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Viertes Kapitel.

Butler lenkte seine Schritte vom »goldnen Hengst« zu einem mit Gerichts- und Rechtssachen bewanderten Bekannten, von dem er über die Lage des armen Mädchens, deren Schicksal ihm, wie der Leser wohl bereits erraten haben mag, aus tieferer Ursache als bloßer Menschlichkeit am Herzen lag, Aufklärung fordern wollte. Aber er traf den Mann nicht zu Hause, und auch bei anderen Leuten, die er für Effie zu interessieren hoffte, war seine Vorfrage umsonst, denn durch den Fall Porteous waren alle Gemüter in solcher Erregung, daß niemand für etwas anderes Sinn hatte als darüber zu diskutieren, ob die Regierung im Recht sei, den Hauptmann der Edinburger Bürgergarde zu begnadigen oder nicht . . Solche Diskussion macht Durst, und daher kam es, daß die meisten Edinburger Advokaten mitsamt ihren Schreibern – und unter ihnen befanden sich gerade die Bekannten, bei denen sich Butler Rat holen wollte – in Schenken und Kneipen herumsaßen, wo sie bessere Muße hatten zu diskutieren als in ihren Kanzleien. Nach einer höchst mäßigen Schätzung soll an diesem Tage in Edinburg soviel Bier konsumiert worden sein, daß man ein Kriegsschiff damit hätte flott machen können.

Butler lief den ganzen Tag umher, bis es Abend wurde; denn er hatte sich vorgenommen, die unglückliche Gefangene, ohne bemerkt zu werden, im Stockhause aufzusuchen. Um nicht an Saddletrees Laden vorbei zu müssen, der in der Nähe des Stockhauses lag – denn er mochte aus dem Munde seines Inhabers nichts weiter mehr hören – schlug er einen Weg ein, der ihn von anderer Richtung zu dem altersgrauen Baue führte, der aus heute nicht mehr verständlichen Gründen mitten in die eigentliche Hauptstraße von Edinburg eingezwängt worden ist, einen Haufen zusammengedrängter Häuser und Buden bildend, die zusammen die Bezeichnung »Luckenbooths« führen. Dazwischen ist nur nach Norden hin ein schmales Gäßchen offen gelassen worden, das sich zwischen den hohen, dunklen Mauern des Stockhauses hindurchschlängelt, nach Süden hin aber zu einem bloßen krummen Gange wird. Zwischen den gotischen Pfeilern und Vorsprüngen hatten sich allerhand Krämer und Trödler eingenistet, deren Auslagen das düstere Bild, das diese Stätte zeigt, einigermaßen aufheiterten.

Als Butler unter das gotische Portal trat, war der Schließer, ein langer, hagerer Greis, gerade damit beschäftigt, die mächtigen Riegel vorzuschieben. Butler sprach ihn an und verlangte, zu der des Kindesmordes angeklagten Effie Deans geführt zu werden. Der silberhaarige Greis griff aus Respekt vor der schwarzen Tracht Butlers und seinem an einen Geistlichen erinnernden Aussehen höflich an den Hut, erklärte aber, es sei heut nicht mehr an der Zeit, jemand in das Gefängnis zu führen.

»Ihr schließt heute früher als sonst,« erwiderte Butler, »wohl wegen des Hauptmanns Porteous?«

Der Schließer nickte ein paarmal geheimnisvoll, langte einen fast zwei Fuß langen Schlüssel von dem Bunde, das er in der Hand hielt, und schob eine starke Stahlplatte, die mittels einer Stahlfeder und eines Springschlosses in die Falzen einsprang, über das Schlüsselloch. Butler blieb instinktiv stehen, bis der Schließer kein Geräusch mehr machte, warf dann einen Blick auf die Uhr und ging schnellen Schrittes die Straße hinauf, unwillkürlich die Vergil-Verse vor sich her murmelnd:

Porta adversa, ingens, solidoque adamante columnae;
Vis ut nulla virum, no ipsi excindere ferro
Colicolae valeant – stat ferrea turris ad auras.

Vorn das gewaltige Tor, aus festem Demant die Säulen,
Das nicht Männergewalt, selbst nicht der Unsterblichen Angriff
Zu durchbrechen vermag. Hoch strebt ein eiserner Turm auf.
                                                      Aeneis, VI. 552.

