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Neuntes Kapitel.

Es hat geraume Zeit gekostet, bis wir den Hilfslehrer Butler vor die Tür von Sankt-Leonard führten; aber es kostete ihn selbst kaum geringere Zeit, bis er den Entschluß, bei der Familie vorzusprechen, gefaßt hatte. Bis zur achten Stunde, zur Frühstückszeit, wollte er auf alle Fälle warten und hatte dazu triftige Gründe persönlicher Art. Er brauchte Zeit, die schlimme Kunde von Effies Lage zu überdenken; er brauchte auch Zeit, sich von der Aufregung zu erholen, in die ihn das grause Ereignis der Nacht, die Ermordung des Hauptmanns Porteous, versetzt hatte; das eigentümliche Verhältnis, in welchem er zu Jeanie stand, nötigte ihm eine gewisse Sammlung oder Vorbereitung seines Gemüts auf. Aber nie waren ihm die Stunden so langsam hingeschlichen. Er blieb nicht auf der gleichen Stelle, sondern schritt in ziemlich weitem Kreise hin und her und zählte einen Stundenschlag nach dem andern mit ängstlicher Spannung. Endlich verkündete die große Glocke vom Giles-Turme die siebente Stunde. Bis Sankt-Leonard war es noch immer eine knappe Stunde Wegs, und so meinte er, sich nun der Hütte langsam nähern zu dürfen. Er stieg von der Höhe des Salisbury-Felsens in den Talgrund hinunter, der mit Felsblöcken und Gestein, das hin und wieder von den steilen Klippen im Osten niedergeht, übersäet ist.

Dieser abgeschiedene Ort wurde in jenen Tagen gern von Edelleuten aufgesucht, wenn es galt, Ehrenhändel mit dem Schwert auszufechten, die unter dem damals rauhen und stolzen Adel von Schottland an der Tagesordnung waren; ohne Degen an der Seite war deshalb kein Edelmann damals zu denken. Als jetzt Butler nun in kurzem Abstande von sich einen jungen Menschen bemerkte, der sich, wie in der Absicht, ungesehen zu bleiben, vom Fußpfade weg nach den Felsen zu schlich, glaubte er nicht anders, als daß derselbe, um eines Duells halber, die Salisbury-Felsen aufgesucht habe, und hielt es, vielleicht der eigenen trüben Stimmung uneingedenk oder gerade durch sie dazu bestimmt, für Pflicht, das Wort an den Unbekannten zu richten . . »Ein guter Rat zur rechten Zeit,« dachte er bei sich, »schafft manchmal schlimmes Unheil aus der Welt, und Kummer, durch Pflichterfüllung abgelenkt, wird leichter getragen, als wenn man ihn in sich verschließt.«

Von diesen Gedanken bestimmt, verließ Reuben den Fußpfad in der Richtung, in welcher der junge Mensch zwischen den Felsen zu verschwinden suchte. Zuerst schien es von demselben darauf abgesehen, das Weite zu suchen, denn er schlug den zu den Bergen führenden Weg ein; als er indessen sah, daß ihm Reuben auch dorthin nachging, drückte er trotzig den Hut in die Stirn, machte kehrt und stellte sich, als sei er willens, jedem weitern Versuch, ihm zu folgen, Widerstand entgegenzusetzen.

Sie näherten sich nun einander, und bald konnte Reuben die Züge des Fremden unterscheiden. Er schien ein mittlerer Zwanziger zu sein. Die Tracht, die er trug, war nicht unsauber, aber auch nicht besonders vornehm, und ließ auf den Stand schließen, dem er angehörte; es kam aber Reuben so vor, als sei sie minder gewählt, als es dem Aussehen ihres Trägers entsprochen hätte. Er zeigte ein keckes, ja etwas befehlshaberisches Wesen, war wohlgebaut, von mehr als Mittelgröße und hatte ein auffallend schönes Gesicht, doch mit jenem, Wüstlingen eigenen Zuge von Ungezwungenheit, der gemeinhin so abstoßend wirkt, daß er die Schönheit aufhebt.

