Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von einer, die sich über einen Zaun schwingt, und von einem offenen Fenster. – Von Trompeten, Geigen und einem Büblein, dem Gesicht und Hände bluteten. – »Ich will wieder heim!« – Wie Zinna das Fröschleinlied singt und die Großmama sagt: »Komm mit mir!« – Zinna wird geprügelt.
Ja, die Zinna hatte in ihrer Verzweiflung die feste Absicht, sich schon am andern Morgen in den Garten zu schleichen, den Baum hinaufzuklettern, was ja nur ein Spiel für sie war, und ihren Schatz, ihr Goldkind, ihr Kleinod zu holen. Freilich, das wußte sie, zurück zu Vater und Mutter durfte sie im Augenblick nicht, aber sie wollte mit dem Kind in die Waldhütte flüchten. Wohl waren es drei Stunden Wegs, und die kalte Jahreszeit hatte schon begonnen, aber ihre Arme waren stark und ihr Rücken desgleichen, um den Kleinen zu tragen, wenn er müde wurde.
Und dann – ja, was dann? – Zinna war sich in ihrem Jammer darüber selber noch nicht ganz klar, aber sie dachte, die Eltern, die das Fortgeben ihres Sohnes doch auch schwer genommen hatten, würden schließlich auch froh sein, wenn er wieder da wäre. Der Dade, das wußte sie, ging auf ein paar Tage fort zum Pferdehandel, und die Bande blieb deshalb noch einige Zeit hier herum in der Gegend. Sie aber hatte doch ihr Heinerle vor dem Gräßlichen gerettet, daß man ihm vielleicht mit einem Messer in die Augen schnitt, wie einer der Ärzte gesagt hatte, in seine lieben, prächtigen, dunklen Augen.
Aber Zinna hatte sich in ihrem Plan verrechnet. Des Vaters Fortgehen verzögerte sich, und solange er da war, konnte sie unmöglich verschwinden. Mutter würde ja wohl die paar Tage lang, wo sie fehlte, auch recht in Sorge sein, und das tat ihr leid, denn die Daja war so gar nicht wohl, aber Vaters Zorn fürchtete sie, der mußte wieder verraucht sein, bis sie ihm wieder unter die Augen kam. Wie aber erging es ihrem Buberl inzwischen? Wie mochte er sich unglücklich fühlen unter all den fremden Leuten, und was mochte er von seiner Zinna denken, die nicht kam! Sie kannte den Kleinen, wie verzweifelt er über etwas sein konnte, und sie steigerte sich in den Gedanken hinein, daß er vor Heimweh und Jammer am Ende krank werden könnte.
Erst in der dritten Nacht nach Einlieferung des Heiner war der Vater mit einem jungen Zigeuner fortgegangen, und sie konnte sich in der Nacht aus dem Stall, wo sie mit Mutter und der Bosche schlief, hinausstehlen. Da sie in den Kleidern schlief und gewandt wie eine Katze war, kam sie glücklich ins Freie, nachdem sie vorher noch aus Mutters Lederbeutelein, das unter deren Kopfkissen lag, etwas Geld genommen hatte: Nachher wird sie sich beruhigen und freuen; damit tröstete sich Zinna. Aber es war schon über Mitternacht geworden, bis sie den Bahnhof erreichte, und es ging auch nicht gleich ein Zug. Und dann dämmerte schon beinahe der Morgen, als sich Zinna behende über den Zaun der Blindenanstalt schwang und vor dem Baume stand. Das Hinaufklettern war eine Leichtigkeit, aber würde es ihr gelingen, das Kind herauszubringen, ohne daß die Frau mit der weißen Haube aufwachte?
Von einem schwankenden Aste aus sah Zinna in das Zimmer. Zu ihrem Entzücken war ein Fensterflügel nur angelehnt, denn in der Anstalt liebte man frische Luft. Leise genug wollte sie sich schon hineinmachen, aber wenn der Heiner nun erschrecken oder gar einen Laut von sich geben würde bei dem Geräusch, was dann? Sie sah ihn in seinem Bettchen liegen, die eine dunkle Hand unter seinen Kopf geschoben, wie er's immer tat, wenn er bei ihr auf dem Teppich lag, und ihr Herz pochte, so nahe wieder bei ihrem Liebling zu sein. Aber die Dämmerung ging zurück, die Pflegerin schlief nicht mehr so ganz fest, wie die Lauschende beobachten konnte, und es war schrecklich, – die günstigste Zeit verstrich.
