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Warum der Zigeunerin Augen funkeln und die Bosche sagt: »Wer sich löst, der ist in der Luft.« – Vom Staubabwischen, Nähen, Putzen, und warum Zinna die Nannette haßt. – Was der Arzt sagt, und warum Winifred vom »finstern Tale« spricht. – Warum Wolf-Dieter Langeweile hat und Zinna nicht lesen mag. – Des kleinen Prinzen Unart und Winifreds Betrübnis.
Der erste und zweite Tag vergingen ohne Nachricht und der dritte nahezu. Schon freuten sich die Dienstboten, daß aus dem Plane der Fürstin nichts werden würde. Diese aber, die Großmutter und Winifred wollten fast ein wenig enttäuscht sein, besonders die letztere, deren Herz in Mitleid zerfloß, im Gedanken daran, was aus dem armen Geschöpf bei der neuen Mutter und dem wilden Vater werden sollte.
Da – man hatte schon das Warten aufgegeben und war zum Abendessen gegangen – trat Weber zu der Fürstin und meldete: »Durchlaucht, die Zigeunerin ist da! Sie kam von der andern Seite her, und Fräulein Babi hat sie in Empfang genommen!«
Winifred mußte ihre Ungeduld zügeln, bis das Nachtessen vorüber war, dann aber rannte sie die Treppe hinauf, wobei sie immer wie früher zwei Stufen auf einmal nahm, deshalb aber auch ganz atemlos oben ankam.
Babi schalt sie deswegen und sagte: »Aber Komteßchen, so unvorsichtig zu sein! Jetzt nur hinsetzen und ausschnaufen, erst dann hole ich die Zinna!«
Winifreds Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, aber nun – wer kam denn da herein im hellblauen Kattunkleid mit einer weißen Schürze, die wilden Haare in zwei dicke Zöpfe geflochten und in einem festen Nest aufgesteckt? ...
So näherte sich die Erwartete, fast schüchtern und linkisch, was wohl die ungewohnten Kleider ausmachten, die Hanna und die Weißzeugverwalterin schon vorher zurecht, gelegt hatten, im Fall das Zigeunerkind kommen würde.
Winifred streckte ihr die Hand hin und sagte: »Ich freue mich so, daß du gekommen bist, und ich hoffe nur, daß es dir recht gut bei uns gefällt.«
Zinna sagte nicht viel, aber ihre Augen leuchteten, und ihr Blick umfaßte heiß die helle, lichte Gestalt der kleinen Komtesse. Ja, für sie würde sie vieles tun können, wovor ihr jetzt bange war. In ihrer Nähe sein zu dürfen, hatte ihr auch den Entschluß leichter gemacht, ihre Lebensweise zu wechseln. Die Fürstin und die alte Dame waren doch gar hochstehend über der armen Zigeunerin!
Das war ein harter Kampf gewesen, als Zinna damals nach ihrer Rückkehr in der Nacht wegen ihres unbotmäßigen Herumstreichens Schläge empfangen hatte, und als sie am andern Morgen dem Dade von der Fürstin Vorschlag berichtete. Außer sich war dieser gewesen, brachte doch das Mädel durch ihr hübsches Äußeres und ihre Geschicklichkeit und Gewandtheit manches ein.
Aber die Lolischei, seine neue Frau, der Zinna ein Dorn im Auge war, sagte: »Laß sie laufen um des lieben Friedens willen! Hast ja doch jetzt mich, und wenn die Wildkatz bleibt, so kann's sein, daß ich dir einmal entlaufe!« Lolischeis goldene Ringe in den Ohren funkelten bei diesen Worten und ebenso ihre schwarzen Augen.
Mit der Bosche hatte Zinna auch einen schweren Stand. Sie sagte: »Halb ist nicht ganz, und ganz ist nicht halb! Herrenart ist nicht Zigeunerart, und wer sich löst, der schwebt in der Luft!«
Als aber Zinna weinte und sagte: »Boschemame, dann geh ich ins Wasser!« da murmelte die Alte lange etwas vor sich hin. Dann nahm sie drei Wacholderkörner, die mußte Zinna schlucken, und sie sagte feierlich dabei:
»Eins, zwei, drei – bleib dabei,
Elster laß los – Heide ist groß!«
Nun machte sie noch ein paar Zeichen über Zinna, und dann sagte sie: »Geh, wenn du mußt!«
Von den andern, hauptsächlich von den Kindern der Bande, war Zinna der Abschied schwerer gefallen, und der Tetia sagte: »Du wirst überall, wo du auch bist, die Elster rufen und die Geige klingen hören!«
Aber niemand hielt sie zurück – der Zigeuner hat seinen freien Willen.
