Charles Sealsfield
Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken
Charles Sealsfield

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Havanna 1816

»Tausendachthundertundsechzehn! – Tausendachthundertundsechzehn! Jawohl wird Südamerika deiner gedenken in heiteren und trüben Tagen, denn du lehrtest es zu Gott beten, indem du das Jammermaß der Verzweiflung bis an den Rand fülltest! Aber sollten je unheilvolle Tage wieder hereinbrechen, so wirst du auch als zwar düster leuchtender, aber tröstender Pharus vor ihm stehen, den Mutlosesten, den Verzweifelndsten aufrichtend! Denn der Gott, der Südamerika auf diese lange Nacht Tag werden ließ, wahrlich, er kann es nimmermehr verlassen!

Es war aber im Spätjahre, am neunzehnten November dieses für Südamerika so gräßlichen Jahres, mehrere Monate nach der unglückseligen Schlacht von Cachiri, die mit den vorhergegangenen gleich unglücklichen von Puerta, Araguita, Alto de Tanumba so entsetzliches Elend über einen halben Weltteil gebracht, daß ein junger, dürftig gekleideter Mann seine Wohnung in Calzada de Guadalupe zu Havanna verließ und sich eiligen Schrittes dem Hafen zustahl.

Es war noch dunkel, die Sonne noch nicht aus dem Atlantischen Ozean heraufgestiegen, aber, obwohl die Calzada mehrere Straßen von dem Hafen ablag, er auch fremd schien, schlüpfte er doch Gassen und Gäßchen mit jenem Instinkte hindurch, mit dem ein gejagtes Tier seinen Feinden zu entgehen sucht. Als er diesem endlich nahe gekommen, stahl sich ein zweiter gleich eilig hinter einem Lager von Kaffeesäcken und Rotholz hervor, fixierte ihn einen Augenblick scharf und dann, seine Hand ergreifend, zog er ihn dem soeben verlassenen Verstecke wieder zu.

Hier hielten die beiden in ängstlicher Erwartung leise einander zuflüsternd, mit den Augen in die trüben, dunklen Nebelschichten hineinbohrend, in denen Stadt und Hafen und die Tausende von Häusern und Schiffen gehüllt lagen.

Bei jedem Laute, der aus den Nebelschichten hervordrang, schraken sie zusammen – der erwachende Tag, wie er sich allmählich im lauter werdenden Leben verkündigte, schien sie mit Schrecken zu erfüllen, ihnen den Atem zu benehmen.

Etwa eine halbe Viertelstunde waren sie so gestanden, als regelmäßige Ruderschläge das Herannahen eines Bootes verkündeten, das auch wirklich bald darauf aus dem Nebelvorhange hervor und dem Hafendamme zuschoß. Noch ehe es an der steinernen Treppe hielt, deutete der eine der Männer auf den am Bootsruder Sitzenden, drückte dem anderen die Hand und verschwand hinter Kaffeesäcken und Rotholze.

Im Boote waren drei Männer, offenbar Seeleute, von denen zwei Matrosen, der dritte ihr Offizier schien. Er sprach, als das Boot an der Treppe des Hafendammes hielt, einige Worte zu den Bootsleuten und stieg dann die Treppe hinauf. Noch einen Blick warf er dem wieder unter der Nebelschicht verschwindenden Boote nach, und dann wandte er sich der Stadt zu.

Wenige Schritte brachten ihn dicht ans Rotholzlager, hinter welchem der Fremdling geborgen stand, der jetzt hastig hervor- und auf ihn zutrat. Die erste Bewegung des Seemannes war natürlich nach seiner Waffe, denn er war in Havanna und der Tag noch nicht angebrochen; ein zweiter Blick jedoch machte ihn den Dolch wieder ruhig in den Ärmel zurückschieben. Der junge Mensch schien nichts weniger als meuchelmörderisch gestimmt. Seine Kleidung war abgetragen, selbst geflickt, seine Miene verriet Trostlosigkeit, die Züge waren zwar jugendlich, selbst edel, aber gramerfüllt. Kummer und Entbehrungen sprachen aus seinem ganzen gebeugten Wesen, das aber ursprünglich sehr viel Stolzes gehabt haben mochte. Mit bebender Stimme fragte er, ob er der Kapitän des Schoners von Philadelphia sei, der nächstens abzusegeln im Begriffe stände.