Da ertönte die Glocke wieder durchs ganze Haus, und Zinna duckte sich, soweit sie konnte, unter das gelbe, herbstliche Blätterdach. Gleich darauf sah sie aber, wie die Schwester aufstand, etliche Kleidungsstücke überwarf und dann – zu welchem Zweck war einerlei – das Zimmer verließ. Nun hieß es: jetzt oder gar nicht.
Der Heiner drehte sich eben in seinem Bettlein herum und rieb sich halb wach die Augen. Da ließ Zinna einen ganz eigentümlichen, vogelartigen Pfiff ertönen, und das Kind richtete sich schlaftrunken auf.
»Heiner, mein Heiner, bst, – ich komme!«
Das Kind straffte sich jäh und drehte sich nach der Richtung des Fensters. Etwas wie ein schwarzer Schatten schien dort zu sein, und Heinerle rief laut: »Zinna ... Zinna!« In demselben Augenblick aber war die Schwester mit warmem Wasser und einem Arm voll Wäsche zurückgekehrt, und das Mädchen draußen mußte einsehen, daß da nichts mehr zu machen war. Wenn doch nur der Heinerle ihren Pfiff nicht gehört hätte! Nun wußte er ja gar nicht mehr, was er von seiner ungetreuen Schwester halten sollte.
In der Anstalt ward es lebendig. Zinna glitt schnell an dem Stamm hinunter, eilte durch den Garten und kletterte ungesehen wieder über den Zaun. Dort wollte sie warten, ob sich nicht doch noch eine Gelegenheit böte, einzudringen.
Schwester Martha hatte noch gehört, wie der Bub Zinna gerufen, und sie sagte: »Hast du von deinem Schwesterle geträumt? So was ist nett. Aber weißt du denn, daß es heut' etwas ganz Neues, Lustiges gibt? Jedes von euch Kindern bekommt eine Trompete, eine Pfeife oder eine kleine Geige, und wenn wir nachher unten im Garten sind, so machen wir ein Konzert. Ui! wird das fein werden!« Damit hatte sie den Kleinen auf andere Gedanken gebracht und ihn unter Erzählen von allerlei Nettem angezogen.
Der Heinerle glaubte wirklich selber, er habe geträumt. Aber es wäre doch gar zu schön, wenn seine Zinna jetzt endlich einmal käme und er ihr all das Neue, Lustige hier in der Anstalt beschreiben könnte. An ein Fortgehen mit ihr dachte der Kleine dabei nicht mehr.
Zwei Stunden später wand sich eine ganz lange Schlange von frohen Kindern durch die schattigen Gänge des Anstaltsgartens. Eines hatte immer das andere um den Leib gefaßt, und so machten die kleinen Blinden ihren alltäglichen Spaziergang unter vergnügtem Lachen und Plaudern. Dann wurde auf einem schönen, freien Platze Halt gemacht, und es war merkwürdig, wie frei, und ohne irgendwie zu stolpern oder anzustoßen, die meisten von ihnen allein oder zu zweien im Garten herumliefen, an den Blumen rochen oder die Blätter der Sträucher durch ihre Hände gleiten ließen und dabei feststellten, ob es längliche, runde oder gezackte seien.
Den Heinerle hatten zwei ältere Mädchen unter ihre Obhut genommen, und mit ihm herumlaufend knieten sie da und dort mit ihm nieder, gaben ihm Gräslein und Wiesenblümlein in seine Hände und nannten ihm die Namen. Sie gaben ihm auch nette, runde Steinchen und Hölzer, mit denen sie dann auf einer Gartenbank einen kleinen Turm aufbauten und ihn wieder einfallen ließen, und sie nahmen seine Fingerlein zwischen die ihren und sagten lustige, kleine Verse dazu.
Da rief aus der Ferne Schwester Martha: »Wer ein Instrument zum Musikmachen haben will, der komme jetzt zu mir in den Hof!«
Die Mädchen sprangen von der Bank herunter und sagten zu Heinerle: »Bleib' nur einen Augenblick ruhig sitzen, wir kommen gleich wieder und bringen dir eine kleine Geige, gelt, das magst du am liebsten?« und damit waren sie fort.
