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Hauptmann Porteous hatte die verschiedensten Stimmungen an diesem Tage durchlebt: erst hatte er es nicht für möglich gehalten, daß, nachdem das Schwurgericht das Todesurteil über ihn verhängt, die Staatsregierung zu seinen Gunsten intervenieren werde, und weidlich Trübsal geblasen; als ihm aber die Nachricht gebracht wurde, daß dieser Fall doch eingetreten sei, hatte sich wilde Freude seines Herzens bemächtigt und er wiegte sich in der Hoffnung, seiner Begnadigung überhaupt sicher zu sein. Manche aber, die es wirklich gut mit ihm meinten, hatten aus dem eigentümlichen Verhalten des Volkes bei Verkündigung des Urteilsaufschubs auf ganz andere Dinge geschlossen und dem Freunde geraten, ohne Säumen die vorgesetzte Behörde um Ueberführung nach der Burg zu ersuchen. Porteous aber, der niemals eine hohe Meinung von dem Mut und der Energie eines städtischen Pöbels gehabt hatte, hielt jeden Versuch, gegen das feste Stockhaus einen Angriff zu unternehmen, für ein Unding und erklärte, da bleiben zu wollen, wohin man ihn wider Recht und Gesetz gesteckt habe. Er verlebte den für ihn so glücklichen Tag in dulci jubilo, gab seinen guten Bekannten zur Feier desselben einen fulminanten Schmaus und hatte nicht ermangelt, sich hierbei einen tüchtigen Rausch anzutrinken. In diese Fidelitas hinein, an der sich auch der Gefängnisinspektor, ein alter guter Freund des ehemaligen Hauptmanns der Bürgergarde, beteiligte, schallte plötzlich von der Straße herauf das wilde Geschrei der aufrührerischen Menge. Gleich darauf erschien der Schließer mit der Kunde, daß sich der Pöbel aller Stadttore, wie auch des Wachtlokals der Bürgergarde bemächtigt habe und nun das Stockhaustor einzuschlagen versuche. Vielleicht wäre es auch jetzt noch dem unglücklichen Hauptmanne möglich gewesen, sich zu retten, wenn er sich hätte entschließen können, mit seinen Zechkumpanen in einer geschickten Verkleidung zu entfliehen. Aber er konnte sich zu keinem Entschlusse aufraffen, und seine Bekannten und Freunde suchten so schnell wie möglich die eigene Haut in Sicherheit zu bringen. Da war draußen wieder plötzlich Ruhe eingetreten, und Porteous hatte sich ein paar Augenblicke in der Zuversicht gewiegt, daß von irgend einer Seite her Militär gegen den Pöbel im Anrücken befindlich sei und ihn befreien werde. Bald aber belehrte ihn der Feuerschein eines andern, freilich nicht Besseren. Jetzt blieb ihm bloß ein Weg noch zur Flucht, der durch den Kamin. Er zauderte nicht, wurde aber bald inne, daß ihm die eisernen Gitter, die in den Schornsteinen von Gefängnissen eingesetzt werden, den Häftlingen den Ausbruch zu erschweren, das Emporklimmen unmöglich machten. Da aber der Lärm von Schritten auf den Gängen verriet, daß die Menge bereits in das Stockhaus eingedrungen sei, suchte er sich wenigstens an den Gittern festzuhalten und so zu verbergen. Es war der Strohhalm, an den sich der Ertrinkende klammert!
