das Trivialste und sprach mit einem Blick auf die Erdbeeren: »Wachsen die in Ihrem Garten?«
»Ach ja, viele,« erwiderte Eva, dann aber sah sie plötzlich auf ihn hin und fragte: »Haben Sie da schon öfter durchgeguckt?«
»Nie!« sagte Bernhard und legte unwillkürlich die Hand aufs Herz, obwohl man das draussen gar nicht sehen konnte. Das Mädchen schwieg eine Weile und drehte eine Erdbeere am Stengel zwischen den Fingern, sah dann wieder von der Seite auf ihn hin und sprach wie als Antwort auf Bernhards Frage: »Sie sind sehr reif und süss.«
»Ich glaub' es wohl!« antwortete Bernhard und nickte heftig mit dem Kopfe. Eva blickte suchend eine Weile um sich her und endlich blieben ihre Augen an einer leichten Leiter hangen, welche weiterhin an dem Stamme eines Frühkirschenbaumes lehnte. Bernhard war diesem Blicke gefolgt, und als sie dies bemerkte, erröthete sie wieder ein wenig, sagte aber ganz tapfer: »Meinen Sie, dass sie hinaufreichen wird?«
»Gewiss!« rief Bernhard, indem ihm das Herz zitterte über die merkwürdige und liebliche Entwicklung der Dinge. »Ich sehe es von hier, sie reicht ziemlich hinauf.«
Eva sah wieder eine Weile in den Garten hinein und zauderte. Dann zog sie ein wenig mit den weissen Schultern, lachte heimlich und verlegen vor sich hin und holte die Leiter, um sie an die grünberankte Mauerwand zu legen. Dann nahm sie den Teller mit Erdbeeren und stieg langsam die Sprossen hinauf. Als sie die genügende Höhe erreicht hatte, hielt sie den Teller, sich gerade aufrichtend, hoch empor, so dass Bernhard, wenn er den Arm lang ausstreckte, ihn eben erreichen konnte. Dieser aber fasste nun auch Muth und sagte: »So geht das nicht. Sie müssen ganz herauf kommen.«
Langsam, mit niedergeschlagenen Augen stieg Eva höher wie in einem Bann, indem sie, als die Leiterholme aufhörten, mit der Linken in das grüne Geflecht des wilden Weines griff. Endlich waren die beiden jungen Gesichter auf einer Höhe und ganz nahe bei einander. Unwillkürlich bog sich Bernhard ein wenig zurück, als fürchte er sich vor dem leuchtenden Zauber mädchenhafter Weiblichkeit, der wie ein holdes Wunder vor ihm aufgestiegen war. Eva schlug die sammetbraunen Augen auf und eine Weile ruhten die beiden Blicke stumm in einander. Dann gingen die langen dunklen Wimpern wie Schmetterlingsflügel einigemale hastig auf und nieder, wie um den seltsamen fremden Augenstrahl abzuwehren, das Mädchen wandte das Haupt seitwärts und hielt Bernhard stumm den Teller hin. Dieser wollte ihn ergreifen, hielt aber zugleich die schlanken Finger, welche ihn umspannt hielten, in den seinen, und wie vor Berührung des Feuers zuckte er zurück, um den Teller an der anderen Seite zu fassen. Darüber kam dieser ins Schwanken, und da jeder glaubte, der andere hielt ihn, fiel er hinab.
Eva wollte nach ihm greifen und verliess sich dabei zu sehr auf die Haltbarkeit der grünen Ranken, an welchen sie sich mit der Linken geklammert hatte. Diese gaben nach und sie wäre gestürzt, hätte nicht Bernhard schnell ihren Arm ergriffen und sie an sich gezogen, und so geschah es denn mit einemmale, dass er die schlanke Gestalt fest umschlungen hielt, während die eine der zarten, blühenden Wangen an der seinen lag. Der Schreck über das glücklich vermiedene Unglück mochte nun wohl sehr gross sein, denn eine Weile lang wagten beide nicht diese Stellung zu verändern, während die beiden Herzen mächtig pochten und die langen Augenwimpern des Mädchens beim Aufundniedergehen Bernhards Antlitz leise streiften. Dann glitten beide Wangen langsam und fast unmerklich aneinander hin, bis die Lippen sich begegneten, und dort geschah ein kleiner Aufenthalt, worauf beide ein wenig auseinander fuhren. Jedoch Eva schien nicht zu zürnen über das letzte kleine Ereigniss, sie sah nur etwas verwundert und nachdenklich aus über eine Sache, die ebenso neu als beängstigend angenehm war. Ein leiser, kaum merklicher Druck des Armes, der sie umschlossen hielt, genügte, die mehrfache Wiederholung dieses ersten Versuches herbeizuführen, bis endlich ein unbekanntes Feuer durch ihre Adern lief, so dass sie stärker sich abdrängte und das Gesicht abwendend unter tieferen Athemzügen mit sanft erglühten Wangen seitwärts blickte.
»Ich muss nun fort!« sagte sie leise.
»Noch nicht,« erwiderte Bernhard, »wir sind ja Nachbarskinder und haben uns noch nie gesehen.«
Da kam es mit einemmal wie Uebermuth in die dunklen Augen. Sie blickte Bernhard fast verschmitzt an und sagte: »O doch! Ich habe Sie schon öfter gesehen.«
»Wie ist das möglich?« sagte dieser.
Eva lachte ein wenig und erwiderte: »Wenn ich mich sehr langweile, da schleiche ich mich manchmal in die dunklen Vorderstuben. Dann klettre ich auf einen Stuhl und gucke durch die Herzlöcher nach den Leuten, die vorübergehen. Da habe ich Sie schon zweimal gesehen. Und neulich, da Sie den Vater besuchen wollten, da habe ich durch das kleine Flurfenster gesehen, wie Sie dort standen und warteten und sich indes die alte Wanduhr besahen. Ach, der Alte hat noch eine ganze Woche gebrummt, aber jetzt sagt er doch manchmal, er möchte Sie doch wohl einmal sprechen. Das wäre wunderschön, wenn Sie zu uns ins Haus kommen dürften.«
»Ach Du!« sagte Bernhard plötzlich und zog sie an sich.
»Ja, Du, Du!« erwiderte Eva, schlang die Arme um seinen Hals und verbarg den Kopf an seiner Brust.
Eine Hausthürglocke läutete in der Ferne und Eva fuhr erschreckt empor. »Er kommt schon zurück!« rief sie, stieg eilfertig die Leiter hinab und trug sie fort, so schnell sie konnte. Bernhard zog sich ebenfalls zurück und ordnete so gut es ging die arg verbogenen Ranken des wilden Weines. Dann hallten bedächtige Schritte näherkommend über das Steinpflaster des Hofes, und nach derselben Richtung hin eilten leichte Füsschen über den knirschenden Gartenkies. Abgerissene Laute eines kurzen Gespräches drangen in Bernhards Ohr, und dann ward es wieder still bis auf ein emsiges Summen fleissiger Bienen in dem blühenden Lindenbaum.