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Zweites Kapitel

Die Abteilung 7 des Frankfurter Polizeipräsidiums bestand im Jahre 191. aus fünf miteinander verbundenen Räumen. Sie war in den Zimmern 317-321 im zweiten Stock des modernen Polizeipalastes an der Hohenzollernanlage untergebracht, als Vorsteher fungierte der inzwischen pensionierte Kriminalinspektor Fischer, im internen Dienste, um Verwechslungen mit einem gleichnamigen Kommissar der Sittenpolizei zu vermeiden, Fischer I genannt. Ihm waren für den Ermittlungsdienst einige 130-150 Beamte unterstellt, darunter die Kommissare Rademacher, von Klenck, Neumann, Reckenthien und Hieronymus, sowie die Wachtmeister Muschal, Haberland, Ringling, Müller III, Gerlach und Lautensack. Ein Teil der Beamten der Frankfurter Kriminalabteilung sind für die Leser meiner Romane bereits alte Bekannte, vor allem die Herren Rademacher und Muschal, mit denen wir unsere Geschichte am Morgen des 1. Juli anno domini 191. fortsetzen.

Rademacher erschien am fraglichen Tage ein wenig zu spät in seinem Dienstzimmer, das die bekannt nüchterne stereotype Aufmachung aller preußischen Diensträume aufwies. Billige Tannenmöbel, nicht viel wertvollere Oeldruckbilder der letzten preußischen Könige bezw. deutschen Kaiser, und selbstverständlich den obligaten Spucknapf aus weißem Email.

Sein Adlatus, Wachtmeister Muschal, der den Raum mit dem Kommissar teilte, erhob beim Eintritt seines Vorgesetzten den Kopf von seiner Schreibarbeit und begrüßte Rademacher mit jener respektvollen Vertraulichkeit, die das tägliche Zusammenarbeiten im Innen- und Außendienst mit der Zeit geschaffen hatte.

Rademacher schloß langsam und umständlich seine Schreibtischschubladen auf und fragte sein Gegenüber, während er Bleistifte und andere Bürorequisiten auf der Tischplatte ordnete:

»Na, Muschal – was Neues?!«

»Nischt – von Belang, Herr Kommissar. Hier eine kleine Anzeige; Betrugsversuch eines möblierten Herrn in der Fichardstraße, Fahrraddiebstahl in der Battonstraße, eine Messerstecherei in der Wirtschaft zum grünen Bock in der Saalgasse – – –«

»Tote –?«

»Nee. Nur ein Verwundeter, allerdings haben se ihm ne gehörige Abfuhr verpaßt. Er liegt im Heiligen Geist Krankenhaus in Frankfurt a. M. und ist noch nicht vernehmungsfähig. Uebrigens ist der Täter durch herbeigerufene Beamte des 37. Reviers verhaftet worden, nachdem ihn das Publikum vorher halbtot geprügelt hat. –«

»Gesund für ihn. Noch was?«

»Die Reviermeldungen sind noch nicht oben. Es ist hier nur noch 'ne gemeinsame Beschwerde einiger Geschäftsleute in der Fahrgasse, die sich über den Dirnenbetrieb dort beschweren. –«

»Geht uns nichts an. Geben Sie die Eingabe an die Sittenpolizei weiter.«

»Jawohl, Herr Kommissar, ich habe die Sache schon zur Weitergabe vorgemerkt, aber wenn ich Sie bitten dürfte, Herrn von Sinning von der Sittenpolizei – so gewissermaßen kollegial darauf aufmerksam zu machen, daß er dort mal mit fester Hand zugreifen läßt – –, es würde nichts schaden – –, Herr Kommissar. Denn – – unter uns gesagt – dort ist wirklich am hellichten Tag ein wahrer Schweinebetrieb – und dann – ich weiß zufällig – in der Fahrgasse wohnt ein Redakteur von der »Latern«, – und wenn erst das Gestänker in den Zeitungen losgeht, – dann haben wir wieder den Salat. Sie kennen doch den Alten! –«

»S'is gut, Muschal. Ich treffe Herrn von Sinning nachher beim Vortrag beim Regierungsrat und werd's ihm sagen. Sonst noch was?«

»Ja, Herr Kommissar!« Muschal verzog seinen Mund unter dem roten, borstigen Schnurrbart zu einem breiten Grinsen. »Die zwei Diebstahlssachen von vorgestern sind schon geklärt. Lautensack nahm gestern abend in einer Wirtschaft in der Schüppengasse einen alten Makkener Einbrecher. hoch hochnehmen = festnehmen., unterwegs versuchte der Kerl sein Klamoniß Diebswerkzeug. in einen Kanal zu planten. wegbringen. Doch Lautensack paßte auf und brachte mir den Kerl zum Verhör. Ich sagte ihm auf den Kopf zu, daß er und kein anderer das Ding in der Blücherstraße geschoben hatte. Natürlich, zuerst Leugnen; eine sofortige Durchsuchung seiner Bleibe Schlafstelle. förderte aber den größten Teil der gestohlenen Wäsche wieder zu Tage, schließlich schmußte er und gab sogar seinen Hehler an.«

»Wer ist denn der Hehler?«

»Der alte Heck in der Paradiesgasse.

