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Kommissar Rademacher stand im Dienstzimmer des Bahnhofsvorstandes von Friedberg. Neben ihm am Schreibtisch saß Muschal, mehrere Bogen Konzeptpapier vor sich, außerdem waren sämtliche Zeugen, wie die beiden Frauen, ein Friedberger Bahnbeamter, der sich zufällig zur Zeit des mysteriösen Vorfalls auf dem Bahnsteig aufgehalten hatte, der Polizist und der Vorsteher selbst, anwesend.
Rademacher fühlte sich. Derartige Ermittlungen, wo er außerhalb Frankfurts selbständig arbeiten und gewissermaßen als Repräsentant der vortrefflich organisierten Frankfurter Großstadtpolizei auftreten konnte, schmeichelten seinem Ehrgeiz.
Er war ein korrekter Beamter, dessen Fähigkeiten den Durchschnitt aber nicht überragten und vielleicht gerade deshalb legte er stets auf die äußere Betonung seiner Stellung den allergrößten Wert. Dem Friedberger Polizeikommissar, der wenige Minuten nach dem Verbrechen in Uniform erschienen war, imponierte die Sicherheit seines Kollegen außerordentlich, und der bei Entdeckung des Vorfalls zugezogene Schutzmann erstarb beinahe vor Hochachtung gegenüber der Routine und Tüchtigkeit des Frankfurter Kommissars. Muschal hingegen gähnte ein wenig gelangweilt hinter der vorgehaltenen Hand. Sein leerer Magen knurrte bedenklich und er dachte in wehmütiger Stimmung an sein Frühstück, das er in wohlerwogener Voraussicht vor der Abreise eingesteckt hatte, das in der Tasche seines Havelocks jedoch nicht den guten und nützlichen Zweck erfüllte, der ihm zugedacht war. Zudem wollte Rademacher auch mit seinen langweiligen Ermittlungen nicht fertig werden. Er hatte die Zeugen, soweit sie noch erreichbar waren, der Reihe nach eingehend verhört, und nun wandte er sich in einem etwas gönnerhaftem Tone an den Friedberger Kommissar.
»Verehrter Herr Kollege, der Fall ist soweit klar und doch wieder nicht. Eine Diagnose, wie es in der Medizin heißt, kann ich eigentlich noch nicht stellen, ich muß erst selbst darüber klar sein, ob es sich hier um ein Verbrechen oder um einen Unglücksfall handelt. –«
»Ich nehme an, ein Verbrechen,« wandte der Friedberger Kommissar bescheiden ein.
»Gewiß, ich vertrete diese Ansicht auch, und dennoch fehlt uns hierzu eigentlich noch jeder Beweis. – Voreilige Schlüsse fasse ich aber grundsätzlich nicht, man verrennt sich in einer Sackgasse, aus der ein Herauskommen dann immer außerordentlich schwierig ist.«
»Natürlich – jawohl,« bekräftigte der Friedberger Kommissar.
»Was wir wissen«, fuhr Rademacher, lächelnd über den Eifer des Kollegen fort, »ist folgendes: Ich betone – was wir als einwandfrei bewiesene Tatsache festgestellt haben. – Ein Mann wird mit einem Kugelloch in der Stirne im D-Zug tot aufgefunden. Einen Schuß hat aber seltsamerweise niemand gehört. Die Identität des Mannes festzustellen ist vorerst unmöglich gewesen, er besitzt weder Legitimationspapiere, noch Gepäckstücke, die über ihn Aufschluß geben könnten, noch eine Fahrkarte. Eine Frau, die durch ihr Benehmen dokumentierte, daß sie dem Toten nahesteht, ist verschwunden, bevor eine Vernehmung möglich war. Das Letztere ist mehr als seltsam, Herr Kollege! Sagen Sie mal, Frau ..., wie war doch Ihr Name?«
»Westermann, Gertrude Westermann«, erwiderte die angesprochene ältere Frau.