Bald erhellte Fackelschein seine Zelle, die durch ein paar Sträflinge den Aufrührern verraten worden war, und nicht lange währte es, so hatten ihn seine Verfolger aus seinem Schlupfwinkel gezerrt und schleppten ihn unter dem Johlen der Menge die Treppe hinunter auf die Straße. Hier richtete sich mehr denn eine Muskete auf ihn; aber der als Mannweib kostümierte Verschworene, der schon mehrfach Butlers Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, rief: »Musketen weg! Seid ihr verrückt, Kerle? An dem Orte soll der Wicht vom Leben zum Tode gebracht werden, wo er das Blut sovieler Kameraden von uns freventlich vergossen hat!«
Wildes Beifallsgeschrei lohnte dem Redner, und von allen Seiten her erscholl jetzt der Ruf: »Zum Galgen! Zum Galgen! Auf den Grasmarkt mit dem Mörder!«
»Daß ihm keiner was antue!« fuhr der Anführer fort; »wenn er kann, soll er seine Rechnung mit dem Himmel machen. Durch uns soll seine Seele nicht mit dem Leibe verderben.«
»Hat er besseren Menschen Zeit dazu gelassen?« rief ein anderer aus der Menge; »wozu sollen wir ihm was Besonderes vergönnen?«
Aber die Meinung des ersten gewann die Oberhand; dem Hauptmann wurde anbefohlen, seinen letzten Willen aufzusetzen, und ein schuldenhalber im Stockhaus sitzender Kaufmann übernahm das Schriftstück zur Besorgung an die Behörde. Den übrigen Arrestanten wurde erlaubt zu fliehen, und natürlich ließ sich keiner dazu nötigen: manche schlossen sich mit Jubel dem Haufen der Aufrührer an, andere suchten auf Nebenwegen bekannte Schlupfwinkel und Diebshöhlen zu erreichen, wo sie sich besser aufgehoben dünkten; im Stockhause blieben nur zwei zurück: ein Mann von etwa fünfzig und ein Mädchen von etwa achtzehn Jahren. Beide wurden wiederholt aufgefordert, mitzufliehen; der Mann aber sagte, er habe es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, das alte Handwerk an den Nagel zu hängen und ein ehrlicher Mensch zu werden. . .Es half auch nichts, daß ihm einer, der zu seinen engeren Bekannten gehören mochte, sagte: »Bist ein Esel, Willie; wenn Du bleibst, so mußt Du baumeln!« Er blieb bei seinem Vorsatze und ging in die Zelle zurück.
Der Herkules in Weiberkleidern gab sich alle erdenkliche Mühe, das Mädchen zur Flucht zu bestimmen. . . »Komm mit, Effie, komm mit!« rief er ihr zu. Aber sie sah ihn verwundert an; Furcht, Liebe, Tadel, Schmerz sprachen zugleich aus ihrem Blicke. »Komm mit, Effie!« sagte er noch einmal, »bei allem, was Dir lieb und teuer ist, beschwöre ich Dich, komm mit!« Aber sie konnte kein Wort der Erwiderung finden, nur ihr Auge starrte auf den Mann, so lange er vor ihr stand und in sie drang, zu fliehen. . .
Da scholl wilder Lärm von unten herauf . . dann der Name: »Madge Wildfire! Madge Wildfire!« – Mit fliegender Hast raunte der, dem der Ruf galt, dem Mädchen nochmals zu: »Effie, komm mit! bei allem, was Dir lieb und teuer ist! um Deinet-, um meinetwillen, komm mit!« Sie schüttelte den Kopf . . »Effie!« rief er noch einmal, »sie hängen Dich! sie hängen Dich!«
Verwundert, verstört, blickte sie ihm nach . . »Besser so,« sprach sie leise vor sich hin, den Kopf auf die Hand stützend, »der gute Name ist doch einmal hin!« Ohne des Lärms zu achten, der noch immer um sie her tobte, blieb sie, bewegungslos wie eine Bildsäule, sitzen.