Im selben Augenblick ertönte wieder ganz nahe der dem Heinerle so wohlbekannte Zigeunerpfiff. Diesmal träumte er gewiß nicht. Und dann hörte er ein Krachen von Zweigen, huschende Schritte auf dem Kies, und neben ihm stand seine Zinna, die ihn mit einem Arm umschlang und ihm mit der andern Hand den Mund zuhielt. »Heiner, ich bin da und hole dich! Tu alles, was ich dir sage, und schreie nicht!«
Das Büblein wußte nicht, wie ihm geschah, als ihn Zinna mit festem Griff packte und sagte: »Duck' dich, ich bring' dich durch.«
Unten an dem dichtverwachsenen Zaun war eine Lücke gemacht. Die dichten Heckenzweige rissen dem Buben die Hände und das Gesicht blutig, als ihn die Zinna unbarmherzig hindurchzog. Dicke Tränen liefen ihm über die Wange, als die Schwester ihn in die Höhe zog und dann den kleinen Buben sofort auf den Arm nahm und mit ihm in größter Hast davoneilte.
Er wußte gar nicht, wie ihm geschah, und sagte mit vor Schluchzen erstickter Stimme: »Warum tust du mir denn so weh, Zinna? Und warum läufst du mit mir fort, gerade jetzt, wo ich eine Geige bekommen hätte?«
Aber Zinna konnte nicht antworten, so furchtbar schnell lief sie. Sie konnte nur immer wieder schluchzen: »Mein Bub, mein Bub!« und dabei preßte sie ihn so fest an sich, daß dem Heiner der Atem fast verging.
Erst nach einer Viertelstunde etwa, als sie irgendwo draußen im freien Felde waren, setzte sie keuchend die schwere Last nieder, und dann erst vermochte sie ihm mit tausend zärtlichen Worten zu sagen, daß er jetzt wieder bei ihr sei, daß er bald auch wieder zu der Daja, zum Dade und zu der Bosche dürfe, und sie wusch ihm an einem Bache das Blut von Händen und Gesicht und gab ihm aus ihrer Tasche heraus Kuchen und Zuckerwerk, das sie gestern beim Brotholen in einem Bäckerladen vom Tisch hatte wegstehlen können.
Der Heiner aß drauflos und weinte nicht mehr. Er lief auch jetzt an Zinnas Hand ganz willig eine Strecke lang, aber zu deren Kummer war er durch ihr Erscheinen nicht so glückselig, wie sie erwartet hatte. Nach einer halben Stunde etwa blieb er plötzlich stehen und sagte: »So, jetzt will ich wieder heim!«
»Du kommst heim, hab's dir ja schon gesagt, mein Buberl, aber vorher heißt's tüchtig laufen! Wart, ich zieh' dir die Schuhe und Strümpfe aus, damit es besser geht!«
Zinna setzte ihn zu dem Zweck auf einen Rain. Aber nun fing der Heiner an, sich zu wehren und sagte: »Die Schwester Martha mag nicht, wenn wir barfuß laufen, und ich will jetzt wieder zu ihr, damit sie mir meine Geige gibt, und zum Mittagessen, hat sie gesagt, gibt's heute Dampfnudeln. Wirst sehen, Zinna, wie gut die schmecken!«
Der kleine Bursche rieb sich sein Bäuchlein im Vorgeschmack dieses Genusses und wollte nun schleunigst wieder zurücklaufen. Aber das gab's nicht, – um Gotteswillen, das konnte doch nicht sein. Nur mit Gewalt brachte es Zinna endlich zustande, daß er mit ihr ging. Wie war das nur so ganz anders gekommen, als sie sich ausgedacht hatte! Als Zinna unter stetem Ziehen, Locken, Versprechen und schließlichem Tragen des vor Widerstand ganz müde gewordenen Buben nach Stunden endlich die Waldhütte erreichte, da war ihr namenlos elend zumute, und sie fühlte sich sehr müde.
