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Viertes Kapitel

Ohne für die Besichtigung des Tatorts Interesse zu verraten, ließ sich Lutz von Rademacher zuerst genauen Bericht erstatten. Er unterbrach den Kommissar durch keine Zwischenfrage, saß, die Arme über der Brust verschränkt, ruhig auf seinem Stuhl, nur seine lebhaften Augen bekundeten das Interesse, das er an Rademachers Vortrag nahm.

Nachdem der Kommissar seinen Bericht beendet hatte, verharrte Lutz noch mindestens eine halbe Minute in starrem Schweigen, dann erhob er sich lebhaft, fast wie ein wenig brüsk, und sagte:

»Wir haben keine Zeit zu verlieren, meine Herren. Der Vorfall dürfte sich als eines der raffiniertesten und wohlausgeklügeltsten Verbrechen entpuppen, die in den Annalen der modernen Kriminalgeschichte verzeichnet sind.«

»Sie zweifeln also nicht, daß ein Verbrechen vorliegt?« fragte Rademacher.

»Ich werde Ihnen sofort den Beweis liefern. Gestatten Sie, Herr Vorsteher?« und ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff Lutz den Hörer des Telephons, das vor ihm auf dem Dienstschreibtisch des Bahnhofsvorstandes stand.

Das Amt meldete sich. »Bitte, Fräulein,« sagte Lutz liebenswürdig, »verbinden Sie mich sofort mit Ihrer Telegraphenabteilung. Hier ist die Fahndungsabteilung der Frankfurter Kriminalpolizei.«

Kaum eine Sekunde später meldete sich die Friedberger Telephon- und Telegraphenzentrale.

Rademacher ergriff auf einen Wink Lutz' den zweiten Hörer.

Lutz führte das Gespräch. »Sie haben wohl schon von dem Vorfall gehört,« fragte er, »der sich vor einer Stunde hier im D-Zug nach Hamburg abgespielt hat?«

»Jawohl, gewiß, das ganze Amt spricht davon.«

»Hier ist Dr. Lutz im Aufträge des Frankfurter Polizeipräsidiums, Abteilung 7, ich wollte nur eine Frage an Sie richten. Sie wissen vielleicht, daß der Unglückliche ums Leben kam, im Augenblick, als er eine Depesche in Empfang nahm, die ihm einer Ihrer Beamten an den Zug brachte. Kann ich diesen Beamten sprechen?«

»Einen Moment, bitte. – Bleiben Sie am Apparat.«

Lutz und Rademacher warteten am Telephon, man vernahm nichts, als das dumpfe Surren in der Leitung und das leise knatternde Geräusch des Apparates.

Jetzt meldete sich der Vorsteher wieder. »Ich kann Ihrem Wunsche leider nicht entsprechen, Herr Doktor,« sagte er, »denn vom Friedberger Amt wurde kein Telegramm an den D-Zug bestellt.«

»Das wissen Sie ganz bestimmt?«

»Aber sicher, Herr Doktor, keiner unserer Beamten hat heute ein D-Zugtelegramm bestellt.«

»Mehr wollte ich nicht wissen, ich danke Ihnen bestens.«

Als Lutz den Hörer einhängte, sah ihn Rademacher mit einem vielsagenden Blick an. »Donnerwetter!« war alles, was er hervorbrachte.

Lutz lächelte nur.

»Die Auskunft überrascht mich nicht. Ich habe dieses Ergebnis nicht nur vermutet, sondern bestimmt vorausgesehen.«

»Dann scheint der Mord allerdings erwiesen.«

Lutz nickte. »Verstehen Sie jetzt den Hergang des Unglücksfalls, begreifen Sie nun, daß mindestens drei Leute an der Arbeit waren, den Unglücklichen um die Ecke zu bringen?«

»Drei?!«

»Jawohl, mindestens drei. Der Pseudotelegraphenbote, der mit einem fingierten Telegramm den Mann ans Fenster lockte, der Haupttäter, der ihn von irgend einem versteckten Orte aus erschoß und die mysteriöse Frauensperson, die sich jammernd über das Opfer warf, um ihm erstens die kompromittierende Depesche wegzunehmen und wahrscheinlich auch alle anderen Ausweispapiere, Brieftasche pp. zu entfernen, um die Feststellung der Identität zu erschweren. Schade, daß die Frau durch die Lappen ging. Wurde denn nicht sofort nach ihr gesucht?«