Die Menge zog zum Grasmarkte, mit ihrem unglücklichen Opfer in der Mitte . . »Fünfhundert Pfund sollt Ihr haben,« raunte Porteous dem an seiner Seite befindlichen Wildfire zu, »wenn Ihr mich aus der Patsche rettet.«
Den krampfhaften Händedruck des Unglücklichen zurückgebend, versetzte Wildfire: »Nicht Zentner geprägten Goldes können Euch lösen, Porteous. Gedenket Andrew Wilsons!«
Ein paar Minuten lang war es still zwischen den beiden. Dann setzte Wildfire hinzu: »Macht Eure Rechnung mit dem Himmel, Hauptmann! . . Wo ist der Pfaffe?«
Butler, bislang unfern dem Kerkertore zwischen Furcht und Entsetzen festgehalten, wurde herbeigeführt. Wildfire gebot ihm, an die Seite des Gefangenen zu treten. Butler richtete die Bitte an die Aufrührer, ihr schlimmes Tun zu bedenken . . »Ihr seid nicht Richter dieses Mannes,« sprach er, »nicht bei Euch ist es, über Leben und Tod eines Eurer Mitmenschen zu entscheiden, und mag er den Tod auch zehnmal verdient haben. Im Namen Dessen, der die Gnade in Person ist, tauchet nicht Eure Hände in das Blut dieses Unglücklichen, sondern laßt ihm Gnade widerfahren! Vergeßt nicht, daß Ihr im Begriffe steht, das gleiche Verbrechen zu begehen, das Ihr Euch zu rächen anschickt.«
Einer aus dem Haufen schrie: »Macht, daß Ihr mit Euren Wischiwaschi zu Ende kommt! Das könnt Ihr Euch auf der Kanzel leisten, aber nicht hier unter freiem Himmel . . Oder wollt Ihr, daß wir Euch zusammen mit dem Hauptmanne aufknüpfen?«
»Ruhig!« rief Wildfire; »laßt den Mann reden! was tut er anders, als was sein Gewissen ihm vorschreibt! Mir ist er nicht minder lieb darum.« Darauf wandte er sich an Butler: »Wir haben Euch ruhig angehört, aber das merket Euch: eher könnt Ihr die Steinwände des Stockhauses zum Wanken bringen als uns in unserm Entschlusse . . Blut fordert Blut. Und daß Porteous den Tod erleide, haben wir uns mit tausend Eiden geschworen. Verdient hat er ihn reichlich. Darum sparet Eure Worte und bereitet ihn auf das Ende vor! Wir haben nicht viel Zeit mehr.«
Der Hauptmann hatte sich, um leichter durch den Schornstein zu entkommen, Rock und Schuhe ausgezogen. Man hatte ihm erlaubt, in den Schlafrock zu fahren, und so wurde er auf die kreuzweis übereinander gelegten Hände zweier Aufrührer gesetzt – »das Kissen des Königs«, wie es in Schottland heißt – Butler wurde von neuem aufgefordert, dem Todeskandidaten den letzten Trost zu spenden: eine durch die seltsamen Umstände, die ihn hierher geführt hatten, für ihn doppelt traurige Obliegenheit. Porteous machte nun selbst einen Versuch, die Gemüter seiner Henker zur Gnade zu stimmen. Als er aber erkannte, daß solches Mühen vergeblich sei, gewann er rasch seine Fassung, denn sein militärischer Sinn sträubte sich gegen jede Schwäche.