Er versuchte es zum andern Male, den Bekannten aufzusuchen, von dem er sich Rat holen wollte, aber wiederum ohne Erfolg, und so hielt er es endlich an der Zeit, der Stadt den Rücken zu wenden und sich nach dem eine reichliche Stunde entfernten Dörfchen zu begeben, wo er seine bescheidene Wohnung hatte. Edinburg war damals von einer hohen Mauer umzogen, deren Tore allabendlich geschlossen wurden. Wer später noch herausgelassen werden wollte, mußte dem Pächter einen Obolus entrichten; das vertrug sich aber mit den kargen Verhältnissen, in denen Butler lebte, nicht, so geringfügig der Betrag auch war, den er dafür hätte opfern müssen, und so suchte er das am Marktende gelegene westliche Tor zu gewinnen, wo er noch ohne Obolus durchzuschlüpfen hoffen durfte. Es glückte ihm auch, bis zu der kleinen Vorstadt Portsbourgh auf diesem Wege zu gelangen, die vorzugsweise von Kleinbürgern und Handwerkern bewohnt wird. Hier aber stieß er auf ein unerwartetes Hindernis. Es war schon vor ein paar Minuten der Schall von Trommelwirbeln zu seinen Ohren gelangt, und nun sah er plötzlich einen Zug Menschen sich entgegenkommen, der die ganze Breite der Straße einnahm, und an den sich noch ein langer Schweif von Mitläufern fügte. An der Spitze marschierte ein Tambour, der eine Art Generalmarsch schlug. Während er noch mit sich zu Rate ging, wie er dem Haufen, der sicher nichts Gutes vorhatte, am besten aus dem Wege ginge, hatten ihn die vordersten bereits erreicht und hielten ihn fest.

»Ihr seid doch Geistlicher?« fragte der eine, offenbar der Rädelsführer.

Butler antwortete, er gehöre wohl dem geistlichen Stand an, sei jedoch kein ordinierter Prediger.

»Der Butler aus Libberton ist's,« rief eine Stimme aus dem Haufen, »ich kenne ihn gut . . der kann die Sache ebenso gut verrichten wie jeder andere Schwarzkittel!«

»Ihr müßt mit uns umkehren,« sagte der erste wieder in gebieterischer, aber nicht unhöflicher Weise.

»Und weshalb, wenn ich fragen darf?« versetzte Butler; »ich wohne eine reichliche Meile von Edinburg. Die Wege sind zur Nachtzeit unsicher. Wenn Ihr mich zu solchem Aufenthalte nötigt, setzt Ihr mich in großen Verdruß.«

»Ihr werdet sicher nach Eurem Dorfe hinaus gebracht werden, Herr Butler. Ich stehe dafür ein, daß Euch heute nacht kein Haar gekrümmt werden soll. Aber Ihr müßt jetzt mitkommen, das geht nicht anders.«

»Und zu welchem Zwecke, meine Herren?« fragte Butler; »darüber werdet ihr mich hoffentlich nicht im unklaren lassen?«

»Wenn es so weit ist, werdet Ihr es auch erfahren,« lautete die Antwort. »Jetzt macht Kehrt und zwingt uns nicht erst, Gewalt zu brauchen. Merkt Euch, daß Ihr weder nach rechts noch nach links ausschaut, auch keinem Menschen ins Gesicht seht, sondern alles hinnehmt, wie es an Euch hertritt und so, als sei es Euch im Traume passiert!«

»O, wenn es ein Traum auch wäre!« sagte Butler bekümmert zu sich selbst und wandte sich, da er einsah, daß ihm eine Weigerung nichts helfen könnte, dem Haufen zu. Von zwei der vordersten gehalten, marschierte er nun dem Tore wieder zu, das er gerade erst hinter sich gebracht hatte. Den dort postierten Wächtern wurden die Schlüssel entwunden. Dann ging es zu dem kleinen Tore, das Butler, um den Obolus nicht zu entrichten, gemieden hatte. Dem vor Angst und Schreck halb ohnmächtigen Wächter wurde befohlen, die Pforte zu verrammeln; da er aber mit seinen zitternden Händen zu lange Zeit dazu brauchte, griffen welche von der Schar zu und verrichteten die Arbeit beim Schein ihrer Fackeln selbst. Butler sah nun unwillkürlich, in welche Hände er geraten war. Unter denen, die den Zug anzuführen schienen, fielen ihm einige auf, die nach Schifferart gekleidet waren; dann sah er Leute in langen Kaftanen und Schlapphüten; wieder andere waren wie Weiber gekleidet, doch stand hiermit weder ihre tiefe, rauhe Stimme noch ihre herkulische Gestalt im Einklange. Die Menge handelte augenscheinlich nach einem vorgefaßten festen Plane. Sie hatte bestimmte Zeichen und Signale vereinbart, man rief einander mit Namen, die sicher nicht den in den bürgerlichen Verhältnissen üblichen entsprachen, sondern nur für die vorstehende Gelegenheit geschaffen waren. Am meisten hörte Butler den Namen: Wildfire Wildfeuer (Die englische Form muß, späterer Wortspiele halber, beibehalten werden.), und merkte bald, daß er einem der wie Weiber gekleideten Männer gehörte . . .

