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Fünftes Kapitel

Von trüben Äuglein und zerdrückten Wacholderkörnern. – »Sie sind wieder da!« – Warum der kleine Prinz auf sein Zimmer gebracht wird und der Heinerle alles durch einen Nebel sieht. – Von einer Rattenpfote und dem Vorschlage der Patin.

 

Joseph, Mara und die ganze Bande waren wirklich weit fortgezogen. Sie wollten an neue Orte, wo die Männer Pferdehandel, die Frauen ihre Künste, wie Tanzen und Wahrsagen, treiben konnten. Weit, weit über die Heide, wo, wie Zinna gesagt hatte, der gelbe Ginster blüht und die Erika duften, waren sie gezogen. Sie kamen durch halb Österreich und in das angrenzende Bayern, wo hohe Felswände bis in die Wolken hineinragen. Sie lagerten an blauen Gebirgsseen und in der Nähe von großen Städten, sie nächtigten in Dörfern und suchten mit Vorliebe einsame Gehöfte auf, wo die Leute aus Furcht vor der braunen Gesellschaft ihnen Futter für ihre Pferde und den Weibern Milch, Eier und Mehl zum Kochen gaben. Sie lebten schlecht und recht, wie es sich gerade gab, hatten Händel und vertrugen sich. Die Kinder liefen wild herum, wenn sie sich aber einmal etwas länger in einem Dorfe oder in einer Stadt aufhielten, so sah die Polizei darauf, daß sie in die Schule gingen, und auch Zinna hatte einige Male eine solche besucht. Das Lernen wurde ihr trotz der großen Unterbrechungen sehr leicht, und mit äußerster Lebhaftigkeit faßte sie alles auf.

Zwei Monate etwa, nachdem sie von der Waldhütte fortgezogen waren und sie einmal ausnahmsweise in einem Wirtshause nächtigten, wo Tische und Stühle waren, da hatte Zinna ihr Schreibkästchen hervorgeholt und einen Brief an die kleine Komtesse geschrieben. Er lautete:

... »Ich schreibe, weil die kleine Herrin es will. Aber ich weiß nicht, wie man einen Brief macht. Ich will erzählen: Wir sind weit gefahren, da wo die Leute anders sprechen. Oft waren sie gut, oft böse. Aber um ihr Geschirr wollen sie keinen Draht, das ist dort anders, drum flechten wir Matten. Die Polizei schindet uns oft, sie ist sehr streng hier. In der Waldhütte war es schön. Mutter hustet, aber das tut sie immer im Winter. Nur diesmal ärger. Der Heiner wird rund und lacht. Ohne den Heiner möchte ich gar nimmer sein. Und ich trage ihn auch, wenn wir wandern, weil Mutter müde ist. Das Buch habe ich noch, und es ist schön in ein seidenes Tüchlein eingewickelt. Lesen tu ich nicht drin, hab's einmal getan, weil's die kleine Herrin will, aber die Bosche sagt, das sei nur für Herrenleut' und nichts für den Zigany.

Zinna.«

Als Winifred das verschmutzte, in seltsame Falten gelegte Briefchen erhielt, war sie zuerst hochbeglückt, aber dann bekümmerte sie der Schluß. Die Babi meinte: »Nun sehen das Komteßchen selber, wie leichtsinnig dieses Volk ist – keinen Gott und keinen Glauben.« – Aber die Großmama sagte: »Laß dich nicht reuen, daß du das Büchlein hergeschenkt hast, Winifred. Vielleicht kommt doch noch eine Zeit, wo Zinna darin liest und dann etwas vom lieben Gott erfährt. Sie ist auch sein Kind, und er geht mit ihr!«

Antworten konnte die kleine Komtesse nicht, weil Zinna keine Adresse angegeben hatte, und das war ihr schrecklich. »Sie wird denken, ich hätte sie vergessen!«

