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Ausser dem Lehrer für Naturwissenschaften und den Apothekern gab es nur noch einen Mann in der Stadt, von welchem die Sage ging, dass er sich mit Chemie beschäftigte, das war der sehr wohlhabende Rentier Herr Andreas Boldewin, der in einer benachbarten Strasse mit seiner einzigen Tochter und einer alten Wirthschafterin in dem Hause seiner Väter wohnte. Die Hinterseite des Brunowschen Hauses grenzte an das Boldewinsche Grundstück, welches sich durch eine Seltenheit in diesem ältesten Theile der Stadt auszeichnete; es enthielt nämlich einen ziemlich grossen Garten, den einzigen in der ganzen Gegend, welcher solchen Namen wirklich verdiente. Aber nur wenige konnten sich rühmen, einen Blick in diesen Garten sowie in das Innere des Boldewinschen Hauses gethan zu haben, denn der Alte war ein finstrer, eigensinniger und menschenscheuer Sonderling, der mit niemandem verkehrte und auch seine Tochter vollständig von jeglichem Umgange mit der Welt abschloss.
Brachte man eine der alten Tanten, welche in ihren lockenumzitterten Häuptern die Chronik der Stadt bewahrten, auf das Kapitel Andreas Boldewin, da wackelten sie ganz besonders mit den Köpfen, und wenn man nur die Hälfte glaubte von dem, was man erfuhr, da war es schon vollkommen genug. Die Geschichte begann mit dem Vater dieses Herrn, dem Sanitätsrath Klaus Boldewin. Der hatte als Arzt, obwohl er in keinem besonderen Rufe stand, genügend zu thun gehabt, denn er nahm es nicht sehr genau und pflegte sich in Ausstellung von wichtigen Attesten und sonstigen geheimen Angelegenheiten sehr gefällig zu erweisen. Dergleichen Dinge muss er nun wohl zu arg getrieben haben, denn einmal ist es fast zu einem grossen Skandalprozess gekommen. Da aber manche Angehörige der ersten Familien an dieser Sache betheiligt waren, so hatte man die Geschichte niedergeschlagen und im geheimen erledigt. Dem Herrn Sanitätsrath ist aber infolge dessen die Ausübung der ärztlichen Praxis verboten worden, auch soll es ihm eine bedeutende Summe gekostet haben, der Gefängnisstrafe zu entgehen. Im geheimen hat er aber doch immer eine fortdauernde lichtscheue Kundschaft behalten, die in Dämmerung und Dunkelheit zu ihm schlich oder ihn im stillen zu sich rufen liess. Er hatte sich ein vom Garten aus zugängliches Zimmer zu einer förmlichen Apotheke eingerichtet, wo er unter dem Anschein chemischer Studien seine verdächtigen Tränke braute. Auch fing er allmählich ein kleines Wuchergeschäft an, das sich immer weiter ausdehnte und ein schönes Stück Geld abwarf. Seine erste Frau war ohne Kinder zu hinterlassen gestorben, und er hatte dann eine noch ziemlich junge Witwe als Wirthschafterin zu sich genommen und diese nach einigen Jahren geheirathet. Der einzige Sprössling dieser Ehe, Andreas Boldewin, war spät erschienen und hatte sogleich alles, was in beiden Eltern an Liebesfähigkeit vorhanden war, auf sich vereinigt, so dass sie ihn auf die unverständigste Art verzogen und sich in ihm einen grausamen Tyrannen heranzüchteten. So wuchs er auf als ein fettes, überfüttertes Kind, das in Spielzeug fast erstickte und dessen verrückteste Laune Befehl war. Als er fast erwachsen war, fand er Gefallen an des Vaters geheimer Apotheke und versuchte mit grossem Eifer dort allerlei sonderbare Dinge herzustellen. Er entdeckte unter alten Scharteken auf dem Hausboden eine Reihe von Rezeptenbüchern aus dem vorigen Jahrhundert, wie zum Beispiel: »Der zu vielen Wissenschaften dienstlich-anweisende Curiose Künstler«, und dergleichen Werke mehr. Nun sass er fast den ganzen Tag und machte verschiedenfarbige Tinten, allerlei Pomaden und wohlriechende Wässer, braute Schnäpse und sonstige Getränke, verfertigte Sonnenuhren und gab sich mit den sonderbarsten Experimenten ab. Hieran fand er so viel Gefallen, dass er in der Folge bis in sein Mannesalter stets mit solchen Sachen beschäftigt war und eine gewisse Geschicklichkeit in diesen Dingen erreichte. Wirkliche chemische Kenntnisse dagegen blieben ihm ganz fremd, da seine Lehrmeister ausschliesslich die vielfach mit Aberglauben und Wunderlichkeiten versetzten und oft sehr kuriosen Bücher vergangener Jahrhunderte waren, und wenn er auch von dem Vorhandensein der Chemie als Wissenschaft eine Ahnung hatte, so war er doch sehr geneigt, als ein weltfremder Autodidakt ohne jegliche Bildung und Erziehung diese Wissenschaft eher zu verachten als zu schätzen.