Ich stieg Heck natürlich sofort aufs Dach. Und nun kommt das Allerschönste, ich fand bei ihm nicht nur den Rest der gestohlenen Wäsche, sondern auch eine große Anzahl englischer Kleiderstoffe. Vorgestern früh meldete die Firma Gebrüder Rosenthal, Kaiserstraße, einen schweren Einbruch, Stoffe im Wert von 40 000 Mark. Ich ließ durch den Schutzmann Heuser einen Angestellten der Firma Rosenthal herbeirufen – wie ich vermutet – es waren wirklich die gestohlenen Waren. – Heck drehte sich und wendete sich wie ein Aal, es nützte ihm nichts, erst vor 12 Tagen kam er aus dem Kittchen Kittchen = Gefängnis. und nun geht er schon wieder verschütt, verschütt gehen = eingesperrt werden. peinlich für ihn, sehr peinlich, aber gut für uns. – In einem schmierigen Heftchen fand ich die Namen einer ganzen Anzahl schwerer Brüder, zwei davon, den ›Kürassierwilhelm‹ und den ›Pastor‹, hab' ich mir gestern abend noch gelangt. Der ›Kürassierwilhelm‹ sitzt drüben, – zum Verhör bereit – er ist der Schränker Einbrecher. bei dem Stoffdiebstahl, er, und kein anderer. –«

Rademacher schmunzelte. »Dann lassen Sie den Kerl bitte gleich antreten, ich freue mich diebisch, meinen Landsmann Wilhelm wiederzusehen. Wie oft ist der Kerl wegen Schränken schon rückfällig?«

»Na – so sieben oder acht Mal. –«

Muschal hatte inzwischen durch das Telephon einen Befehl weitergegeben, den Inhaftierten vorzuführen.

»Ist der Alte schon da?« fragte Rademacher leise, als der Wachtmeister den Hörer eingehängt hatte.

»Ich weiß nicht,« erwiderte Muschal und sah unwillkürlich nach der Nebentür, die das Büro von dem Arbeitszimmer des Inspektor Fischer trennte. »Er wollte, wenn ich nicht irre, heute morgen mal zu Dr. Lutz 'rüber gehen. Er sprach wenigstens gestern davon. –«

»Dr. Lutz ist gar nicht in Frankfurt,« erwiderte der Kommissar und fuhr auf den fragenden Blick des Wachtmeisters fort, »ich habe gerade vorhin seinen Sekretär Roderich gesprochen. Lutz ist vorgestern mit seinem Auto, samt Chauffeur nach Köln gefahren und wird erst heute abend zurückerwartet.«

Es klopfte – und auf das Herein des Kommissars trat ein uniformierter Polizeibeamter ein, der einen großen, breitschultrigen Mann in mittleren Jahren eskortierte. Der Schutzmann blieb an der Türe stehen, während der Häftling mit einem halb verlegenen, halb vertraulichen Grinsen dem Kommissar eine linkische Verbeugung machte.

Dieser sah dem Mann freundlich lächelnd ins Gesicht und sagte gemütlich: »Morjen – Knettke – das is aber scheen, daß Se wieder mal zu mir kommen.«

Der mit Knettke Angeredete drückte seine Mütze zu einem unförmlichen Knäuel zusammen.

»Nu heer'n Se, Herr Kommissar,« sagte er »kommen is jut. Ihre Jreifer haben mer jestern hochjenommen, warum wees ick nich, sonst wär ick nich hier – von selbst such ick det Gymnasium Polizeiamt – Kriminalgefängnis. nich uff. Darauf können Se schwören.«

Rademacher wies, immer noch lachend, auf einen Stuhl, der so gestellt war, daß der auf ihm Platznehmende im hellen Licht des großen Fensters saß. »Nu setzen Se sich erst mal jemütlich, Knettke, ich weiß doch, was ich 'nem Landsmann schuldig bin, und dann erzählen Se, wie Se det Ding bei Rosenthal & Cie. geschoben haben, 's ist nur der Ordnung wegen. Personalien nehmen wir erst gar nicht lange auf, Knettke, wir kennen uns ja schon so gut. – Daß Se das Ding bei Rosenthal gedreht haben, wissen wir bereits, Heck, der Gannef Gauner. hat es gestern verslichent, verraten. also ich brauche nur der Ordnung halber noch Ihr Geständnis, dann ist die Sache erledigt.«