»Bitte schön, Frau Westermann. Sie haben mit dem Toten vorher wohl nicht gesprochen?«
»Nein, Herr Kommissar. Er befand sich bereits im Abteil, als wir beide, meine Nichte und ich, eintraten und las die Zeitung.«
»Hm! Das Seltsamste ist das Benehmen jener Frau, die sich jammernd über den Toten warf, aber später, als es sich darum handelte, sie zu vernehmen, spurlos verschwunden war. – Können Sie eine Beschreibung dieser Frau geben?«
»Nein, ich war zu erregt, um auf die Frau zu achten.«
»Sie, Fräulein, haben die Frau auch nicht näher angesehen?«
»Nein, ich weiß nur, daß sie unauffällig dunkel gekleidet war, sie schien ziemlich klein und noch jung. –«
»Haben Sie den Namen verstanden, den der Depeschenbote aus dem Bahnsteig ausrief?«
»Nein, Herr Kommissar, ich wurde erst auf das Rufen aufmerksam, als unser Mitreisender an das Fenster trat. Wenige Sekunden später fiel er mit einem leisen Aechzen in den Wagen zurück und war tot – – erschossen – –«
»Pardon, verehrte Frau Westermann. Woraus schließen Sie, daß der Mann erschossen wurde?«, fragte Rademacher schnell.
»Ja – das – weiß – natürlich nicht – genau. –«, gab die Zeugin zögernd zu und fuhr fort, »ich meinte nur, ich nahm es vielmehr an, weil im gleichen Augenblick, als der Mann in den Wagen zurückfiel, die Fensterscheibe klirrte.«
»Sie haben aber keinen Schuß, keine Detonation gehört?«
»Nein, Herr Kommissar.«
»Die anderen auch nicht?«, wandte sich der Kommissar fragend an die Nichte der Zeugin und die Bahnbeamten.
»Nein,« erklärte der Vorstand für sich und seine Untergebenen.
»Hm –« brummte Rademacher und horchte dann gespannt nach dem offenen Fenster, das auf den Bahnhofsplatz führte.
Draußen vernahm man das Surren eines Autos, das vor dem Bahnhof hielt. Im Fond des Wagens saß ein älterer Herr, der im Wageninnern zurückblieb, während der Chauffeur, ein anscheinend noch jüngerer Mann, den Führersitz verließ und in den Bahnhof ging. –
Aber nicht diesem an und für sich selbstverständlichen und häufigen Vorgang, dem Vorfahren eines Autos, schenkte Rademacher seine Aufmerksamkeit, vielmehr wurde diese durch einige Detonationen wachgerufen, die schwach und weit aus der Ferne, wie ein verziehendes Gewitter herübertönten.
»Was bedeuten denn diese Detonationen?«, fragte er.
»Es sind Gewehrschüsse, Herr Kommissar«, erklärte der Polizist, anscheinend froh, auch etwas melden zu können. »Das erste Bataillon des hiesigen Infanterieregiments ist heute morgen zum Bataillonsscharfschießen nach dem Ockstädter Schießplatz abgerückt.« – In Rademacher's Gesicht zuckte ein scharfer Blitz auf.
»Aber Menschenskind!«, rief er aufspringend, »mit dieser Nachricht kommen Sie erst jetzt? – Wissen Sie, daß Sie mir mit dieser Mitteilung die Aufklärung des geheimnisvollen Vorgangs anhand geben, daß sich der Tod des Mannes jetzt klipp und klar als ein bedauerlicher Unfall erweist!«
Der Schutzmann machte ein dummes Gesicht und verstand nicht.
»Entschuldigen Sie«, warf der Friedberger Kommissar zögernd ein, »ich verstehe Sie auch, offengestanden, nicht recht.«
»Tscha«, lachte Rademacher. »Verehrter Herr Kollege, nachdenken, kombinieren –, in der Kriminalistik heißt es das Gehirn anstrengen und Schlußfolgerungen ziehen. Wissen Sie, wann die Schießübungen heute begonnen haben?«
»Vormittags 9 Uhr, Herr Kommissar«, erwiderte der Schutzmann. »Ich weiß es genau, weil mein Sohn Gefreiter bei der 2. Kompagnie ist.«
»Sehr schön – ausgezeichnet«, sagte Rademacher befriedigt.