Als Posten am westlichen Tore war ein kleiner Trupp zurückgelassen worden. Den Torwächtern wurde streng anbefohlen, keinen Fuß aus dem Schilderhause zu setzen und, sofern ihnen ihr Leben lieb sei, jeden Versuch zur Wiedernahme des Tores zu unterlassen. Dann ging es unter Trommelschlag durch die Straßen der Stadt dem Markte zu. Die Menge, die erst nur ein paar hundert Köpfe gezählt hatte, schwoll nun zu Tausenden an. Quer vor dem Ausgange der High-Street liegt das untere Bow-Tor, Edinburgs »Temple-Bar«, wie man es füglich nennen könnte, das die Stadt von Canongate, wie Temple-Bar London von Westminster, scheidet. Diesen Zugang in ihren Besitz zu bringen, war für die aufrührerische Menge von der größten Wichtigkeit, denn in Canongate lag zurzeit unter dem Kommando des Obristen Moyle ein Regiment Infanterie im Quartier, das die Stadt leicht hätte besetzen, mithin die Absicht der Ruhestörer vereiteln können, wenn es auf diesem Wege Zugang zur Stadt gefunden hätte. Es gelang jedoch, sich auch dieses Tores zu bemächtigen, und zwar mit ebensowenig Mühe, wie alle übrigen Tore. Auch hier wurde ein Trupp zurückgelassen, der Wichtigkeit des Platzes angemessen von größerer Stärke als an den übrigen.

Nun galt es, das Wachtlokal der Bürgergarde einzunehmen und sich in Besitz der dort befindlichen Waffen zu setzen. Da niemand in der Stadt solchen Aufruhr vermutet hatte, war es ziemlich schwach besetzt. Die davor befindliche Schildwache legte zwar ihre Muskete an und schrie der Menge ein drohendes Halt zu; aber das von Butler bereits mehrmals beobachtete Mannweib war mit einem Sprunge neben dem Soldaten, riß ihm die Muskete aus der Hand und warf ihn zu Boden. Wer sich von der Bürgergarde weiter zur Wehr setzte, erlitt dasselbe Schicksal, und verhältnismäßig leicht hatte der Pöbel die Wache in seinen Besitz gebracht. Die Gardisten wurden entwaffnet und heimgeschickt, und trotzdem sie bei Andrew Wilsons Hinrichtung auf das Volk geschossen hatten, wurde doch keinem einzigen von ihnen ein ernstliches Leid zugefügt; es hatte ganz den Anschein, als wolle das Volk sich an niemand vergreifen als allein an demjenigen, dem es alle ihm angetane Unbill beimessen zu sollen meinte.

Was man im Wachtlokale an Waffen vorfand, wurde nun unter die kühnsten der Schar verteilt. Bislang war von seiten der Anführer noch kein Wort gefallen über den eigentlichen Zweck, den die Meuterei verfolgte. Als aber nun alle Vorkehrungen getroffen waren, die ein Gelingen des gefaßten Planes zu verbürgen schienen, erscholl plötzlich der Donnerruf: »Nach dem Kerker! Zu Porteous! Zu Porteous!«

Noch immer erachtete es jedoch der eigentliche Anführer für geboten, keine Vorsicht außer acht zu lassen. Er stellte eine starke Abteilung den Buden gegenüber rechts und links der Straße auf, um den weiter vorn geschilderten Durchgang zu sperren, und ließ das ganze Stockhaus umzingeln, damit von keiner Seite etwas gegen die Menge unternommen werden könne.

Mittlerweile war aber Kunde von dem Aufruhr zu der Stadtobrigkeit gedrungen, und die Mitglieder derselben hatten sich in einem Gasthof zusammengefunden, um über die zum Schutze der Stadt und des Stockhauses zu ergreifenden Maßregeln zu beraten. Zunächst wandte man sich an die Zunftältesten, die jedoch rundweg erklärten, zur Rettung eines so allgemein verhaßten Menschen wie des Hauptmanns der Bürgergarde nichts tun zu können. Nun wurde auf einem Umwege der Kommandant der in Canongate quartierten Infanterie durch Boten in Kenntnis gesetzt; er weigerte sich aber, ohne eine schriftliche Order den ihm angesonnenen Sturm auf das untere Bowtor zu unternehmen; zu einer solchen wollte sich aber, erschreckt durch das Porteous drohende Schicksal, der Bürgermeister nicht bequemen. Ein weiterer Versuch, Hilfe von der Burg zu requirieren, scheiterte daran, daß die davor postierten Aufrührer niemand den Zugang gestatteten. Wer von den Stadtbewohnern sich auf die Straße hinaus wagte, wurde entweder festgehalten oder gezwungen, wieder in seine Wohnung zurückzukehren. Auf diese Weise geschah es, daß zu manchem »Spielchen« die nötigen Teilnehmer nicht zusammenkamen; denn auch keine Sänfte, damals in Edinburg das Verkehrsgerät der vornehmen Welt, durfte passieren, ungeachtet der glitzernden Lakaien mit leuchtenden Fackeln, von denen jede Sänfte umgeben war.