Als aber im Laufe des Sommers ein zweiter Brief kam mit ziemlich ähnlichem Inhalt, nur mit dem Beisatze, der Heinerle habe wieder solch trübe Augen, die Pale-Bosche binde ihm zerdrückte Wacholderkörner drauf, aber bis jetzt habe es noch nicht geholfen, – da konnte Winifred an Zinna ein Brieflein abschicken, weil rückwärts auf dem Umschlag die Anschrift, Stadt und Schenke von einer Männerhand angegeben war. Es war wohl der Dade, der dies getan. Winifreds noch mit großen Kinderbuchstaben geschriebener Brief hatte folgenden Inhalt:

»Liebe Zinna!

Deine zwei Brieflein haben mich sehr gefreut, denn ich habe Dich nicht vergessen. Ich soll Dir sagen, daß die Tante heute in einem Schächtelchen Augenmittel schickt, und daß sie von Herzen hofft, daß sie dem Heinerle gut tun werden. Aber Ihr sollt sie gewiß auch so anwenden, wie's auf dem Zettel dabei steht, läßt sie bitten. Er tut uns so leid, der liebe Kleine! Mein Brüderchen gedeiht prächtig und ißt jetzt schon Brei und Suppe und hat zwei Zähnlein. Ich liebe ihn furchtbar, meinen Wolf-Dieter, und er streckt schon die Ärmchen nach mir aus. Wenn Du einmal wiederkommst, zeig ich ihn Dir. Wann kommst Du?

Es grüßt Dich herzlich
Deine Winifred.«

Wieder war's Winter und dann Sommer geworden, und der kleine Erbe auf Schloß Alten-Leien hatte nicht nur alle seine Zähnlein, sondern auch schon die ersten Höschen bekommen. Und Winifred, die nun acht Jahre alt war, hatte neben der Babi schon einen Hauslehrer. Sie mußte tüchtig lernen, aber in den Freistunden war es ihr Höchstes, mit dem lustigen kleinen Erbprinzen zusammen zu sein. Sie konnte schon richtig Fangen mit ihm spielen und Verstecken, und wenn der kleine Bursche zu wild und lebhaft werden wollte, so wußte die Fürstin ihn am liebsten unter Winifreds Aufsicht. Die verstand seinen Übermut noch viel besser zu bändigen als die alte Kinderfrau. Sie zeigte ihm Blumen oder die Goldfischlein im Teich oder setzte seinen Bären vor ihn hin und ließ diesen allerlei lustige Faxen machen und Geschichten erzählen.

Eines Tages – die ganze fürstliche Familie saß beim Tee an einem schattigen Platz im Park – kam Weber in sichtlicher Erregung die große Allee herunter auf die Fürstin zu.

»Euer Durchlaucht, die Zigeuner sind wieder da! Die Zigeunerbande von damals, wo Euer Durchlaucht die Frau mit dem kleinen Kind so lange in dem Waldhaus pflegen ließen. Drüben im Schloßhof hat ein junger Bursche bereits angefragt, ob wir keine Pferde kaufen oder zu verkaufen hätten, und die Zinna sei auch hier und lasse fragen, ob sie kommen dürfe.«

Die Empfindungen der kleinen Gesellschaft bei dieser Nachricht waren recht verschieden. Die Fürstin überkam sofort das Pflichtgefühl, das sie ihrem kleinen Patenkind gegenüber hatte. Die Großmama meinte: »Es war vorauszusehen, daß sie wiederkommen, und es waren doch im ganzen ordentliche Leute!« Winifred aber war mit lautem Jubel aufgesprungen und hatte gerufen: »Die Zinna! O wie freue ich mich, die Zinna wiederzusehen!« und wollte schleunigst davoneilen.