In der Hütte, in die sie mit dem Kinde durch ein eingedrücktes Fenster stieg, befanden sich, wie ursprünglich, nur Tisch und Bank und ein Ofen, in dem kein Feuer brannte. Keine Decken waren da, um sich hineinzuwickeln und vor der Kälte zu schützen, nichts, was irgendwie zu einem Lager hätte benützt werden können.
Zinna hatte das alles so ganz anders im Gedächtnis gehabt. Nun blieb ihr nichts übrig, als den jetzt herzbrechend immer wieder nach seinem Bett verlangenden Heiner auf ihren Schoß zu nehmen und ihren Rock um ihn zu schlagen. So schliefen die beiden Geschwister schließlich vor Müdigkeit, Angst und Traurigkeit ein.
Auf dem Schlosse herrschte an diesem Abend große Aufregung. Es war eine Drahtnachricht aus der Blindenanstalt an die Frau Fürstin gekommen mit dem Inhalt:
»Der kleine Zigeunerjunge Heiner Reinhardt ist seit heute früh, wo er mit den andern im Garten spielte, verschwunden. Allem Anschein nach ist er von den Seinigen entführt worden. Gerichtliche Schritte sind getan. Bitte um gnädigen Bescheid, ob Euer Durchlaucht etwa Auskunft geben könnten.
Die Verwaltung.«
Was war nur das? Kurz vor dem Nachtessen war diese Nachricht angelangt, und der Fürst fand seine beiden Damen in großer Bestürzung. Auch ihm war es unangenehm, daß das begonnene gute Werk an dem kleinen Blinden so jäh unterbrochen wurde, aber er konnte sich nicht enthalten, zu sagen: »Ihr seht wieder, daß mit diesem Volk nichts zu machen ist, und daß man nichts als Undank und Widerwärtigkeiten von ihm hat!«
Winifred, die sich so gefreut hatte, daß der kleine Heiner in seiner Hilflosigkeit nicht mehr mit umherziehen mußte, erging sich während des ganzen Nachtessens in Vermutungen darüber, wo er jetzt wohl sein werde, ob wohl Zinna es wisse. Gewiß sei da wieder die böse alte Frau, die dem Kinde so schreckliche Mittel gegeben hatte, mit im Spiel. Die Großen aber berieten untereinander, was da wohl zu machen sei, kamen aber zu dem Ergebnis, daß sich in diesem Fall einfach nichts tun lasse.
»Und diese Schwester Martha hat doch erst gestern geschrieben, wie gut sich das Zigeunerchen angewöhne, und wie lieb sie es alle schon hätten«, klagte Winifred von neuem, und ihre Babi hatte an diesem Abend noch lange an ihr zu trösten, denn bis zum Einschlafen verfolgte das Komteßchen die Sorge um den kleinen Blinden.
Am nächsten Morgen fiel der erste Schnee. Trotzdem machten die Damen mit den Kindern vor Tisch einen Spaziergang, zum erstenmal eingehüllt in Wintermäntel und warme Pelze. Als sie in die Nähe der Waldhütte kamen, gebärdeten sich Spazzo und Fox wie rasend. Und als sie noch näher kamen, da hörten sie etwas wie Kinderweinen, unterbrochen von den Tönen einer tiefen Mädchenstimme, die etwas halb sang, halb sprach; dazwischen klang's auch wie Schelten.
Zinna und Heinerle hatten eine elende Nacht verbracht, die Bank war schmal und hart, der Fußboden, auf dem sie's abwechslungsweise versuchten, desgleichen, und gegen Morgen drang eine eisige Kälte durch die nur mangelhaft mit Moos verstopften Ritze der Hütte.
Immer wieder sagte der Bub: »Ich möcht' eben in mein Bett, dort war's so warm!« Und im Schlaf rief er ein paarmal in kläglichem Ton: »Schwester Martha holen – Schwester Martha, ich hab' Hunger!«
Letzterem konnte Zinna abhelfen, denn sie hatte in ihrem Bündel noch einen ziemlichen Vorrat von zusammengebettelten Brotstücken und Äpfeln mitgebracht. Als es Tag wurde, erzählte sie ihrem Liebling unaufhörlich Geschichten – eine nach der andern – nahm ihn auf den Rücken und hüpfte mit ihm in dem engen Raum herum, damit sie sich selber ein bißchen erwärmte. Ihr Herz wurde aber schwer und schwerer, als sie merken mußte, daß ihr Heinerle wohl seine Zinna noch lieb hatte, aber doch dabei blieb, daß er dringend und immer dringender wieder nach der Frau in der weißen Haube verlangte.