Nunmehr rückte ein auserlesener Trupp gegen das Stockhaus selbst vor und donnerte, Einlaß begehrend, gegen die Tore. Da sich der Schließer aber, sobald der Tumult anhob, mit seinen Schlüsseln aus dem Staube gemacht hatte, rückte und rührte sich nichts an den Toren. Alle Versuche, sie einzuschlagen, blieben fruchtlos, denn gegen die starken Eisenbeschläge der eichenen Flügel richtete kein Schmiedehammer, keine Brechstange etwas aus. Butler, der mit hergeschleppt worden war, verlor von den dröhnenden Schlägen der schweren Hämmer fast das Gehör. Er hoffte aber, die Wut des Volkes werde sich an diesem Hindernisse kühlen, wenn nicht mittlerweile von irgendwelcher Seite Hilfe herannahte. Zeitweilig gewann die Aussicht auf solche an Wahrscheinlichkeit. Die Ratsherren hatten nämlich ihre Dienstmannen und solche der Bürgerschaft zu sich herangezogen, die noch nicht allen Mut verloren hatten, sich gegen das drohende Ungewitter aufzulehnen, und rückten nun von dem Wirtshause, wo sie ihre Beratung gepflogen, gegen das Stockhaus vor. Dienstmannen mit Fackeln in der Hand geleiteten einen Herold vor die aufrührerische Menge, um ihr das Aufruhrgesetz zu Gemüte führen zu lassen. Als sie aber den um den Durchgang herum befindlichen Buden sich näherten, wurden sie mit Steinwürfen zurückgetrieben. Ein Ratsdiener war so mutig, einen aus dem Haufen zu packen und ihm die Muskete aus der Hand zu reißen. Da ihn seine Kameraden jedoch im Stiche ließen, wurde er auf der Stelle zu Boden gerissen und entwaffnet; aber auch gegen ihn unternahm die Menge nichts weiter, sondern ließ ihn laufen. Die Ratsherren machten zwar noch verschiedene Versuche, sich Gehör zu verschaffen, mußten zuletzt aber einsehen, daß hier alles umsonst sei, und daß ihnen, wenn sie ihr Leben nicht gefährden wollten, nichts anderes übrig bliebe, als den Aufrührern das Feld zu lassen.

Besser hielt sich noch immer das Stockhaus selbst, denn seine Tore widerstanden allen Versuchen einer gewaltsamen Oeffnung. Das Getöse der schweren Hämmer, die nach wie vor gegen das Portal schmetterten, mußte bis zur Burg hinauf dringen und die Besatzung derselben alarmieren, und nicht lange, so ging unter der Menge das Gerede, es wären Soldaten von dorther im Anmarsche, ja sogar Geschütze würden aufgefahren, sie auseinander zu treiben.

Was zunächst durch solches Gerücht bewirkt wurde, war, daß die Menge ihre Angriffe auf die Kerkertore mit verstärktem Eifer ausführte. Aber sie leisteten nach wie vor Widerstand. Da ertönte der Ruf aus der Menge: »Feuer! Feuer!« und nun wurde Teer in Tonnen zur Stelle geschafft. Nicht lange, so schlug die Lohe an dem Tore empor, das Feuer wurde mit allen nur irgend erreichbaren Brennstoffen gespeist, und bald verkündete wildes Geschrei, daß das Tor zu brennen anfange und bald keinen Widerstand mehr leisten werde.

Der Flammenschein traf die wilden Gesichter der den Platz füllenden Menge und die bleichen, von Angst verzerrten Gesichter der in den Häuserfenstern liegenden Bürger. Da kam ein anderer Ruf: »Die Tür kracht!« Das Feuer wurde gedämpft, der Brand gelöscht, aber die Rasenden sprangen über die Glut hinweg in das Stockhaus hinein, daß die Funken hochstoben . . und nun ward es Butler zur grausen Gewißheit, daß der unglückliche Hauptmann Porteous der Wut des Edinburger Pöbels verfallen sei, und daß keine Macht ihn mehr werde retten können.


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