Sein Vater war unterdessen gestorben und hatte den Platz im Laboratorium geräumt, wo nun Herr Andreas Boldewin allein munter weiter schmierte, kochte und destillierte und die ganze Nachbarschaft gegen ein Billiges mit seinen Präparaten versorgte.
So war er über dreissig Jahre alt geworden und es erschien seiner Mutter hoch an der Zeit, ihn zu verheirathen. Eine entfernte Verwandte, ein armes aber schönes Mädchen, ward dazu ausersehen, und obwohl sie den unangenehmen und etwas schmierigen Vetter nicht mochte, ward ihr doch von allen Seiten so viel vorgeredet von dem grossen Glücke, welches diese reiche Heirath für sie bedeute, dass sie wie ein Lämmlein sich fügte. Bald nach der Hochzeit, welche in aller Stille vor sich ging, erkrankte die alte Frau Boldewin an der Wassersucht und nach Verlauf eines halben Jahres war sie todt. Sie hatte aber ihre Zeit noch wohl benutzt, ihre Schwiegertochter zu ihrer Nachfolgerin, dass heisst zu einer gehorsamen Sklavin ihres Sohnes zu erziehen, so dass sie beruhigt ihre Augen schliessen konnte.
Die junge schöne Frau war nicht zu beneiden an der Seite dieses Mannes, der noch immer nichts weiter war als ein grosses verzogenes Kind. Die Welt da draussen schien ihr noch schöner und glänzender, weil sie nie aus dem Hause kam, denn alle Einkäufe besorgte eine alte tyrannische Köchin, die schon gerade so lange im Hause diente, als Herr Andreas Boldewin Jahre zählte, weil sie damals seine Amme gewesen war. Indess Herr Boldewin im Hinterhause seine Salben und Tränke und wunderlichen Dinge kochte, sass seine junge schöne Frau am Fenster und nähte, stickte oder strickte und langweilte sich. An den Sonntagen, wenn die geputzten Familien vorüberzogen nach dem Dampfer-Landungsplatz, um den allbeliebten Hafen- und Badeort an der Mündung des Stromes zu besuchen, da blickte sie ihnen lange nach und seufzte. Es geschah dann auch bald, dass junge Männer häufiger die Strasse passirten, welche dort eigentlich gar nichts zu thun hatten. Darunter befand sich einer, ein junger Rechtsgelehrter, bei dessen Anblick der Busen der jungen Frau bald tiefer zu athmen anfing, und als er eines Tages langsam vorbeiging und sie grüsste, erschrack sie sehr, aber verneigte sich tief erröthend wieder. Bei diesem Ereigniss hatte aber Herr Boldewin unbemerkt im Hintergrunde gestanden und durch die geöffneten Thüren einer ganzen Flucht von Zimmern dieses Bild wie in einem Rahmen betrachtet. Könnte man von Gefühlen sagen, dass sie eine Farbe hätten, so waren die seinigen bei diesem Anblick von einem gelblichen Giftgrün. Ihn überströmte eine Fluth von widerlichen Gedanken, die seiner selbstbewussten Eitelkeit bis jetzt ganz fremd gewesen waren, und Aussichten eröffneten sich plötzlich, von welchen er sich nichts hatte träumen lassen. Die arme kleine hübsche Frau musste diesen erröthenden Gruss schwer büssen. Noch an demselben Tage wurden sämmtliche Läden der auf die Strasse führenden Fenster fest verschlossen und niemals wieder geöffnet, und die junge Frau musste sich in dem geräumigen Hause in Zimmern, welche auf den Hof mündeten, einrichten, wo sie einer strengen Bewachung unterlag und keine anderen Augen auf sie blicken konnten, als die der Sperlinge und Nachbarskatzen. Die jungen Männer aber wurden der ewig geschlossenen Läden mit den finstern herzförmigen Einschnitten bald müde, sie verloren ganz die Theilnahme an dieser Strasse und wandten ihre Aufmerksamkeit freundlicheren Gegenden zu. Die schöne Frau führte nun das Leben einer Gefangenen, aber obwohl sie zwei so gestrenge Wächter besass, so geht doch die Sage, dass sie den jungen Rechtsgelehrten, welcher im Hause nebenan wohnte, bei dem verhängnissvollen Grusse nicht zum letztenmale gesehen hat.