Was sollte nun daraus werden? Der Dade erzürnt, die Daja am Ende auch und wohl auch die Fürstin, die's ja gewiß gut gemeint hatte. Was hatte sie, Zinna, angestellt? Und was wird auch die kleine Komtesse dazu sagen?
Zinna wußte in ihren Gedanken nicht aus noch ein, und dabei erzählte sie wieder in aufmunternder Weise allerlei Lustiges, von der Elster, dem Dachse und den Fröschen, und dann sang sie, indem sie Heinerle auf ihren Knien Sprünge machen ließ, das Zigeunerlied:
Dschampa!
Gotter we!
Gotters de
Pral miro tsckawes ste!
was auf deutsch heißt:
Fröschlein,
komm herein,
hüpf herein,
hüpfe auf das Söhnchen mein!
Aber auch dies Lied, das sonst der Heiner so gern mochte, blieb ohne Wirkung. »Fröschlein soll nicht hüpfen. Fröschlein ist kalt, und mich friert so arg! Ich will warm haben, und ich will fort!« und dabei zerrte der Bub Zinna am Rock.
Nun war's um Zinnas Fassung geschehen. Die Genossen kamen erst in etwa drei Tagen in die Nähe, und den Weg mit dem müden, verfrorenen Kind wieder zurück zu machen, war unmöglich. Die Daja war nicht mehr in der Stadt, und Zinna fürchtete sich auch vor der Polizei. Ob wohl Gott, der da droben im Himmel saß, wirklich einem half, wenn man in der Not ist, wie die kleine Komtesse gesagt hatte? ...
Zinna blickte an die Decke, sah aber nichts Tröstliches. Dennoch faltete sie die Hände, so wie sie es schon oft gesehen hatte, wenn es die Leute in der Kirche machten, und sagte laut: »Du Gott, hilf!«
Und sie horchte, als müsse irgendwoher jetzt die Antwort kommen.
Aber draußen fing es an leise und still zu schneien, und ganz aus der Nähe ertönte der Schrei einer Elster. Dies wird bei den Zigeunern als großes Unglückszeichen angesehen, und Zinna erschrak bis ins Innerste. Und nun – es war keine Täuschung – hörte sie auch noch Hundegebell, das immer näher kam und vor der Hütte wahrhaft ohrenbetäubend wurde. Wenn die hereinkamen, waren der Heiner und sie verloren! Natürlich folgten den Hunden auch Menschen, und sie würden herausgetrieben aus der Hütte und am Ende geschlagen.
Zitternd und ihren Arm fest um das Kind schlingend, stand Zinna da, als sie draußen hörte, wie man die Hunde gebieterisch zurückrief.
Aber was war das? Gleich darauf öffnete sich die Türe, herein kamen die Fürstin mit der alten Dame vom Schloß, und auch das Komteßchen war dabei. Die erkannte sie zuerst, und mit dem Ruf: »Zinna – ja, Zinna, wo kommst denn du her?« stürmte sie auf die Angerufene los und reichte ihr die Hand. Und dann rief sie jubelnd: »Und der Heiner ist auch dabei ... Großmama, Tante, seht nur, hier ist ja der Verlorengegangene!«
Es lag eine solche Freude in der Stimme, daß Zinna das Herz hatte, aufzuschauen und auf die Frage der Fürstin: »Aber Zinna, wie kommst du denn hierher mit deinem kleinen Bruder?« offen und frei zu antworten: »Ich hab' ihn geholt, weil ich glaubte, er sterbe vor Heimweh dort. Und ich werde ihn jetzt auch behalten, weil mein Heiner zu mir gehört und zu niemand anderem. Die mit der weißen Haube hasse ich!«
Zinna hatte das letztere in fast drohendem Tone hervorgestoßen und war tief unglücklich, als ihr Heinerle jammerte: »Aber ich hab' die Schwester Martha lieb, und ich will wieder zu ihr!«
Beide Kinder zitterten vor Kälte und Aufregung, und die Großmama sagte: »Es wird nun wohl das beste sein, wir nehmen die zwei Flüchtlinge einmal mit uns hinauf und geben ihnen eine warme Suppe zu essen, dann können wir weiter beraten.«