Der Seemann schaute den jungen Menschen einen Augenblick forschend an und versetzte dann, er sei Kapitän eines Schoners, der auf dem Punkte stehe, die Anker zu lichten.

Des jungen Mannes Augen blitzten. Mit zwischen Furcht und Hoffnung schwankendem Tone fragte er wieder, ob er nicht Passage für sich, eine erwachsene Person und zwei Kinder finden könnte.

Abermals maß ihn der Seemann, und zwar schärfer. Der junge Mensch hatte ein Etwas, das Seekapitänen in der Regel nicht sehr zu gefallen pflegt, etwas abenteuerlich Zerstörtes, Zerrissenes, abgesehen von seiner Kleidung. Bescheiden, ja demütig, wie seine Worte klangen, hatten sie jenen gewissen, gebieterischen Nachhall, der seltsam, ja grell mit seiner ärmlichen Kleidung, seiner Ängstlichkeit kontrastierte. Während ihm die Lippen zitterten, blitzte wieder aus den Augen ein Mut, eine Unbändigkeit, die etwas Gewalttätiges verrieten.

Der Seemann schüttelte den Kopf.

Der junge Mann schnappte nach Atem, die Sprache schien ihm zu versagen; er zog einen ziemlich vollen Beutel aus seinem Busen.

Er wolle vorausbezahlen, alles vorausbezahlen.

Der Kapitän stutzte. Der Widerspruch zwischen dem vollen Beutel und dem kläglichen Äußeren war zu schreiend! Er schüttelte den Kopf stärker.

Jetzt starrte ihn der junge Mensch mit einem Ausdrucke so düsterer Verzweiflung an, die Lippen zuckten ihm so krampfhaft, der Atem stockte so gänzlich!

Der Kapitän wurde augenscheinlich betroffen.

›Junger Mann!‹ fragte er spanisch, ›was wollt Ihr eigentlich in Philadelphia, Ihr seid kein Handelsmann?‹

›Ich will nach Philadelphia‹, würgte dieser heraus, ›will für die Passage bezahlen. Hier ist Geld, hier ist mein Paß; Ihr seid Kapitän, was wollt Ihr mehr?‹

Die Worte waren so heftig gesprochen, die Züge des jungen Menschen hatten einen so verzweifelnden, schmerzhaften Ausdruck angenommen, daß der Kapitän immer mehr und mehr den Kopf schüttelte.

Er schaute ihn mit einem langen, durchbohrenden Blicke an und war im Begriffe zu gehen.

Der junge Mann schnappte nach Atem, hielt ihn mit krampfhaft zuckender Hand zurück.

›Nehmt mich um Gottes willen mit, und meine arme Frau und meine armen Kinder, Kapitän!‹

›Frau und Kinder?‹ sprach plötzlich mit weicherer Stimme der Kapitän, ›habt Ihr Weib und Kinder?‹

Weib und Kinder berühren die Eisenseele des Amerikaners immer an der tiefsten, zartesten Saite!

›Weib und Kinder!‹ stöhnte in Verzweiflung der junge Mensch.

›Ihr habt doch nichts verbrochen, wollt nicht etwa dem Gesetze entfliehen?‹ fragte wieder schärfer der Kapitän.

›So möge mir Gott helfen, ich habe nichts verbrochen!‹ versetzte die Hand erhebend der junge Mann.