Sie traten einander jetzt gegenüber und sahen einander in die Augen; der Unbekannte wollte, leicht an den Hut fassend, vorbeigehen, Butler aber vertrat ihm, den Gruß erwidernd, den Weg . .

»Ein herrlicher Morgen, Herr,« sagte er, »Sie sind recht früh in den Bergen?«

»Ich habe was vor,« antwortete der junge Mann barsch, und sein Ton verriet, daß er weitere Fragen abschneiden wollte.

»Daran zweifle ich nicht, Herr,« sagte Butler, »ich will nur hoffen, daß es sich auch mit Recht und Gesetz verträgt, was Sie vorhaben.«

»Mit welchem Recht, Herr,« rief der andere verdutzt, »kümmern Sie sich um Dinge, die Sie nichts angehen? Ich gehöre nicht zu denen, die sich Ungezogenheiten bieten lassen.«

»Ich bin ein Kriegsmann, Herr,« versetzte Reuben ernst, »und als solcher verpflichtet, Leute, die ich auf unrechten Wegen finde, im Auftrage meines Herrn und Meisters anzuhalten.«

»Kriegsmann?« wiederholte der andere, einen Schritt zurückweichend, um im andern Augenblicke die Hand an den Degen zu legen, »Kriegsmann, und mich anhalten? . .Haben Sie, als Sie den Auftrag übernahmen, auch bedacht, was Ihr Leben gilt?«

»Sie mißdeuten meine Rede,« sagte Butler mit dem gleichen Ernste wie vorhin, »mein Dienst und meine Sendung sind nicht von dieser Welt; ich bin ein Verkündiger des Evangeliums, dem die Pflicht obliegt, auf Erden Frieden zu gebieten nach dem Worte der Schrift: »Liebet Euch untereinander!«

»Also Pfaffe?« versetzte geringschätzig der andere; »in Schottland scheint's Euresgleichen freilich erlaubt, sich in fremder Leute Angelegenheiten zu mischen; aber ich habe auch in anderen Ländern gelebt und weiß, wie man Pfaffen die Wege weisen muß.«

»Mischt sich ein Mann meines Standes in anderer Leute Dinge aus Neugierde oder Gründen, die noch tadelnswerter sind,« erwiderte Reuben, »so war's gut für Sie, Herr, im Auslande zu lernen, wie man sich dessen erwehrt. Zum Werke des Herrn muß ich aber immer bereit sein, und da ich mir bewußt bin, in durchaus reiner Absicht zu Ihnen zu sprechen, so will ich lieber Ihren Hohn hinnehmen, als mein Gewissen dadurch beschweren, daß ich schweige.«

»So sprecht, ins Teufels Namen,« rief der junge Mann ungeduldig, »was Ihr von mir wollt, denn daß ich's Euch an der Nase absehen soll, könnt Ihr nicht verlangen.«

»Sie tragen sich mit der Absicht,« erwiderte Butler, »eins der weisesten Gesetze Ihres Vaterlandes zu übertreten, ja was noch schwerer wider Sie spricht, ein Gesetz, das die Gottheit selbst uns einpflanzte so tief, daß es in jedem unserer Nerven erzittert.«

»Und was für ein Gesetz soll das sein?« fragte der Fremde dumpf und unsicher.

»Du sollst nicht töten!« antwortete Butler mit tiefer, feierlicher Stimme.

Der junge Mann zuckte sichtlich zusammen und wurde blaß. Butler erkannte, daß seine Worte nicht ohne Eindruck geblieben waren, und wollte diese Stimmung nicht ungenützt vorbeigehen lassen; drum fuhr er fort, ihm freundlich die Hand auf die Schultern legend:

»Bedenket, junger Mann, vor welche Alternative Ihr Euch stellen wollt: Einem andern wollt Ihr das Leben nehmen oder Euer Leben einem andern geben? Bedenket, was es heißt, ungerufen vor das Angesicht Eures beleidigten Gottes zu treten, mit einem Herzen, noch glühend von Leidenschaft, mit einer Hand, noch zuckend vom Stoße des Degens, den Ihr wider die Brust des Gegners zücktet! Vergeßt auch des Elenden nicht, den Ihr als andern Kain zurücklasset, mit einem Brandmal im Herzen und einem Brandmal auf der Stirn! Bedenket . .«