Der mit Knettke angeredete Dieb, welcher in Verbrecherkreisen den Spitznamen »Kürassierwilhelm« führte, weil er bei den Halberstädter Kürassieren gedient hatte, ließ den Kommissar, ohne auch nur Miene zu machen ihn zu unterbrechen, ruhig ausreden. Er wußte schon im voraus, daß er verloren war und gab sich gar nicht erst die Mühe, den Diebstahl zu leugnen, wie es überhaupt eine bekannte Tatsache ist, daß die Polizeibeamten mit den rückfälligen Verbrechern verhältnismäßig die wenigste Arbeit haben. Sobald sie einmal festgenommen sind und die Ueberzeugung gewonnen haben, daß ihr Vergehen oder Verbrechen doch nicht mehr abzuleugnen ist, lassen sie sich auf langes Schwindeln gar nicht mehr ein. Das Leugnen hatte keinen Zweck, denn verknurrt wurden sie schließlich doch, und es erschwerte nur unnütz die Situation. Knettke nahm es daher dem Kommissar auch gar nicht übel, daß seine Beamten ihm wieder einmal zu einem unfreiwilligen Quartier hinter schwedischen Gardinen verholfen hatten, das war Rademachers gutes Recht, und dazu war die Kriminalpolizei ja auch eigentlich da, aber der Hehler, dieser Schweinekerl von Heck, dieser Gauner, der für die ganze S'chore Diebsgut. einen Pachinen Kleinigkeit. zahlte und dann, sowie ihm das Messer an der Kehle stand, pfiff, dieser Lump sollte wenigstens auch gehörig dran glauben müssen, dem wollte er es diesesmal schon eintränken. –

»Herr Kommissar,« sagte er daher ruhig, »jut – ick hab's jetan. Warum soll ick's leugnen. Für meinen Dalles bin ick nich verantwortlich, arbeeten jehn kann ich nich, denn en alten Gannef wie mich, nimmt keener mehr in Arweet. Also schieben wir wieder Knast. Gefängnis. So een bis zwee Jemmchen Jahre. wer ick wieder uffjebrennt kriejen – nu scheen! Daran is nischt zu ändern. Aber det sag ick Ihnen, Herr Kommissar, sobald ick aus'm Kasten bin – bekommt der Heck meinen Kant Messer. zu schmecken, so wahr ick Willem Knettke heißen tu. Dem Jauner tränk ich's in. Verlassen Se sich druff. Und wenn's den Kopp kostet.«

»Das lassen Se man sin – Willem,« beschwichtigte der Kommissar in väterlichem Tone, der ein wenig unnatürlich wirkte, da der Verbrecher seinem Alter nach eigentlich der Vater des Kommissars sein konnte.

»Mit'm Messer arbeitet en anständiger Makkener Dieb. nich. Das lassen Se den andern zukommen, übrigens wird Heck voraussichtlich länger eingebuchtet werden, als Sie, denn er hat 'ne ganze Menge auf dem Kerbholz. Außer Ihrer Sache schwebt nämlich noch mehr gegen ihn.«

Knettke bemerkte den lauernden Blick des Kommissars nicht. Umso weniger, als dieser sofort wieder seine alte joviale Miene annahm.

»Dann is jut,« sagte er. »Darf ick vielleicht fragen, Herr Kommissar, wegen wat der Heck sonst noch hochjegangen is?«

»Na, beruhigen Sie sich Knettke – der hat allerlei ausgefressen – es genügt – ich kann Ihnen die Einzelheiten doch wirklich nich gut ausplaudern, seine drei Jemmchen sind ihm aber sicher.«

»Jut, Herr Kommissar, sowat zu heer'n, is en anjenehmet Gefiehl, dann will ick Ihnen aber noch en Tip jeben. Fragen Sie Heck mal, ob er nich weiß, wer die goldenen und silbernen Becher aus der katholischen Kirche in Mariabuchen verschärft verkauft. hat, fragen Se ooch mal, wo de Brilljanten, die se vorije Woche in de Beethovenstraße jeklaut ha'm, hinjekommen sin. Fragen Se ooch mal, – so janz nebenbei – nach der Jeschichte mit der roten Hanni, wo se neulich in Main an de Jerbermühle herausgefischt haben – ick will weiter nischt jesagt haben, Herr Kommissar, aber wenn ick durch den Lumpen vaschütt jeh, dann schon' ick den Kadetten nich, und wenn se'm olmusch Knast verpassen, lebenslänglich Zuchthaus. bei mir heert jetzt de Jemietlichkeit uf. – Ick war man immer zu jutmütig! –«