Dies alles hatte Zinna nach und nach den beiden Damen und Winifred, die sie herzlich danach fragte, wie es gegangen war, in Kürze berichtet. Von da an aber sprach sie kein Wort mehr von dem, was sie hinter sich gelassen hatte.
Zinna wurde nun von den beiden Jungfern zu allerlei Hausarbeit angeleitet, und sie zeigte sich dabei merkwürdig anstellig und geschickt für jemand, der noch nie in einem geordneten Haushalt gewesen war.
Winifred hatte gebeten, daß Zinna statt der Nannette, des einen Hausmädchens, ihr Schlafzimmer besorgen dürfe.
Babi begann damit, daß sie selber zeigte, wie man die Matratzen umdrehe, wie man die Kissen schüttle. Vor allem aber hatte Zinna ein gründliches Bad nehmen müssen, und die erste Anweisung, die sie bekam, war ein gründliches und öfteres Waschen der Hände den Tag über.
Daß dies nötig sei beim Anfassen der feinen, weißen Wäsche, das begriff Zinna sofort, und daß sie selbst reinlich und sauber sein müsse, hatte sie vor allem andern bald erfaßt.
Viel schwerer fiel ihr das Reinigen der Zimmer und besonders das Abstauben der vielen, vielen kleinen, wie ihr schien, so namenlos unnötigen Gegenstände.
»Was tut man damit?« fragte sie an einem der ersten Morgen ganz erstaunt die Babi. »Die Komtesse ist doch zu groß zum Spielen mit all den Schäfchen, Figuren und kleinen Gefäßen mit Blumen!«
Als man ihr aber erklärte, dies seien meistens Andenken und Geschenke von lieben Menschen, da gab sie sich mehr Mühe, den Staub davon zu entfernen, aber ihre Finger faßten diese seinen Sachen gar ungeschickt an, und selbst das Komteßchen mußte sich recht zusammennehmen, nicht ärgerlich zu werden, denn alle Augenblicke stand Zinna mit einer jämmerlichen Miene vor ihr und sagte: »Weiß nicht, warum der Henkel hier heruntergegangen ist« oder: »Komtesse, das große Ding voll Rosen liegt im Salon am Boden, ich hab's wahrhaftig nicht gern getan; es war so glitschig, es glitt mir eben aus der Hand!«
Wenn das Mädchen diese Ereignisse so drollig vorbrachte und so unschuldig aussehend dastand, so konnte Winifred mit dem besten Willen nicht schelten. Aber die Babi hielt Zinna draußen eine tüchtige Standrede und zeigte ihr immer wieder, wie man solch schöne und feine Dinge anfassen und behandeln müsse.
Was Zinna wirklich Freude machte, das war das Nähen. Risse in den Kleidungsstücken, auch in ihren alten, schmutzigen, waren ihr von jeher unleidlich gewesen, und sie hatte sie stets mit Zwirn oder grobem Faden, oder was sonst gerade bei der Hand hatte, zusammengezogen. Jetzt aber zeigte man ihr, wie man regelrecht eine Nadel führen soll und einen Riß zustopfen kann, und bald erfaßte sie auch das Säumen eines Tuches und das Zusammennähen zweier Teile.
Ganz glücklich war sie, als Winifred ihr einen roten Flanellstoff anvertraute, aus dem sie ein Kleiderröckchen für das Jüngste der Frau Klenk machen durfte. Und als das kleine Mädel sich mit der älteren Schwester, die noch immer das Essen holen durfte, darin zeigte, da war sie so stolz auf ihre Leistung, daß sie jedem, der ihr begegnete, sagte: »Du, sieh, das hab' ich gemacht!« Als aber Nannette spöttisch sagte: »Das ist auch was Rechtes – freilich für deine Kenntnisse –!« da blitzte es wild in Zinnas Augen auf, und sie rief ihr das Zigeunerschimpfwort » Mulo mass!« (dummer Esel) zu.
Nannette machte ein verächtliches Gesicht und ging weiter. Die beiden konnten sich überhaupt nicht ausstehen, Zinna, weil sie Spott und Hohn am allerwenigsten ertragen konnte, Nannette, weil man der Zigeunerin da und dort eine von ihren Arbeiten überwies.