»Erinnern Sie sich, meine Herren, daß alle Zeugen übereinstimmend aussagen, keine Schußdetonation gehört zu haben. Das stimmt doch wohl? Nicht?«
»Ja – gewiß, aber dennoch, ich verstehe nicht – –«
»Aber meine Herren, die Sache ist doch furchtbar einfach. Der arme Kerl, der drüben in seinem Blute liegt, und dessen Identität festzustellen keine Schwierigkeit bereiten darf, ist durch eine verirrte Kugel, die entweder über die Sandböschungen des Schießplatzes hinausflog, oder die Deckung durchschlug, getroffen worden, der Mord oder das Verbrechen, an das ich schon halb und halb glaubte, klärt sich dadurch meines Erachtens als ein für den Betroffenen allerdings bedauerlicher, aber im kriminalistischen Sinne harmloser Unglücksfall auf. Es gilt nun, die Nachforschungen zuerst auf die Möglichkeit –, ich möchte auf Grund meiner Vermutungen bereits sagen, Wahrscheinlichkeit – eines Unglücksfalles durch eine verirrte Mauserkugel auszudehnen. Die Annahme, daß wir uns irren besteht zwar, ein Verbrechen kann nach wie vor, wie ich vorsichtigerweise bemerken möchte, im Bereiche der Möglichkeit liegen, aber die Wahrscheinlichkeit, daß meine Vermutung das Richtige trifft – – – – –«
»– – – – – ist eine außerordentlich geringe, Herr Kommissar Rademacher!«
Dieser im scharfen Tone gegebene Einwurf ließ den Kommissar erstaunt aufblicken, die anderen im Zimmer befindlichen Personen drehten sich nach der Türe um, von wo aus der Zuruf ertönte.
Dort stand, eine dunkelbraune Ledermütze auf dem Kopf und eine breite Autobrille vor den Augen, der Chauffeur des vor wenigen Augenblicken angekommenen Kraftwagens und machte den Anwesenden eine lächelnde, beinahe ein wenig ironische Verbeugung. Rademacher hatte für den Humor des Eingedrungenen aber nicht das geringste Verständnis. Wütend trat er einige Schritte auf den Chauffeur zu und brüllte ihn an:
»Wie können Sie sich erfrechen, Herr – –!!, hier ins Zimmer einzudringen und eine Amtshandlung durch Ihren blödsinnigen Zuruf stören – –!!«
Der Angeredete sah dem Kommissar lächelnd in das rote Gesicht.
»Beruhigen Sie sich bitte, lieber Herr Rademacher«, sagte er höflich, »meine Worte sind mir nur so herausgefahren, ohne jede kränkende Nebenansicht für Sie. Ich bin auch nicht gewillt, mich gegen Ihren Willen in die amtliche Untersuchung einzumischen. Ich hörte in der Stadt von dem sensationellen Verbrechen und, da ich zufällig am Bahnhof vorbeifahren mußte, wollte ich Ihnen nur ›Guten Morgen‹ sagen. – Sonst nichts. –«
Der Kommissar wurde trotz seines Aergers ein wenig unsicher. »Guten Morgen sagen«, meinte er, »na ja schön – aber wer sind Sie eigentlich?«
Der Chauffeur stieß ein lustiges Lachen aus.
»Ach so, ich vergaß«, sagte er, »die Brille entstellt«, und mit einer leichten Handbewegung streifte er die Autobrille und einen kunstvoll an den Gläsern angebrachten kurzen Schnurrbart ab.
Ein lächelndes, noch junges Gesicht eines glattrasierten dunkelhaarigen, etwa dreißigjährigen Mannes wurde sichtbar, die großen dunkelblauen Augen hefteten sich mit einer leichten Ironie auf das Gesicht des erst verdutzt, dann aber freudig überraschten Kommissars.