»Seid Ihr vorbereitet auf solch schreckliches Ende?« fragte ihn Butler mit zitternder Stimme . . »O, wendet Euch zu Ihm, der Zeit und Raum nicht kennt, vor Dem eine Minute als Leben, und ein Leben als Minute gilt.«
»Was Ihr sagen wollt, weiß ich,« versetzte Porteous, »aber ich bin Soldat und habe als solcher ein Leben hinter mir . . Mögen meine Sünden und mein Blut über diejenigen kommen, die mich vor der Zeit vom Leben zum Tode bringen!«
»Und wer war es,« fragte mit ernster Stimme Wildfire, »der hier an diesem selben Orte dem unglücklichen Wilson, als er durch die marternden Fesseln am Beten verhindert war, die höhnischen Worte zurief, es lohne sich nicht mehr, denn es würde ja doch bald mit ihm vorüber sein? . . Ist es Euch nicht möglich, aus den ermahnenden Worten dieses Herrn Nutzen für Eure Seele zu ziehen, so schleudert wenigstens nicht Vorwürfe wider die, so milder mit Euch verfahren als Ihr mit andern verfuhret!«
Man hatte den Richtplatz erreicht. Langsam und ernst, unter dem Geleit von Fackelträgern, bewegte der Zug sich, noch immer mit dem über die Menge ragenden unglücklichen Opfer in der Mitte, der Stelle zu, wo der Galgen zu stehen pflegte. Ihn selbst aus dem Schuppen des Stadthauses zu holen, war nicht rätlich, denn es wäre darüber zuviel Zeit verstrichen. So brach man die Bude eines Seilers auf und raubte ein Tau daraus, ließ aber eine Guinee dafür auf dem Ladentische zurück. Hierauf grub man ein Loch, in das ein Pfahl gerammt wurde. Noch einmal versuchte Butler, uneingedenk der eigenen Sicherheit, das Volk zur Milde zu stimmen und von seinem schrecklichen Beginnen zurückzuhalten. Auch der Hauptmann richtete ein paar Worte an die Menge . . »Ich bin kein Mörder,« rief er, »ich handelte nur in dem mir zuerteilten Amte . .« – »An den Galgen! an den Galgen!« schrie die rasende Menge.
Butler wurde beiseite gestoßen, und ohne sich um die Richtung zu kümmern, die ihm der Zufall wies, floh er wie besessen von dieser Stätte des Grauens . . Bald vernahm er ein wildes Johlen, und als er nun voll Entsetzen hinter sich blickte, sah er im grellen Fackelschein, hoch über der Menge, eine menschliche Gestalt baumeln . . Wie von Furien gejagt, rannte er die Straße hinunter, in der er sich befand, dem Tore zu. Es war noch verschlossen, denn es gehörte zu denjenigen, die die Aufrührer in ihren Besitz gebracht hatten. Eine Stunde lang rannte er davor hin und her, ehe er sich getraute, die Wächter zu rufen. Wohl waren sie wieder in Freiheit gesetzt, aber es traute sich keiner, seinen Wunsch, das Tor zu öffnen, zu erfüllen. Erst als er sagte, er sei Geistlicher, entschlossen sie sich dazu.
»Jawohl, ich kenne ihn,« sagte einer von ihnen: »ich hab ihn in Haddeshole predigen hören und kann mir denken, welch grause Predigt er heut nacht gehalten haben mag . . Gott verzeih es ihm!«
Zuerst wollte er in sein Dorf zurückkehren. Dann aber kamen ihm allerhand Gedanken anderer Art, die ihn bestimmten, noch in der Nähe der Stadt, in der er heute soviel Schreckliches erlebt, zu bleiben.
Er sah viele Menschen an sich vorüberstreichen, während er die letzten Nachtstunden hier zubrachte, und aus ihrer Hast wie ihrem leisen Flüstern ließ sich merken, daß sie bei dem grausen Ereignis beteiligt gewesen waren.
Bezeichnend für dasselbe war das schnelle Verlaufen der Menge, als sie ihre Rache gestillt hatte. Bei gewöhnlichen Aufständen pflegt es sich in dieser Hinsicht anders zu verhalten, so lange der Pöbel den Erfolg für sich hat. Hier aber warfen die Leute, als sie sich überzeugt hatten, daß keine Spur von Leben mehr in ihrem Schlachtopfer vorhanden sei, die Waffen auf die Straße und am andern Morgen war außer diesen und dem baumelnden Leichnam von der schrecklichen Szene dieser schrecklichen Nacht nichts mehr zu gewahren.
Jetzt trat die Obrigkeit wieder in Funktion, rief Truppen in die Stadt und verhängte eine strenge Untersuchung, trotzdem es ihr noch schwül zu Mute war, wenn sie ihrer Ohnmacht gegen den aufsässigen Pöbel gedachte. Es erwies sich jedoch als unmöglich, auch nur den geringsten Anhalt über den Ursprung des verwegenen Anschlags und die wirklichen Rädelsführer zu finden, so lange und eifrig die Untersuchung auch betrieben wurde.