Der Fürst aber hielt sie zurück und sagte in nicht eben vergnügtem Ton: »Jetzt bitt' ich mir nur das eine aus, daß ihr in eurer Herzensgüte nicht wieder zu viel tut! Laßt die Leute, wenn es sein muß, einmal herauf aufs Schloß kommen und beschenkt sie meinetwegen, aber damit laßt's genug sein!« Winifred, die sonst so fügsame, hatte sich aber mit einer unmutigen Bewegung von des Onkels haltender Hand losgemacht und hatte gesagt: »Es ist doch die Zinna, Onkel, die mich sehen will, und der ich sagen muß, daß ihr letzter Brief mich wieder so gefreut hat!«

»Nur nicht so rasch! Du wirst wohl warten müssen, diese Freude auszudrücken, bis Großmama und Tante bestimmt haben, wann die Leute kommen sollen!« sagte der Fürst nun sehr bestimmt.

Die beiden Damen besprachen hierauf, auf welchen Tag man wohl den Besuch ansetzen solle, als die alte Kinderfrau des Komteßchens gleichfalls in Aufregung daherkam und ihren kleinen Pflegling, der am Boden sitzend auf einem Sandhaufen spielte, rasch in die Höhe hob und an die Hand nahm. Sie entschuldigte sich: »Euer Durchlaucht werden erlauben, daß ich den Prinzen mit mir hinauf ins Zimmer nehme. Wenn Zigeunervolk in der Nähe ist, soll man ihnen die Kinder aus den Augen bringen.«

Das wäre nun gerade nicht nötig gewesen, aber der Fürst herrschte doch sein durchaus nicht vom Spiel weg wollendes Söhnlein an und sagte kurz: »Du gehst jetzt mit ins Schloß, später darfst du dann wieder herunter!« Er selber erhob sich und legte etwas unmutig die halbgerauchte Zigarre auf den Tisch, denn er sah im Hintergrund der Allee, wie ein paar dunkle Gestalten sich näherten. »Natürlich, da sind sie schon und müssen einem die ganze Gemütlichkeit verderben! Ihr braucht mich wohl nicht zu eurer Wiedersehensfeier, aber ich bitte noch einmal, macht's möglichst kurz!«

Der Fürstin und der Großmama kam dieser Besuch auch etwas überraschend, aber es ging ihnen fast wie Winifred: sie hatten so oft von ihren Schützlingen gesprochen, daß es ihnen Freude machte, sie wiederzusehen. Und sie mochten die Kleine nicht hindern, als Winifred sich nicht mehr zurückhalten ließ und den Kommenden wenigstens ein paar Schritte weit entgegenlief. Es waren Mara und Zinna, in deren Mitte der braunschwarze, nur mit einem Hemdlein bekleidete Heiner marschierte.

Nach freundlicher Begrüßung zog die Fürstin das Büblein zu sich her und sah ihm vor allem andern prüfend in die dunklen Augen. Erleichtert sagte sie dann: »Nun, gottlob, ich sehe nichts Entzündetes, und Sie können nun wohl ganz ruhig sein, daß die Augen wieder vollständig gesund sind?«

Da blickten sich die beiden Zigeunerinnen an, und Mara sagte mit ihrer immer etwas heiser klingenden Stimme: »Gnädige Herrin, das Weh in den Augen ist nicht groß, aber der Blick trägt nicht weit, und der Heiner sagte immer: ›Daja, es ist Nebel da‹!«

Die Fürstin erschrak über diese Rede und fragte Mara aus, was sie denn gegen das Übel getan hätte. Diese beeilte sich, eifrig zu erwidern: »Immerfort etwas anderes, – gewiß und wahrhaftig, Herrin!« Und sie bekreuzte sich dabei wie zur Beteuerung.

Die kleine Komtesse hatte inzwischen Zinna bei der Hand gefaßt und diese herzlich geschüttelt; beide Mädchen sahen sich gegenseitig erstaunt an, denn Winifred war gewachsen und dabei noch etwas schmäler und blasser geworden, dazu umwallten sie die rotblonden Haare jetzt wie ein Mantel. Zinna aber war schlank und kräftig in die Höhe geschossen und machte mit ihren zwölf Jahren schon fast den Eindruck einer Erwachsenen.