»Dr. Lutz –!!!«, rief er aus, und reichte dem Eingetretenen herzlich die Hand. »An Sie hätte ich allerdings nicht gedacht. Wie kommen Sie hierher?«
»Mit dem Auto draußen«, antwortete Dr. Lutz. »Ich bin auf der Rückreise von Halle. Von dem Unglücksfall habe ich in der Stadt erfahren, auch gehört, daß Frankfurter Polizeibeamte zur Aufnahme des Tatbestandes hergefahren sind. Sie werden es mir daher kaum verübeln, wenn ich Interesse daran nahm, festzustellen, wer als Vertreter der Frankfurter Kriminalpolizei heute hier amtiert. Wenn Sie es jedoch krumm genommen haben, daß ich Ihre Untersuchung mit meinem Zuruf recht unhöflich unterbrochen habe – Sie wissen, ich pflege mitunter ein wenig laut zu denken – eine scheußliche Angewohnheit übrigens, – so bitte ich Sie hiermit formell um Entschuldigung –«
Rademachers Aerger war sofort verraucht.
»Aber ich bitte Sie, lieber Herr Doktor«, sagte er, »Sie sind selbstverständlich willkommen. Haben Sie eine Stunde Zeit, um bei den Ermittelungen anwesend zu sein, oder noch besser, dieselben selbst zu führen und in die Hand zu nehmen?«
»Ja –«, antwortete Dr. Lutz zögernd. »Zeit schon und Lust auch, denn ... mein lieber Rademacher, ehrlich gesagt, ich halte den Fall nach alledem, was ich bisher davon in Erfahrung gebracht habe, für durchaus nicht so einfach und klar, wie Sie anzunehmen belieben. Sie beschreiten einen grundfalschen Weg, wenn Sie das Militär für den sogenannten Unfall, der sich wahrscheinlich als ein ganz ernstes Verbrechen entpuppt, verantwortlich machen wollen; ganz abgesehen davon, daß der wohllöbliche Kommiß Ihnen diese grundlose Verdächtigung verdammt übelnehmen dürfte. Uebrigens Servus Muschal, Sie habe ich noch garnicht gesehen.«
Der Angeredete nahm die schlanke, wohlgepflegte Hand Lutz' respektvoll in seine breite Pranke, während die übrigen Anwesenden den berühmten Detektiv mit einem Gemisch von Neugier und Hochachtung, mehr oder weniger unauffällig neugierig musterten.
Rademacher legte den Bleistift, den er während des bisherigen Verhörs spielend in der Rechten gehalten hatte, auf den Tisch und trat auf Lutz zu.
»Ich halte es für einen glücklichen Zufall, daß Sie gerade im rechten Moment durch Friedberg kamen und wäre Ihnen herzlich dankbar, wenn Sie mir bei der Ermittlung des Tatbestandes zur Hand gehen würden.
Wenn nämlich die Geschichte mit der verirrten Militärkugel nicht zutrifft, und nach einigem Ueberlegen neige ich jetzt selbst zu der Ansicht, daß sie nicht zutreffen kann, dann entpuppt sich der Fall tatsächlich als eines der sensationellsten Verbrechen, das mir in den letzten Jahren unter die Hände gekommen ist«, dann fuhr er mit gedämpfter Stimme fort, indem er Lutz ein wenig zur Seite nahm: »Ich habe mich vor einigen Monaten mit dem Fall de Ruyter in Homburg derart blamiert, daß ich es für ratsam halte, mich ohne langes Ueberlegen Ihrer Meinung zu unterwerfen. – Gehört der Herr, der draußen im Wagen sitzt, auch zum Fach?«
»Nein, Donnerwetter,« rief Lutz aus, »Sie erinnern mich an ihn zur rechten Zeit. Es ist ein Bekannter, den ich aus Gefälligkeit ab Weimar in meinem Privatwagen mitgenommen habe und der heute vormittag unbedingt in Frankfurt sein muß. – »Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Rademacher. Sie lassen den Herrn durch Ihren Kraftfahrer – ich sehe, daß Sie mit dem Frankfurter Dienstauto gekommen sind – nach Frankfurt zurückfahren. Der Kraftfahrer kann dort bleiben und gleichzeitig Inspektor Fischer melden, daß ich hier die Untersuchung in die Hand genommen habe. Ich selbst steuere Sie dann persönlich mit dem Dienstwagen nach Hause, sobald die Friedberger Untersuchung soweit abgeschlossen ist, daß wir sie beruhigt in die Hände der Staatsanwaltschaft legen können. Sind Sie einverstanden, Rademacher?«
»Mit tausend Freuden, lieber Doktor!«
»Gut, dann sind wir einig und jetzt ans Werk!«