Einen Augenblick stand der Kapitän sinnend, dann sprach er:

›In diesem Falle will ich Euch als Passagier mitnehmen. Behaltet Euer Geld, bis Ihr an Bord seid. In einer Stunde längstens gehe ich.‹

Der junge Mensch antwortete nicht, aber wie einer, der wieder Hoffnung schöpft, eine entsetzliche Angst überstanden hat, holte er tiefen Atem, schaute den Kapitän, dann den Himmel an und sprang davon.

Kapitän Ready, Meister des Schoners ›The speedy Tom‹, hatte seine Ladung gelöscht, seine Geschäfte abgetan und würde auch bereits die Havanna verlassen haben, wenn nicht ein stürmischer Nordwester ihn zurückgehalten hätte. Dieser jedoch hatte sich an demselben Morgen gelegt, und er wollte bloß noch einmal nach seinem Gasthofe sehen, um auch die etwas stark angelaufene Rechnung zu löschen, noch ein und das andere Vergessene nachzuholen und dann zurückzukehren. Sein Schoner lag ganz segelfertig. Es war ein in Baltimore gebauter Schoner, womit ich alles gesagt zu haben glaube – eines jener Fahrzeuge, um die uns die Welt mit Recht beneidet und um die wir auch wirklich zu beneiden wären, wenn es keine Squalls gäbe; aber diese Squalls qualifizieren wieder die Baltimore-Tugenden, denn sie schlagen euch beinahe ebenso leicht während eines solchen Windstoßes um, als irgendeine lockere weibliche Tugend nur umschlagen kann. Aber flüchtig sind sie, das muß man gestehen; auch bieten sie im geringstmöglichen Raume wohl die größtmögliche Bequemlichkeit sowie Leichtigkeit dar, vom Verdecke herab in die See zu kollern. Ich war einige Male nahe daran – und einmal auch darin; glücklicherweise war gerade Windstille, der Sturm vorüber. Doch zu unserem ›Speedy Tom‹ zurückzukehren, so konnten sich in seiner Nußschale von Kajüte vier bis fünf Personen so ziemlich behaglich einrichten, und daß sie gerade keine anderen Passagiere hatte, schien den jungen Kapitän willfährig gestimmt zu haben, obwohl er sich zu seiner verdächtigen Akquisition eben nicht Glück wünschen mochte. Unterdessen war die Aufnahme auf alle Fälle so ziemlich durch den Paß gerechtfertigt; zwar konnte dieser auch falsch sein, aber das ging nicht ihn, das ging die Hafenpolizei an. Wollte er nach dem Lebenslaufe jedes seiner Passagiere inquirieren, konnte er ebensowohl seine Kajüte vernageln. Dieses mochten allenfalls die Gründe sein, die den jungen Seemann bewogen, obwohl ihm die Heimlichkeit, die Angst des Fremden offenbar nicht gefielen, er auch leicht in eine Kollision mit den Hafenbehörden kommen konnte, für die ihm seine Schiffseigentümer nur wenig danken würden. Doch er war jung, entschlossen und, obwohl seiner Pflicht als Kapitän haarscharf getreu, doch auch wieder Mensch. Der blasse Fremdling schien eine Saite in ihm berührt zu haben, die stark vibrierte. Etwas sprach zu seinen Gunsten; was es war, wußte er nicht, aber sein tiefstes Gemüt fühlte sich von dieser Stimme bewegt.

Ohne sich übrigens den Kopf zu zerbrechen, nahm er sein Frühstück ein, tat noch ab, was abzutun, und kehrte dann zu seinem Schoner zurück.