Die Fürstin hatte dem Kleinen ein Stück Kuchen in die Hand gegeben, in das dieser sofort gierig mit seinen weißen Zähnchen hineinbiß. Mara und Zinna dankten für alles Angebotene. Ja, wenn sie's hätten mitnehmen können, aber so, unter den Augen der Herrschaft zu essen, war kein Genuß. Die beiden Damen ließen sich von Mara noch ganz genau von ihrem und des Kleinen Befinden erzählen und sahen mit leisem Bedauern die so mager gewordene Frau an, die beständig hustete, und dann wieder das Büblein, das wohl körperlich kräftig gediehen war, aber doch voraussichtlich einer schweren Zukunft entgegenging. Auch Zinna zogen sie nun ins Gespräch und hatten ihre stille Freude an dem klugen, aufgeweckten Wesen des Mädchens, das sich dabei doch ziemlich bescheiden verhielt. Hübsch war es auch zu sehen, wie der kleine Heiner, als er einen Teil seines Kuchens gegessen hatte, zu der Schwester hinstrebte, die Arme hoch hielt und der sich zu ihm Herabbeugenden den Rest des Kuchens in den Mund schob.

»Zinna, lieb, – me hidschewàwa (tragen)« – sagte er dann. Und Zinna nahm den strammen kleinen Kerl, der die Ärmchen um ihren Hals schlang, und drückte ihn zärtlich an sich.

»Hast du ihn so lieb, deinen Bruder?« fragte die Fürstin herzlich, und Zinna machte eine unnachahmliche Gebärde mit der Hand und sagte nur die zwei Worte: »Mein Liebstes!« Aber es lag eine rührende Wärme in ihrem Ton.

Winifred wollte schnell auch ihren Bruder herbeiholen und war erstaunt, ihn nicht mehr im Garten zu finden; ihn zu holen, ging wohl nicht mehr an, da Mara zur großen Erleichterung der beiden Damen, die nun nicht mehr so recht wußten, was sie mit den unerwarteten Gästen anfangen sollten, in ihrer raschen Weise sagte: »Jetzt gehen wir wieder, und morgen fahren wir nach Osten. Der große Hauptmann befiehlt's, und wir müssen folgen!«

Des Weibes Augen leuchteten aber, als die Fürstin ihre Börse zog und ihr ein sehr ansehnliches Geldgeschenk in die Hand drückte. »Es tut mir leid, daß ich diesmal nur Geld habe und sonst für den Kleinen nichts«, sagte sie bedauernd. »Ich glaube, ihr legt auch keinen großen Wert auf Kleider«, fügte sie lächelnd angesichts des fast nackten Bubens hinzu. »Tut euch was Gutes damit, euch und dem Kinde. Und sollten die Äuglein je schlimmer werden, so laßt's mich durch die Zinna wissen, denn in solchen Fällen gibt es Anstalten, wo augenkranke Kinder gar treu gepflegt und sehr oft wieder gesund gemacht werden. Ich würde dann, so es nötig sein sollte, mein Patenkind in einer solchen Anstalt unterbringen!« Die beiden Damen sprachen hierauf noch mit Zinna über diesen etwaigen Fall und legten ihr dringend ans Herz, mit einer Nachricht dann nicht so lange zu zögern.