Winifred war voll Mitleid, als sie hörte, daß die beiden die Nacht hier zugebracht hatten. Und es tat ihrem Herzchen weh, als auf dem Rückweg nach dem Schloß die Fürstin leise Winifreds Hand aus der des Zigeunermädchens löste und ihr zuflüsterte: »Zinna hat ein großes Unrecht begangen und wir dürfen deshalb jetzt nicht gar so lieb mit ihr sein. Laß sie's nur ein bißchen fühlen!«
So etwas vermochte aber das Komteßchen nicht, und wenn ihr auch das Sprechen verboten war, so sah sie doch immer wieder wahrhaft kummervoll und mitleidig die ihr so liebe junge Zigeunerin an, und von Zeit zu Zeit nickte sie ihr aufmunternd zu, als wollte sie sagen: »Glaub' nur nicht, daß wir's bös mit dir meinen – es wird gewiß alles wieder gut!«
Und es wurde auch scheinbar alles wieder gut. Die Findlinge bekamen eine warme Suppe und mußten sich dann an den warmen Ofen im Gesindezimmer setzen. Da aber die Fürstin mit Recht fürchtete, die Geschwister würden mit Fragen daselbst geplagt und scheu gemacht werden, ließ sie von einem der Hausmädchen in einem kleinen Fremdenzimmer einheizen, in dem sich zwei Betten befanden, und wenngleich es noch heller Nachmittag war, so befahl sie doch selber, daß Zinna mit dem Kind sich zu Bette legen und nach der überstandenen Anstrengung recht gründlich ausschlafen solle. Heinerle kam dem sofort nach, und er war glücklich, wieder in einem Bett zu liegen; Zinna brauchte länger, bis ihre brennenden Augen den Schlaf fanden, aber dann überkam auch sie die Müdigkeit, und als Babi auf Befehl der Fürstin eine halbe Stunde nachher nach den beiden sah, waren sie fest eingeschlafen.
Was nun aber weiter?
Wohl oder übel mußte man die Ausreißer noch etliche Tage als Gäste behalten, bis die Zigeuner nach ihrem Plan unten im Dorf angekommen waren. Dann wurde Heinerle, diesmal unter sicherer Obhut von Hanna, die sich dazu angeboten hatte, zur Stadt und wieder in die Anstalt zurückgebracht.
Wenn Zinna noch immer für den kleinen Bruder gefürchtet hatte, wie er den Abschied wohl ertrüge, so mußte sie wieder die betrübende Erfahrung machen, daß das gar nicht so schwer ging. Wohl sagte Heiner immer wieder: »Aber meine Zinna soll mit!« ließ sich aber dann mit der Aussicht auf die Eisenbahnfahrt, die vielen lieben Kinder dort und die kleine Geige ganz willig von Hanna fortführen.
Nicht so leicht ging es bei Zinna, als sie, wohl oder übel, wieder zu den Ihren zurück mußte. Wohl hatte die kleine Komtesse die Tante flehentlich gebeten, sie möchte vorher bei den Angehörigen von Zinna ein gutes Wort für sie einlegen, daß sie nicht gar zu sehr gescholten würde. Die Fürstin hatte auch den Joseph und seine Frau zu sich aufs Schloß kommen lassen und hatte ihnen zugunsten Zinnas auseinandergesetzt, wie sich alles zugetragen hatte. Doch als diese mit den Eltern fortgegangen und sie außer Sehweite des Schlosses waren, da ließ sich nicht vermeiden, daß die Daja, unterbrochen von heftigem Husten, sie mit einem Schwall von Worten anfuhr, und daß der Dade ihr einfach, ohne zu reden, ein paar tüchtige Hiebe über den Rücken gab, so daß Zinna noch am Abend auf ihrem Teppich kaum wußte, wie sie liegen sollte. Aber das nahm sie hin als etwas, was sich gehörte, und die Streiche taten lange nicht so weh wie das sichere Bewußtsein in ihrem Innern: »Nun ist alle Hoffnung dahin, nun hast du dein Heinerle für immer verloren!«