Der Fremde hatte sich langsam der Hand des Mahners entwunden und fiel ihm jetzt, während er den Hut noch tiefer in die Stirn drückte, ungestüm ins Wort: »Ihr meint's ja sicher recht gut, Herr, seid aber mit Eurem Rat im Irrtum . . ich bin nicht hier, jemand zu schaden . . weiß waschen will ich mich nicht, – Ihr Pfaffen meint ja ohnedem, alle Menschen seien sündig – aber ich bin hier, bloß um jemand das Leben zu retten! Beliebt's Euch, Eure Zeit zu etwas Gutem zu verwenden, statt über Dinge zu reden, die Ihr nicht beurteilen könnt, dann kann ich Euch Gelegenheit dazu geben. Blickt dorthin rechts, zu der Höhe hinauf, hinter der das Dach eines einsamen Hauses hervorschaut! Fragt dort nach der Pächterstochter Jeanie . . Jeanie Deans! Sagt ihr, daß derjenige, von dem sie wisse, was er wolle, seit Tagesanbruch bis jetzt hier auf sie gewartet habe, aber länger nicht mehr hier bleiben könne . . Sagt ihr, sie müsse nun heut nacht, bei Mondesaufgang, ins Jägermoor hinterm Sankt-Antonshügel kommen, wenn sie mich nicht in Raserei und Verzweiflung stürzen wolle.«

Butler, aufs unangenehmste berührt durch Worte und Wesen des Fremden, erwiderte: »Aber wer sind Sie, mir solche Botschaft aufzutragen?«

»Der Teufel bin ich!« versetzte rauh und hastig der junge Mann.

Butler prallte unwillkürlich zurück, sich im stillen dem Schutze des Himmels empfehlend . . denn, obwohl ein verständiger, strenggläubiger Mann, hielt er doch, seiner Zeit und seiner Lage gemäß, Zweifel an Zauberei und Gespenstern fast gleichbedeutend mit Gotteslästerung.

Der Fremde schien jedoch seine Betroffenheit nicht zu bemerken, sondern fuhr fort: »Ja, der Teufel! oder Apollyon, Abaddon, oder wie Ihr sonst wollt . . Einen Namen zu finden, der dem, der ihn führt, so schauderhaft wäre, wie mir der meine, ist's Euch doch nicht möglich, und wenn Ihr zehnmal Pfaffe seid und als solcher die niedern und höhern Kreise der Geister namhaft zu machen wißt.« Er hatte das gesagt mit aller Bitterkeit der Selbstverachtung, und sein Gesicht hatte sich dabei satanisch verzogen; Butler aber, so festen Sinnes er auch war, fühlte sich tief erschüttert; denn alles Uebermaß seelischer Schmerzen wirkt bannend auf die Menschheit, vor allem auf teilnahmsvolle, ernste Gemüter. Der Fremde, der sich nach diesen Worten jäh von Reuben abgewandt hatte, trat ebenso jäh wieder auf ihn zu und rief derb und stolz: »Ich habe Ihnen gesagt, wer und was ich bin . . . Wer sind Sie? . . . was sind Sie?«

»Butler, Pfarrer Butler,« antwortete dieser, durch die Kürze und Grobheit der Fragen sich außerstand gesetzt fühlend, anders als kurz zu antworten. Der Fremde aber, den Hut, den er vorhin trotzig höher gerückt, jetzt wieder über die Stirn ziehend, wiederholte: »Butler?« und setzte hinzu: »Der Hilfslehrer von Libberton?«

»Ja, derselbe,« erwiderte Reuben mit Ruhe.