Die alte Gräfin, die sich noch einmal recht gründlich das sich an seine Schwester anschmiegende Zigeunerbübchen betrachtet hatte, setzte ernst hinzu: »Der Schleier auf dem einen Äuglein will mir gar nicht behagen. Ich sah schon solches an Menschen, die nachher erblindeten!«

Da aber blitzte aus Zinnas Augen ein wildes Feuer, und sie rief in gellendem Ton: »Sagt um des Erdkreises willen nicht so etwas, Herrin, ich kann's nicht hören!«

Winifred streichelte ganz ängstlich Zinnas Hände, die sich fest um den Heiner geklammert hatten, und ihr liebewarmes Herzchen wußte gar nicht, wie es trösten sollte. Und wieder fiel ihr nur das Eine ein: »Du mußt den lieben Gott bitten, Zinna, daß es nicht so wird, und ich will's ganz gewiß auch alle Abende tun, wenn ich in meinem Bette liege!«

Zinna sah aufs neue wie einstens den leuchtenden Ausdruck im Gesicht der kleinen Komtesse, und wieder fiel ihr die Gestalt mit dem weißen Kleid und den Flügeln in der Kirche ein. Vielleicht nützte das doch etwas, was der kleine Engel immer wieder riet, und Zinna sagte mit erstickter Stimme: »Ich kann's ja einmal probieren. Nützt es nichts, so schadet's nichts!« fügte sie etwas leichtfertig hinzu.

Die Zigeuner schickten sich nun zum Gehen an, und Winifred hätte doch so schrecklich gern der Zinna etwas geschenkt. Da flüsterte sie schnell der Fürstin etwas ins Ohr, aber diese sah auch ratlos herum, denn es war nichts zum Schenken Passendes da. Doch ja, ein blauseidenes Tuch, das Winifred, wenn im Parke der Wind wehte, immer umgebunden hatte, lag auf einem Stuhl. Nach einer rasch eingeholten Erlaubnis eilte die kleine Komtesse den beiden noch nach und hängte den weichen, feinen Schal um Zinnas Arm.

»Da«, sagte sie, »er gibt herrlich warm!« Und Zinnas lebhaftes: »Ei, wie fein, ei, wie schön, – danke!« klang ihr noch lange in den Ohren.

Eins aber trieb Winifred noch tagelang umher: das war, daß sie Zinna nicht ans Herz gelegt hatte, ihr doch immer wieder ihre Anschriften anzugeben, wohin man ihr schreiben könne. Noch lange sprachen die beiden Damen ihre Befürchtungen aus, daß der kleine Zigeuner am Ende ganz erblinden könne, und es war ihnen eine Beruhigung, daß sie das mit der Anstalt gesagt hatten.

Und es sollte auch so weit kommen. Zinna hatte von ihrem letzten Besuch an ziemlich regelmäßig alle paar Monate geschrieben: es war wohl die Angst um das Brüderlein, die sie dazu trieb. Und Verzweiflung und Angst sprach auch aus einem Brief, – es mochten etwa wieder zwei Jahre vergangen sein, – in dem sie mit kurzen Worten sagte:

»Herrin, der Nebel wird immer stärker, und Heiner stößt sich, wo es nichts zu stoßen gibt! Wadomer und Tetia hatten eine Schwester, bei der war's gerade so, und als sie älter wurde und gar nichts mehr sah, fiel sie in einen Abgrund hinunter und war tot. Mutter ist auch so schwach, sie weint sich halb zu Tode wegen ihres Tschawo. Und der Dade meint, ob man ihn nicht doch in so eine Anstalt tun sollte. Die Bosche-Mame sagt: ›Nein‹, und sie hat ihm jetzt die Pfote von einer Ratte um den Hals gebunden und reibt ihn mit Igelfett ein. Ach, wenn es doch helfen würde! – Ach, nur nicht fort tun, – ich kann nicht leben ohne mein Heinerle.