Ein Vorzug, der die übrigen Dienstboten im Hause auch neidisch machte, bestand darin, daß die Fürstin angeordnet hatte, Zinna solle sich so wenig wie möglich unter den andern aufhalten. Das Zusammensein bei den Mahlzeiten ließ sich ja nicht vermeiden, und die Fürstin hatte eingehend mit jedem einzelnen gesprochen, sie wünsche, daß man das junge Mädchen als ihren Gast ansehe und demgemäß behandle.
Plagen und verspotten tat man deshalb Zinna nicht, aber man ließ sie gänzlich beiseite liegen; außer Babi und Hanna sprach niemand ein Wort mit ihr. Der Koch, die Haushälterin und die männlichen Dienstboten beharrten darauf, daß es eine große Zumutung von der Herrschaft sei, ihnen eine Zigeunerin an den Tisch zu setzen. Deshalb ließen die beiden Jungfern Zinna an ihrem Morgenvesper und an ihrem Nachmittagstee teilnehmen, wenngleich es auch sie große Überwindung kostete. Aber sie sahen die gute Absicht der Fürstin ein, wennschon sie des öfteren untereinander sagten: »Was nützt es dem schwarzen Mädel, unsere Gebräuche und Arbeiten kennenzulernen, wenn es sie nachher doch nicht anwenden kann?«
Am wohlsten war Zinna, wenn sie die kleine Komtesse bedienen durfte; bei ihr war nie Spott, nie Geringschätzung zu fühlen. Aus allen ihren Worten heraus klang nur warme Teilnahme an Zinnas Schicksal. Neuerdings mußte Winifred wieder viel liegen, ihre Stimme klang oft so leise, und der Arzt aus der Stadt war schon ein paarmal wieder dagewesen. Länger und noch gründlicher als das erstemal währte die Untersuchung, länger und ernster war nachher die Besprechung mit den Angehörigen, und das Endergebnis war, daß er vorschlug, im Frühjahr die kleine Komtesse zu gründlicher Beobachtung in sein Sanatorium zu bringen. »Ich hab' die Kranke dann besser unter den Augen und kann dann sicherer meine Maßregeln ergreifen.«
Der Fürst wehrte sich gewaltig gegen diesen Rat; das ihm so teure, anvertraute Kind aus der Hand zu geben, erschien ihm schrecklich, und auch die beiden Damen wehrten sich anfangs mit aller Macht gegen den Plan. Als aber der Arzt erklärte, er halte es für nötig, da mußte man nachgeben, und es blieb nur die Hoffnung, daß sich Winifreds Befinden – man war jetzt im Februar – bis zum 1. Mai, von wann ab sich der Arzt von einer Liegekur im Sanatorium am meisten versprach, wieder bessern würde.
Man sagte Winifred von diesem Plane vorerst nichts, aber sie wurde mit der größten Sorgfalt umgeben. Die besorgten Gesichter von Großmama und der Tante bedrückten jedoch das feinfühlige Kind sehr. Was hatten sie nur, daß sie alle beständig nach ihrem Befinden fragten, daß ihr bestimmte Speisen verboten wurden, und daß immer eines meinte, mit ihr die Treppe hinauf und herunter gehen zu müssen?
Auch die Babi war oft so eigentümlich, und neulich, als das Komteßchen ein bißchen schwerer atmen mußte als sonst, weil es seine auf den Boden gefallenen Perlen zusammensuchte und dazu nicht gleich jemand rufen wollte, da war die Babi so bös geworden wie noch nie und hatte sogar Tränen in den Augen gehabt. Es war ja richtig: Winifred fühlte sich nicht so wohl wie sonst, aber sie verbarg es von nun an noch mehr, damit man sich nicht um sie ängstige.
Da war es ihr am liebsten, wenn sie Zinna um sich hatte. Die machte nicht gleich so ein ängstliches Gesicht, und ihr konnte sie auch sagen, wenn das Herz einmal so unheimlich pochte, und wenn ihr einmal bange dabei war. Zinna jammerte nicht gleich, aber man sah ihren ernsten Augen die Teilnahme an. Und dann hatte sie so starke Arme zum Stützen und beim Aufrichten, das gab solch herrliches, festes Gefühl.