Nach einiger Zeit ereignete es sich, dass die junge Frau Boldewin ein kleines wunderhübsches Töchterlein bekam und bald nachher an den Folgen eines Kindbettfiebers verstarb. Das Kind aber gedieh und wuchs heran und wurde immer schöner. Sonst veränderte sich wenig in den Verhältnissen des Hauses, die Fensterläden nach der Strasse zu blieben nach wie vor geschlossen, und die Insassen dieser ungastlichen Wohnung lebten ruhig weiter wie auf einer einsamen Insel im Weltmeer. Es kam überhaupt ausser einer alten Lehrerin für das Kind niemand mehr ins Haus, denn seit einiger Zeit hatte Boldewin das Kochen von Salben und Tränken aufgegeben und sich ausschliesslich einer Beschäftigung gewidmet, die er schon vorher mit Feuereifer angegriffen hatte. Unter den alten Büchern seines Vaters befanden sich eine Menge, welche von der Alchemie und der Herstellung des Steines der Weisen handelten und mit einem mystisch erhabenen Unsinn strotzend gefüllt waren. Bei dem Mangel jeder wissenschaftlichen Bildung kann es nicht verwundern, dass seine Phantasie sich bald mit ausschweifenden Ideen erfüllte und ihm die Erlangung der Kunst, Gold zu machen, als ein glänzendes und erreichbares Ziel vor Augen schwebte. So sass er denn eifrig Monate und Jahre lang und studirte die chymischen Schriften des Sincerus Renatus, des Ripläus, des Sendivogius und vor allem auch Kunckels »Laboratorium chymicum« und laborirte wacker drauf los. Man kann sich vorstellen, welche Verwirrung in seinem Geiste schliesslich stattfand durch das ewige Grübeln über Schriften, welche deren Verfasser zum allergrössten Theile selber nicht verstanden haben.
Unser Andreas Boldewin, der all diesen Unsinn auf guten Glauben hinnahm, ward nur immer mehr in seinem Vorhaben bestärkt und lebte der Hoffnung, dass ihm gelingen würde, den unvergleichlichen Stein zu entdecken und dadurch zu unermesslichen Reichthümern zu gelangen. Dass er sich solchem Wahne hingab, ist am Ende nicht gerade so verwunderlich, wenn man bedenkt, dass viele Hunderte von Personen Zeit und Vermögen hinopfern, um das Perpetuum mobile zu erfinden, eine Maschine, deren Herstellung überhaupt nicht im Bereiche der Möglichkeit liegt, weil ihr Princip gegen die einfachsten Naturgesetze verstösst. Er ward zuletzt so hingenommen von solchen Gedanken, dass diese fixe Idee ihn ganz beherrschte und er mit der Sicherheit eines Fanatikers an den endlichen Erfolg seiner Bemühungen glaubte. Da sein Herz ausserdem nur noch an seiner schönen Tochter hing, welche er abgöttisch liebte, so schwelgte er gern in dem Gedanken, dass diese dann bei so unermesslichem und unbegrenztem Reichthume die Wahl haben würde unter den vornehmsten Freiern der Welt, so dass mindestens ein Fürst sie heimführen müsse. Darum hielt er sie ebenso wie ehemals seine junge Frau, ganz abgeschieden von der Welt, so dass sie emporwuchs wie eine einsame Wunderblume.