Rademacher hatte Muschal nur einen kurzen, kaum merkbaren Augenwink zugeworfen, dieser verstand und machte sich sofort die nötigen Notizen. Der Kürassierwilhelm erhob sich langsam und schwerfällig. »Haben Se sonst noch wat, Herr Kommissar?« sagte er. »Oder kann ick jetzt türmen?« Und ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Wenn Se mich noch en Gefallen tun wollen, Herr Kommissar, – Sie sehn doch, ick bin och en anstän'jer Kerl, wo Sie nich extra Arbeet verursacht, – dann lassen Se meine Kalle Geliebte. benachrichtigen, dat ick wieder vaschütt jegangen bin. Ick bin nun schon en alter Knabe, den Rumfutsch Gefängniskost. verträgt mein schwacher Magen nicht mehr, un trockenen Hanf Brot. picken, det paßt mer ooch nich. Sie soll einzahlen, damit ick in't Kittchen wat anständiges zu acheln krieje.«

Rademacher war mit seinen Gedanken schon wieder wo anders, dennoch sagte er mit einer gewissen gleichgiltigen Höflichkeit:

»'S is gut, Knettke, wer is denn Ihre Braut eben?«

»Immer noch de Miele Prack. Herr Scharmann von de »Sitte« Sittenpolizei. kennt se ooch. –«

»Gut, Knettke,« meinte der Kommissar, weil Se so vernünftig waren, wollen wir mal sehen, was zu machen ist, nun gehn Se wieder ruhig ins Klapperfeld Untersuchungsgefängnis in Frankfurt a. M. zurück. Morjen, Knettke!«

»Gu'n Morjen, Herr Kommissar.«

Als der Verhaftete in Begleitung des Schutzmannes das Amtszimmer verlassen hatte, sah Rademacher seinen Untergebenen wortlos an und brach dann in ein kurzes, lustiges Lachen aus, in das Muschal kräftig einstimmte. –

»Den hätten wir mal fest« – meinte der Kommissar. »Daß der alte Halunke so leicht gepfiffen hat, verwundert mich eigentlich. Sie haben sich die Aussagen wohl notiert, kontrollieren Sie genau, was davon zu verwenden ist, und ordnen Sie dann eine Vorführung des Hehlers Heck an. Ich möchte dem Kerl nach den anscheinend wichtigen Andeutungen Knettkes doch noch mal selbst auf den Zahn fühlen. –«

Muschal nickte und begann sogleich ein entsprechendes Formular auszufüllen, als er sich plötzlich respektvoll von seinem Sitze erhob. Inspektor Fischer war vom Nebenzimmer kommend leise eingetreten.

»Morgen,« sagte er freundlich, »behalten Sie bitte ruhig Platz, meine Herren.« Dann ließ er sich selbst langsam auf einen Stuhl neben Rademachers Schreibtischsessel nieder und sagte:

»Sie müssen sofort nach Friedberg fahren, lieber Rademacher. Uebergeben Sie die laufenden Angelegenheiten Herrn Neumann und reisen Sie unverzüglich mit Muschal ab. Sie nehmen unser Dienstauto.«

Rademacher sah den Vorgesetzten fragend an.

Fischer schüttelte lachend den Kopf.

»Ich bin selbst nicht genau orientiert, was drüben los ist, ich erhielt nur eine kurze telephonische Meldung der dortigen Polizei. Es handelt sich anscheinend um einen mysteriösen Todesfall im D-Zug nach Hamburg, wenn es nichts Schlimmeres ist. Wie gesagt, ich weiß nichts Genaues, und der Friedberger Kollege anscheinend auch noch nicht. Er bat um Unterstützung. Na, schön. Die soll er haben. Fahren Sie los. In einer knappen halben Stunde können Sie an Ort und Stelle sein. Sie rufen mich dann sofort dienstlich an und nehmen auf alle Fälle auch den Photographen mit. Sie sind im Bilde?«

»Jawohl, Herr Inspektor!« erwiderte Rademacher und begann sofort den Schreibtisch abzuschließen, während Muschal bereits nach seinem Lodenhut griff und den schweren Knotenstock, der neben seinem Arbeitstisch stand, zur Hand nahm.

Wenige Minuten später ratterte das Dienstauto der Frankfurter Kriminalpolizei die Hohenzollernanlage hinauf und verschwand in der Richtung nach Bockenheim.


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