Das Mädchen war jetzt fünfzehn Jahre alt, aber vollständig erwachsen, während die nur zwei Jahre jüngere Winifred gar zart und schmächtig neben ihr aussah. Zinnas größtes Glück war es, wenn sie dem Komteßchen etwas tun oder in dessen Nähe sein durfte, und Winifred hatte sich ausgebeten, daß in Stunden, wo die Babi zu bügeln oder irgend ein anderes notwendiges Geschäft zu verrichten hatte, Zinna mit ihrer Näherei sich zu ihr ins Zimmer setzen dürfe.
Die Fürstin hatte sich bald davon überzeugt, daß ihr Schützling wirklich von guter Art sei, und daß sie ohne Sorge Winifred diesen Wunsch erfüllen könne. Es machte dieser auch große Freude, Zinna das Häkeln und Stricken beizubringen sowie ihren mangelhaften Schulkenntnissen ein bißchen nachzuhelfen.
»Darf ich fragen?« sagte das braune Mädchen des Tags über wohl ein dutzendmal, und Winifred antwortete ihr immer gern.
»Warum muß dies Tuch gerade so und nicht anders zusammengelegt sein?« ... »Warum putzt man die Schuhe alle Tage, wo sie doch gleich wieder schmutzig werden?« ... »Warum wohnen denn hier die Menschen in so vielen Stuben, und man kann doch nur in einer schlafen und essen?« ...
Dann hieß es wieder: »Komtesse, ist es wahr, daß der Himmel kein großes, blaues Gewölbe ist mit Löchern, wo die Sterne durchscheinen, wie uns die Bosche gelehrt hat? In den Schulen sagen sie anders!« ... »Ist es wahr, daß aus all diesen Büchern« – Zinna deutete dabei auf einen Schrank voll solcher, – »Menschen zu uns sprechen, die vielleicht schon tot sind?« ... »Ist es wirklich wahr, Komtesse, daß wir nach dem Tode doch noch weiterleben? Und wo ist meine Daja dann?« ...
Auf solche Fragen antwortete die kleine Komtesse am liebsten, denn sie wußte ja so genau in ihrer Bibel Bescheid, und was Zinna in der Schule unter den andern nicht erfaßt hatte, das machte ihr ihre junge Herrin klar.
Einmal, in der Nacht, als Winifred ihre Babi, die Kopfweh hatte, nicht durch Klingeln wecken wollte, hatte Zinna im Nebenzimmer mit ihren Ohren, die wie die eines Luchses waren, die unruhigen Bewegungen gehört und war sofort zu der kleinen Komtesse geeilt. Die Bangigkeit war diesmal etwas größer, und Winifred hielt sich fest an den Schultern des braunen Mädchens.
»Zinna, mir ist sehr übel zumute! Zinna, lies mir doch das, wo es heißt: Und ob ich gleich wanderte im finsteren Tale ...« Dabei deutete Winifred auf ein aufgeschlagenes Buch, in dem dieser Spruch mit rotem Bleistift angestrichen war, und Zinna las: »Und ob ich gleich wanderte im finsteren Tale, fürchte ich doch kein Unglück, denn du bist bei mir; dein Stecken und Stab trösten mich.«
Die Leidende wurde ruhiger.
»Zinna«, sagte sie nach einiger Zeit und seufzte dabei ein paarmal tief aus, »Zinna, dir sag ich's, das ist der gute Hirte, der immer bei uns ist, und der einen auch einmal trägt, wenn man nicht mehr gehen kann, damit tröste ich mich.«
Winifreds Stimme hatte etwas so Feierliches, daß es Zinna fast unheimlich zumute wurde. Und als die junge Herrin nachher fortfuhr: »Zinna, ich habe meine Mutter auch schon früh verloren und meinen Vater auch, aber ich weiß, daß mich der gute Hirte zu ihnen führen wird!«, da packte diese eine große Angst, und sie rief schnell die Babi herbei, die aber ihr Komteßchen nicht anders fand als sonst.