Der Fremde hielt sich, wie wenn ihm etwas auffiele, die Hand vors Gesicht, wandte sich jedoch gleich darauf ab und ging, blieb nach einigen Schritten, als er sah, daß Butler ihm nachblickte, stehen und rief in scharfem, aber so streng bemessenem Tone, daß es Butler den Eindruck machte, als sollten die Worte nicht weiter dringen als bis zu der Stelle, wo er stand:

»Gehen Sie und bestellen Sie, was ich gesagt, dem Mädchen; aber sehen Sie mir nicht nach! Ich versinke weder in den Felsenpfuhl, noch verschwinde ich in einem Flammenmeer, und doch, wehe dem Auge, das mein Tun zu erspähen trachtet! . . Dem Mädchen sagen Sie noch, daß ich sie hinter der Sankt-Antons-Kapelle, bei dem Muschat-Felsen, erwarte und zwar gleich nach Mondaufgang!«

Darauf machte er kehrt und verschwand zwischen den Felsen.

Reuben eilte, halb verstört, dem Häuschen zu: es drängte ihn, zu erfahren, mit welchem Rechte dieser fremde Mann von Jeanie Deans, der ihm halbverlobten Braut, etwas fordere; was wohl kein sittsames Mädchen ihm bewilligen würde . . War er von Natur auch nicht eifersüchtig oder abergläubisch, so schlummerten doch in seinem Gemüte, als Anteil an dem gemeinsamen Erbe der Menschheit, Empfindungen, die zu diesen seelischen Krankheiten führen. Der Gedanke, ein Wüstling, wie es der fremde Mensch, seinem ganzen Aussehen und Wesen nach, unstreitig war, besitze die Macht über seine Jeanie, sie zu so unziemlicher Zeit an einen so unpassenden Ort zu bestellen, und mit einem Tone, der keine Widerrede litt, drohte ihn um den Verstand zu bringen. Und doch hatte der Fremde nicht im Tone eines Verliebten gesprochen: das konnte er sich nicht verhehlen; nein! sein Ton war ungestüm, drohend gewesen . . Regungen anderer Art stiegen nun in Butlers wilderregtem Herzen auf: eine unwillkürliche Scheu befiel ihn, wenn er sich die seltsame Begegnung vor Augen führte . . Wäre er es, fragte er sich, vom dem geschrieben stehet: er gehet umher wie ein brüllender Löwe und suchet, den er verschlinge? . . Der trotzige Blick, das ruhelose Wesen, der rauhe, zuweilen absichtlich gemilderte Ton, das schöne, vom Stolz wild entflammte Gesicht mit den rollenden Augen, die bald trübe Schwermut, bald finstern Hohn, bald Verachtung, bald Wut gezeigt hatten; waren es Leidenschaften eines sterblichen Menschen oder Merkmale des Bösen, der es versucht, wenn auch vergeblich, teuflische Absicht unter der geliehenen Maske männlicher Schönheit zu bergen? Gewiß! Die Erscheinung hatte in allem an den gefallenen Erzengel erinnert, und so mangelhaft die Schilderung sein mag, die wir hier von ihr gegeben haben, so dürfen wir doch nicht verhehlen, daß ihr Eindruck auf Butler infolge seines durch die schrecklichen Ereignisse erschütterten Nervenapparats stärker war als es Verstand und Mannesstolz zugeben mochten . . Doch auch der Ort, wo er dem seltsamen Wesen begegnet war, war auffällig, war eine verrufene, gewissermaßen entweihte Stätte, denn es waren schon viele hier, sowohl im Duell als durch Selbstmord, umgekommen . . Auch die andere einsame Stätte, die er für die nächtliche Zusammenkunft mit seiner Jeanie bestimmte, galt als entweiht; und zwar durch einen dort verübten schrecklichen Mord, der sogar nach dem, der ihn verübt hatte, benannt war! . . Sein eigenes Eheweib hatte der Mörder hier erschlagen! . . Und zu einer Zeit, wo die Gesetze gegen Zauberei noch in voller Kraft standen, maß man gerade solchen Stätten die Macht bei, böse Geister den Menschen sichtbar zu machen . .

So zwischen Eifersucht und Aberglauben kämpfend, schleppte sich Reuben Butler, von Müdigkeit erschöpft, von finsteren Erinnerungen verfolgt und von Sorge gebeugt, den steilen Pfad zu dem Sankt-Leonard-Felsen hinauf und gelangte vor die Tür des Pachthauses mit Empfindungen, die an bitterm Weh denjenigen seiner unglücklichen Bewohner kaum nachstanden.


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