Zinna.«

Dieser Brief erregte tiefes Mitleid auf dem Schlosse. Winifred weinte bitterlich im Gedanken daran, wie's wohl wäre, wenn man ihr Wolf-Dieter fortnehmen würde in eine andere Stadt, in ein Krankenhaus, fern von ihnen allen. Die Großmama und die Fürstin aber stellten ihr vor, wie Zinnas jetzige Betrübnis nichts sei gegen das, was diese empfinden würde, wenn ihr Liebling wirklich irgendwie Schaden nähme, und die beiden Damen wurden einig, mit dem Kleinen, der ihnen eben nun einmal in den Weg gelegt worden war, alles, was zu seiner Rettung möglich war, zu versuchen. Die Fürstin schrieb deshalb gleich am andern Tag einen Brief an die Mutter des Kindes – Zinna gab jetzt immer, wo es möglich war, in ihren Briefen ihre Anschriften an. Sie schlug ihr vor, sie wolle an den Vorstand der Augenklinik der Stadt, in deren Nähe sie sich gegenwärtig befanden, schreiben, daß er den Kleinen aufnehmen solle. Sie selber und besonders Zinna müßten vernünftig sein. Vielleicht handle es sich ja nur um eine kurze Trennung, und man müsse doch alles versuchen. Der Fürst und sie würden die Kosten tragen.

Es kam längere Zeit keine Antwort, bis eines Tages ein Schreiben von dem Direktor der betreffenden Augenklinik eintraf, in dem er meldete, ein junges Zigeunermädchen habe ihm unter Vorweisung des Briefes Ihrer Durchlaucht ein Bübchen von vier Jahren gebracht. Er habe es gründlich untersucht und sei leider zu dem Ergebnis gekommen, daß das Augenlicht des Kindes nicht mehr zu retten sei, zu welch traurigem Ergebnis wohl auch die haarsträubenden seither angewandten Mittel beigetragen haben mochten. Da Ihre Durchlaucht sich nun so warm für das Kind einsetze, so möchte er vorschlagen, dieses seinem Blindenasyl vorerst einmal überweisen zu dürfen, woselbst es vielleicht eine zweckmäßige Erziehung und Anweisung fürs spätere Leben bekommen könnte.

Betrübt über diesen Inhalt beschloß die Fürstin aber sofort, dem Rate des Arztes zu folgen, und sie schrieb ihm dies umgehend mit der Bitte, den Kleinen so unterbringen zu wollen, wie er es fürs Richtige halte. Mit diesem Brief ging einer an die Eltern des Kindes und an Zinna ab, worin sie ihnen ihr tiefes Mitgefühl ausdrückte und ihnen dann die Vorteile einer solchen Anstaltserziehung für Blinde auseinandersetzte.

Winifred ließ sich's nicht nehmen, für Zinna ein Brieflein beizulegen. War sie doch vom innigsten Mitleid für diese erfüllt, und sie schrieb:

»Wie tust Du mir so furchtbar leid, daß Du Dich von Deinem lieben Brüderlein trennen mußt! Aber Tante und Großmama sagen, Dein Heinerle könnte sich eben noch mehr stoßen und könnte einmal recht schwer hinfallen. Und sie erzählten mir, wie die Kinder in einer solchen Anstalt so sehr gern seien, wie lieb man mit ihnen sei, und wie sie dort sogar lesen und schreiben und sonst noch vielerlei lernen dürften. Großmama sagt, sie habe einmal einen Blinden gekannt, der habe wie Du, nur noch viel schöner, Matten geflochten. Und andere machen Körbe und schnitzen Sachen von Holz, da meint Tante und Großmama, der Heiner könne noch einmal sehr glücklich werden und wieder zu Euch kommen und sein Brot verdienen. Und Du dürftest ihn so oft besuchen, als Ihr in die Nähe kommt. Und wenn Du ein bissel weiter fort wärst und die Fahrt viel Geld kosten würde, so darf ich dies aus meiner Sparkasse holen und Dir schicken, worüber ich so glücklich bin.

Nun muß ich schließen. Aber bitte, wenn Du gar so traurig sein wirst, so denke immer daran, daß es Deinem Heinerle dort gut geht!

Deine Dich liebende Winifred.«


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