»Du hättest mich gleich wecken müssen. Tu das ein anderes Mal, wenn du etwas hörst, und jetzt mach, daß du in dein Bett kommst!«
Zinna gehorchte, aber noch lange saß sie, die Knie heraufgezogen und die Arme um diese geschlungen, wachend mit traurigem Herzen da. Dazwischen aber hörte sie immer wieder der kleinen Herrin liebe Stimme: »Dir sag ich's, dir allein!« –
Die Fürstin und die Großmama hatten Winifred den Tag über viel bei sich in ihren Gemächern. Der Wind blies nicht so stark herein wie in den Turm, obgleich Winifred gerade diese Musik so sehr gern mochte. Die Türen nach dem gut durchheizten Wintergarten waren weit offen, und Winifred konnte sich vorstellen, wenn sie wohl eingebettet auf dem Ruhebett der Fürstin lag, sie blicke in einen Garten voll blühender Blumen und Sträucher.
Wolf-Dieter kam nach seinen Stunden meist auch dazu, es war ihm aber unbehaglich, daß die Base so viel stiller als sonst war. Manchmal meinte er grollend: »Warum tollst du denn gar nicht mehr mit mir herum?«
Aber ein stiller Blick der Fürstin ließ ihn sofort wieder schweigen.
Winifred selber aber lächelte und sagte: »Mein Dieterle, sowie die Sonne scheint und es warm wird, dann komme ich in den Garten hinunter, und dann spielen wir auch wieder miteinander. Voriges Jahr ist es mir im Frühjahr auch wieder ganz gut geworden, nicht wahr, Tante?«
Diese konnte nur nicken, das Herz war ihr so schwer im Gedanken daran, daß ihr liebes Kind ja nicht, wie es hoffte, im Parke würde herumspringen können, sondern, wenn die Natur am schönsten wurde, fort mußte.
Als die Sonne kam und immer kräftiger schien, zuerst auf Winifreds efeuumranktes Plätzchen am Turmerker und dann durch die offengelassene Balkontüre ins Speisezimmer, als Winifred wieder ein wenig an die Luft gewöhnt war, da wagte man es auch, an warmen, geschützten Plätzchen im Park zu sitzen, und Winifred war selig, daß sie unten auch auf und ab gehen konnte. Nur die Treppe herauf trugen sie vorsichtshalber zwei Diener, damit ja nicht das dumme Herzklopfen kam.
Mit welcher Wonne begrüßte Winifred all das hervorsprossende Grün, ihre Schneeglöckchen und Leberblümlein, und dann die Tulpen und Hyazinthen, und wer sie sah, freute sich, wie die Stubenfarbe wieder wich, und wie sogar wieder ein feines Rosenrot sich manchmal auf die Bäcklein legte.
Die Fürstin hatte den Tag über gar viel zu tun mit Schreiben und sonstigen notwendigen Arbeiten. Da war's die Großmama, die meist mit ihrer Näh- oder Strickarbeit unten bei der Enkelin saß, und auch ihr tat die Frühlingssonne gut. Zinna ging ab und zu, ihren flinken Füßen machte es nichts, wenn sie ein dutzendmal und mehr die Treppen hinaufsprang, um etwas, das man gerade brauchte, zu holen. Zwischenhinein durfte sie, ein bißchen mehr im Hintergrund, auf einer Bank sitzen, und Winifred benützte diese Stunden zur Weiterbildung des Mädchens und gab ihr leichtfaßliche Bücher zu lesen. Aber dieser Versuch war enttäuschend. Zinna fing jedesmal mit großem Eifer an, aber nach ein paar Seiten ließ sie das Buch wieder sinken und horchte und spähte. Da schlug unten im Walde der Kuckuck, da hämmerte der Specht, da hüpfte ein Frosch, und leise, ganz leise nur sang sie das Froschlied vor sich hin. Oder sie mußte schauen, wohin die Wolken zogen, und das Wetter danach berechnen. Wenn aber die kleine Komtesse von ihrem Liegestuhl herüber fragte: »Zinna, bis wohin bist du schon gekommen?«, da mußte sie mit Beschämen gestehen, daß sie erst auf der dritten oder vierten Seite sei.