Wie er sich die Strickleiter hinauf auf das Verdeck schwang, kam ihm bereits der Fremde entgegen. In die Kajüte eingetreten, führte er ihm eine junge Dame auf, deren blasse Schönheit, verbunden mit dem höchsten Adel in Blick, Wort und Bewegung, wohl den seltsamsten Kontrast gegenüber dem halb zerlumpten jungen Menschen darbot. Die Dame war mit ihren zwei seraphartigen Kindern zwar einfach, aber in sehr feine Stoffe gekleidet. Doch auch hier zeigten sich Widersprüche. Auf einem der Koffer lag ein dürftiger Oberrock, den sie soeben abgelegt haben mußte; die zwei Kinder hatten gleichfalls zwei solche ärmliche Hülsen abgelegt. Unser Kapitän schüttelte etwas finster den Kopf; die Grazie der Dame jedoch, der Flötenton, der so zitternd, so duldsam ergeben aus der Brust heraufkam, durch die Perlenzähne, die schönen Lippen so bittend klang, schien die Wolke, die sich auf der Stirn des jungen Seemannes niedergelassen, wieder zu verscheuchen.

Er lud sie artig ein, sich in der Kajüte zu Hause zu machen, und bestieg dann die Treppe zum Verdeck. Wenige Minuten darauf verriet das ›heave hoyeo‹ der Matrosen, daß der Anker aufgezogen, und darauf das stärkere Schwanken, daß dieser empor und der Schoner in Bewegung sei.

Die Sonne war aus dem Ozean heraufgestiegen, aus dem zerstiebenden Nebelschleier traten im Hintergrunde die Häusermassen von Havanna, im Vordergrunde die zahllosen Schiffe und dann der düstere Koloß des Molo hervor, dessen drohenden Kanonenluken sich der Schoner nun mehr und mehr näherte. In atemloser Spannung, die starren Blicke auf das Fort gerichtet, standen die beiden Eheleute an der Kajütentreppe, mit der einen Hand das Seil der Treppe, mit der anderen sich umschlungen haltend.

Auf den Nordwester war wie gewöhnlich eine kurze Windstille mit leichten Windstößen aus Südwest eingetreten, die die Ausfahrt des Schoners bisher begünstigt. Er stand jetzt dem Fort gegenüber.

Starr und atemlos, Totenblässe auf den Gesichtern, hielten sich noch immer die beiden Eheleute, in sprachloser Angst den Molo anstarrend. Es war da keine Bewegung zu verspüren. Die Wachen gingen ihren Automatenschritt auf und ab. Alles schien wie ausgestorben. Aber jetzt öffnete sich auf einmal ein Pförtchen, zunächst dem Damme, ein Offizier trat eilig heraus, sechs Soldaten mit blitzenden Gewehren folgten. Vier Männer, die in einem Boote am Fuße der Dammtreppe lagen, sprangen auf – die Soldaten ein; zugleich wurde dem Schoner ein Signal zu halten gegeben. Das Boot flog wie von Fittichen getragen auf diesen zu.

›Jesu Maria y José!‹ stöhnte die Dame. ›Madre de Dio!‹ der Mann.

Auf einen Wink des Kapitäns fiel das große Segel. Ruhig, unbewegt schaute er dem heraneilenden Boote entgegen, aus dem eine Minute darauf der Offizier samt den Soldaten an Bord stieg.

Der Offizier war jung, aber seine Miene charakteristisch spanisch, ernst und streng. Mit kurzen Worten befahl er dem Kapitän, seine Schiffspapiere vorzuweisen, seine Mannschaft sowie Passagiere vorzuführen.

Ehe der Kapitän ging, die ersten zu holen, befahl er seinem Leutnant, die anderen vorzurufen. Zurückgekehrt überreichte er, ohne ein Wort zu sagen, dem Offizier die Papiere.

Dieser überflog sie, musterte einen der Matrosen nach dem anderen, schaute dann erwartend in der Richtung hin, wo die Passagiere herkommen mußten. Sie kamen, der junge Mensch ein Kind im Arme, die Frau das andere.

Ob er wisse, donnerte der Offizier plötzlich den Kapitän an, daß er einen Staatsverbrecher an Bord seines Schoners habe; wie er sich so etwas unterfangen könne! ›Jesu Maria y José!‹ stöhnte abermals die Frau, und dann sank sie ohnmächtig zusammen.


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