»Gewiß, sehr eingehend,« erklärte der Bahnhofsvorstand, »das heißt,« fügte er hinzu, »um ehrlich zu sein, so eingehend, wie es nach der Lage der Dinge möglich war. Vergessen Sie nicht, Herr Doktor, daß wir uns alle in einer begreiflichen Aufregung befanden, daß ich des weiteren für eine möglichst pünktliche Abfertigung des Zuges verantwortlich war und mich nicht allzu lange mit dem Frauenzimmer aufhalten konnte, außerdem war der Zudrang der zahlreichen Neugierigen ein derart starker, daß ich alle Hände voll zu tun hatte, um den Wagen, der sofort abgekuppelt wurde, vorschriftsmäßig räumen zu lassen.«

»Der Zug kann die Frau aber doch nicht verschlungen haben,« warf Rademacher ein.

»Nein, gewiß nicht, ich kann mir nur denken, daß sie in der Aufregung und dem Gewühl, als sich niemand um sie kümmerte, das Weite gesucht hat und durch die Unterführung unangefochten das Bahnhofsgebäude verlassen konnte.«

»Sie irren,« sagte Lutz ruhig. »Die Frau hat meines Erachtens weder die Unterführung benutzt, noch den Bahnhof verlassen, wenigstens nicht zu Fuß.«

»Sie meinen?«

»Nein, ich vermute, aber ich glaube mich nicht zu irren. Der Personenzug nach Cassel stand auf dem Nebengeleis direkt hinter dem D-Zug, nicht wahr?«

»Jawohl, Herr Doktor!«

»Da liegt doch die Annahme nahe, – vergessen Sie nicht, daß das Verbrechen anscheinend bis auf die kleinsten Einzelheiten vorher ausgedacht wurde, – daß sie den D-Zug auf der falschen Seite verlassen und den Personenzug bestiegen hat, mit dem sie dann unangefochten nach Norden dampfte.«

»Zum Teufel, ja, das kann sein – es muß so sein. Vielleicht könnte ein Bahntelegramm die Festnahme der Frau noch bewirken?«

»Vergebene Liebesmüh,« wehrte Lutz dem eifrigen Beamten, der bereits nach einem Telegrammformular gegriffen hatte, lächelnd ab –

»Die ist bereits in Gießen ausgestiegen, hat dort die Kleidung gewechselt und ist, falls sie überhaupt nach Norden weiter fuhr, für uns nicht mehr zu erreichen, wenigstens im Augenblick nicht. Wir haben hier auch wichtigere Fragen zu lösen. Ueber die Tatsache, daß ein Verbrechen vorliegt, sind wir uns wohl im Klaren, jetzt erhebt sich die erste Frage, wer ist der Täter, und mit welcher Waffe wurde der Mord verübt, außerdem von wo ist der Schuß gefallen? Weiter, welches sind die Motive zu dem Verbrechen und wer ist überhaupt der Ermordete? Ob wir alle Fragen restlos beantworten können, weiß ich noch nicht, aber auf einen Teil wird nach Besichtigung des Tatortes die Antwort gegeben werden können. Jetzt bitte ich Sie alle, mit mir nach dem Wagen zu kommen, auch Sie, meine Damen. – Sie, Herr Vorsteher, wollen mir vorher ungefähr die Stelle zeigen, wo der D-Zugwagen gehalten hat, als sich die Tragödie abspielte.«

Bei diesen Worten griff Lutz schnell nach seiner Mütze und eilte, ohne sich um seine Begleiter zu kümmern, leichtfüßig über die Geleise nach dem Bahnsteig 2, wo die Züge aus der Richtung Frankfurt a/Main einfuhren. Er hatte, wie in jedem Kriminalfall, den er in die Hand nahm, auch hier nach wenigen Minuten die Führung ergriffen, und die anderen, vor allem die amtlichen Polizeiorgane, folgten ihm ohne ein Wort der Widerrede, vielleicht halb unbewußt, weil sie sich eben dem Genie gerne unterordneten.


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