Winifred wollte sich darüber betrüben, und sie fragte:
»Ja, interessieren dich denn die Leute in der hübschen Geschichte gar nicht?«
Dann konnte Zinna antworten: »Kleine Herrin, ich sehe die Menschen in dem Buch nicht, und ich höre sie nicht, und ich weiß nicht, wie ich sie mir denken soll!«
Da war nichts zu machen, und Großmama sagte nachher: »Ich kann mich hineinversetzen, wie sie's meint, und wir dürfen nicht immer wieder vergessen, daß Zinnas Art und Denkweise – von Erziehung will ich gar nicht sprechen – eine ganz andere ist als die unserige.«
Ein Schmerz für Winifred war es, daß sich Wolf-Dieter jetzt oft so gelangweilt zu ihnen hinsetzte, er, der frische Bub, der sonst so lustige Spiele mit Winifred ausgeführt hatte. »Was soll ich denn tun? ... Womit soll ich mich denn unterhalten? ... Ach, wenn du doch nur auch wieder herumlaufen könntest, Wini, und das Pferd machen und den Räuber!«
Das Komteßchen lächelte wehmütig vor sich hin, denn ihr zuckte es ja in allen Gliedern, aufstehen und herumspringen zu dürfen.
»Toll mit den Hunden herum«, riet die Großmama, aber auch diese schienen langweiliger als sonst zu sein, und Spazzo saß vor seiner jungen Herrin, legte den Kopf auf ihren Schoß, und seine treuen Hundeaugen schienen zu fragen: »Was ist denn mit dir? Warum bist du denn gar nicht wie früher?«
Leise und zärtlich strich Winifred ihm über seinen zottigen Kopf, und der Foxel, der sich auch eifersüchtig herzugedrängt hatte, durfte sich auf das Ruhebett legen und machte es sich auf der weichen, wollenen Decke wohlig bequem, fast ein wenig hämisch auf Spazzo hinabblickend, daß er es so viel besser hatte.
Ein Gärtnerbursche lief vorbei und grüßte ehrerbietig. Da sagte Winifred lebhaft: »Weißt du was, mein Dieter, laß dir von dem Jungen helfen, ein Beet anzulegen, wie du doch alle Jahre eines hattest. Das könnte hier ganz in unserer Nähe sein, dann habe ich auch die Freude, zusehen zu können, – da drüben an der Mauer wäre ein günstiges Plätzchen dafür!«
Dies schien Wolf-Dieter einzuleuchten, und der Bursche wurde gerufen. Er lief auch gleich nachher fort, um einen Karren mit Erde und die nötigen Geräte zu holen, während Weber, der eben auf einer silbernen Platte ein Glas Milch und Zwieback für Winifred brachte, beauftragt wurde, für den jungen Herrn seine Arbeitsschürze und das hübsche, grün angestrichene Gartengerät, das sich oben in der Spielstube befand, herabzuholen.
Herr Binder war nach den Unterrichtsstunden ins Dorf gegangen, um sich dort mit dem Pfarrer über ein neues Buch zu besprechen.
Nun war der kleine Prinz doch für eine Zeitlang beschäftigt, und Großmama und Base sahen mit Vergnügen zu, wie die schöne, schwarze Erde aufgeschichtet wurde, wie die beiden sie ebneten, und wie es Wolf-Dieter Spaß machte, kleine Wege mit einem Brettchen und den Händen festzustampfen. Es sollte nachher schöner, gelber Sand, wie er am Gärtnerhaus auf einem großen Haufen lag, darauf gestreut werden.
Ein Pfiff aus dem unteren Teil des Gartens ertönte, und der Bursche bekam einen roten Kopf. »Mein Herr hat mich dort hinbestellt, und er wird gar nicht wissen, warum ich nicht komme«, sagte er verlegen. Worauf die Großmama, die sehr auf Ordnung hielt, sagte: »Dann geh' nur rasch hinunter, er wird dich wohl nötig brauchen, und sage ihm, daß wir's waren, die dich aufgehalten haben.«
Der Junge flog erleichtert davon. Wolf-Dieter aber machte ein äußerst unmutiges Gesicht und stampfte mit dem Fuß. »Gerade jetzt muß er weglaufen, wo ich ihn am nötigsten habe, und wo es doch am nettesten geworden wäre! Wo soll ich denn den Sand jetzt herkriegen? Und dann das Einpflanzen, das verstehe ich doch gar nicht allein!«
Die Großmama beschwichtigte ihn und sagte: »Wir dürfen die Leute am hellen Mittag nicht allzulange von ihrer Arbeit abhalten.«
Als aber Wolf-Dieter recht ungebärdig seine kleine Hacke hinwarf und sagte: »Dann geh ich eben hinaus und bin nicht in der frischen Luft, wie Papa es will!«
Da sagte Winifred sehr freundlich: »Weißt du was, Zinna kann dir inzwischen helfen, bis der junge Gärtner wieder kommt. Die kann sicher auch Weglein machen und tut es sehr gern.«
Zinna, die dies gehört hatte, war schon herbeigesprungen; zu so etwas, wo man Arme und Füße regen konnte, da war sie immer bereit, und sie stellte sich erwartungsvoll neben den jungen Prinzen.
Aber der, schon einmal in schlechter Laune, schob sie recht unartig weg und sagte in beleidigendem Tone: »Von einer Zigeunerin laß ich mir nicht helfen, – die Zigeunerin gehört überhaupt nicht hierher, sagen alle!«
Zinna trat augenblicklich zurück, und mit einem wilden Zurückwerfen des Kopfes und einem sehr bösen Blick auf Wolf-Dieter drehte sie sich um und lief, unbekümmert um der Komtesse Rufen: »So bleib doch da, Zinna – bleib da!« wie gehetzt die Allee hinunter in das Schloß.
Winifred war außer sich. »Wie hast du so etwas sagen können! Pfui, Dieter, einem Menschen, der dir nichts getan hat und dir nur hat helfen wollen, so weh zu tun, und noch dazu meiner Zinna, die ich, wie du weißt, so lieb habe!«
Winifred liefen die hellen Tränen herunter, und die Großmama hatte nur zu beschwichtigen und zu versichern, daß sie nachher mit Zinna sprechen und ihr sagen wolle, daß des Buben Reden ein unartiges, dummes Geschwätz gewesen sei.
Der kleine Prinz war sichtlich betroffen über die Wirkung seiner Worte, und als er sah, daß Winifred – seine Winifred – wahrhaftig weinte, und daß sie gleich darauf dieses dumme, schwere Atmen bekam, wo dann alle mit Tropfen und Stärkungsmitteln heransprangen, da war's ihm recht unbehaglich zumute, und er hatte doch nur das wiedergesagt, was er von Weber, vom Jäger und Papas Kammerdiener gehört hatte. Eigentlich mochte er Zinna ja ganz gut leiden, denn sie hatte ihm schon ein paarmal geholfen eine Gerte schneiden, als sie gerade dazukam. So rasch wie sie holte ihm auch niemand seine Sachen, wenn er etwas vergessen hatte, und erst kürzlich hatte sie ihm eine wundervolle Pfeife aus Holderholz geschnitzt. Nur gerade jetzt hatte er eben den Gärtnerjungen und nicht sie haben wollen, und warum war sie dann auch gleich so dumm und empfindlich davongelaufen?
Dies alles sagte er nachher seiner Winifred, als diese ihn nach dem Anfall zu sich rief und ihm in betrübtem Tone vorhielt, wie er nur auch so unedel sein und einem so armen Ding wie der Zinna so weh habe tun können.
»Warum ist sie arm? Sie hat doch genug zu essen und braucht nicht zu betteln«, sagte Wolf-Dieter betroffen.
Als ihm aber Winifred mit warmen Worten Zinnas Geschichte erzählte, daß sie keine Mutter, nur einen bösen Vater habe und keine Heimat und Geschwister außer dem unglücklichen blinden Heiner, da bekam der Junge einen ganz roten Kopf und sagte: »Dann will ich's gewiß nimmer tun!«
Da nahm Winifred den Kopf ihres Vetters in ihre beiden Hände und sah ihm liebevoll in die Augen. »Mein lieber Bub ist eben zu heftig, und da sagt er dann Sachen, die den Leuten weh tun. Und gerade Menschen, die arm sind und dienen müssen, muß man besonders lieb haben! Willst du daran immer denken, mein Dieter, und es nicht vergessen, auch wenn ich nimmer bei dir bin?«
»Aber doch keine Zigeunerin?« klang's halb trotzig, halb verzagt zurück.
Winifred aber hatte so eindringlich und innig gesprochen, daß der Bub wohl fühlte, auch ohne Antwort, daß alle Menschen damit gemeint seien. Und als nach etwa einer halben Stunde Zinna wiederkam, denn sie hatte wohl empfunden, daß ihr Weglaufen nicht richtig war, da ging der kleine Prinz, wenn auch etwas zögernd, zu ihr hin und sagte: »Du kannst mir helfen, wenn du willst!« Und mit dem Finger auf das Gärtnerhaus deutend, fügte er einlenkend, wenn auch immerhin etwas gnädig bei: »Da drunten gibt's den gelben Sand, den kannst du mir ja dort holen!«