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Elftes Kapitel.

Wie die Großmama von alten Zeiten erzählt. – Die beiden Geschwister in der Dachwohnung. – Die Nähstube von Madame Reimer de Paris und von einem Musselinkleid, das Tränen verursacht. – Von einem Wildschwein mit elf Jungen, und warum Lene in eine Sommerfrische geschickt wird.

 

Die Familie Schlüter war wieder zurück, alle erfüllt von den schönen Tagen, die sie erlebt. Die Baronin hatte die alte Frau von Schömberg, ihre Mutter, vermocht, auf einige Wochen mit in die Stadt zu kommen, und Isa und Reserl waren glückselig, der Großmama alles zeigen zu können. Die Mutter der Kinder mußte so oft mit dem Vater in Gesellschaften gehen, da war es nun herrlich, jemand Lieben, in den sie sich sonst mit vielen andern teilen mußten, einmal ganz für sich zu haben. So wie Großmama interessierte sich niemand für Isas Schul- und Tanzstundenerzählungen, für ihre Mädchenfreundschaften und ihre Schwärmerei für Lehrer. Mit Reserl aber spielte sie Domino oder ließ sich alle ihre Puppen vorführen oder schnitt ihr Ketten und Ringelreihenkinder aus. Auch das Fräulein, Babette und Lene verehrten Frau von Schömberg, die so besonders freundlich mit einem jeden sprach und sich nach allem, was sie taten, und was sie erlebten, erkundigte.

Am schönsten für die zwei Enkelinnen war es, wenn die Großmutter behaglich mit ihnen zusammensaß – sie in dem tiefen, alten Fauteuil am Kamin, die Mädchen auf dem Teppich oder einer Fußbank kauernd – und dann erzählte, wie die Mutter noch ein Kind war, und wie furchtbar schwer es ihr damals gefallen sei, sie wegzugeben, die Älteste von all den Geschwistern.

»Da hat's bei mir daheim und bei Reserl im fernen Schloß manche Träne gegeben, aber um der kleinen Prinzessin willen, die allein war und keine Geschwister hatte, hielten wir beide aus,« sagte die Großmama. Und sie schilderte, wie die Geschwister alle Tage der Bötin eine gute Stunde entgegengelaufen seien, ob sie keine Briefe aus dem Schloß habe, und wie diese Briefe wie Märchen geklungen hätten, indem sie von seidenen Betten, goldbetreßten Dienern, prächtigem Spielzeug und Ponies, auf denen die zwei Kinder ritten, berichteten. – Glücklich sei das Reserl aber trotz all dem nicht gewesen, erst dann, als es ihr endlich gelungen war, das Herz des verwöhnten und etwas schwierigen Prinzeßchens zu gewinnen. Isa nickte.

»In Schömberg hörte ich, wie die Patin mit Mutter darüber sprach, und wie sie sagte, daß erst dort unter all den Kindern und bei dir, Großmama, sie gemerkt habe, daß, wenn man sich so recht lieb habe, man auch Opfer bringe, und daß man dann erst wirklich glücklich sei. Und wie sie einst nach Haus zurückgekommen und einen kleinen Bruder angetroffen habe, da sei es ihr nimmer so schwer geworden, nicht mehr der alleinige Mittelpunkt zu sein.«

»Und Prinzessin Isabella ist unsere Patin,« sagte Reserl voll Stolz.

Großmama hatte den zwei Enkelinnen hübschen himmelblauen Stoff mitgebracht, und Lene nähte die Kleider davon in ihren Freistunden. Da gab es oft Anproben und wieder Änderungen, und dabei hörte Lene auch so manche der Erzählungen, und in ihren Gedanken erschien ihr Schloß Schömberg als das schönste, das es geben könne. Ja, wer so was einmal sehen könnte! Babette war schon einige Male dort gewesen, die sagte aber, so eine Schloßküche wäre ihr viel zu groß, auch müsse man das Wasser noch am Brunnen unten im Hofe holen, und eine Straße mit Trottoirs sei doch auch viel bequemer, als wenn man immer solch einen steilen Schloßberg hinaufklettern müsse. Der Hauptgrund, warum es Babette daheim besser gefiel, war aber wohl der, daß in Schömberg unter den alten Dienstboten, besonders neben der nun zweiundachtzigjährigen einstigen Kinderfrau Ga, Babettens sechzehn Jahre Dienstzeit in gar nichts zusammenschrumpften.

Lene und Schorsch hatten in letzter Zeit eingehende Gespräche und Beratungen mit der alten Freundin, an denen zum Schluß auch die Frau Baronin regen Anteil nahm. Die Geschwister suchten eine kleine Wohnung, in der sie zusammen hausen könnten. Jetzt, wo Lene den vollen Tag bei Madame Reimer nähte, war es an der Zeit, daß sie die Güte des Schlüterschen Hauses nicht länger mehr in Anspruch nahm, und Lene konnte dann auch des Abends und Morgens für den Bruder sorgen. Des Mittags speisten sie vereint in einer naheliegenden Garküche. Noch einmal wurde bis ins kleinste erwogen, ob es denn nicht möglich wäre, den Großvater auch dazu zu nehmen. Aber die Einnahmen für den künftigen kleinen Haushalt fielen so knapp aus, daß sie kaum für die beiden reichten, nachdem Babette darauf bestanden hatte, daß ein Teil des Erworbenen zurückgelegt werden müsse. Außerdem erklärte der Großvater aufs neue, er könne und wolle nicht in die Stadt, und was er denn den ganzen Tag anfangen solle so mutterseelenallein in einer landfremden Stube. Der alte Mann hatte wohl recht, daß er blieb, wo er war. Infolgedessen konnten die Geschwister eine billige Wohnung im vierten Stock eines einfachen Hauses mieten. So hoch hätte ja der Großvater nie steigen können. Es waren zwei Stüblein unterm Dach mit schiefen Wänden und der Aussicht in einige enge Höfe und auf ein Stallgebäude. Aber der Ofen schien gut zu heizen, und die Lage war nahe bei dem beiderseitigen Arbeitsort. Einen freundlichen Blick vom Fenster aus vermißten sie nicht, da sie fast nie daheim waren.

Wie dankbar war Lene nun der Krämerin, daß sie ihr bisher die paar Möbelstücke aus dem Waldhäuschen aufgehoben hatte! Mit dem saubern Bett, der Kommode, Mutters Arbeitstisch und zwei billigen Stühlen war Lenes Zimmerchen ganz genügend möbliert, hingegen kostete Schorschs Einrichtung viel Kopfzerbrechen. Trotz allen energischen Widerstrebens beharrte der Großvater darauf, dem Schorsch sein Bett abzutreten. Er sagte:

»Du hast keins, und ich lege mich auf mein Kanapee, wo man gerade so gut schläft. Und denk nur, wie geschickt das ist, ich hab' dann viel mehr Platz im Zimmer, und an Weihnachten kann ich wieder einmal die ganze Krippe wie daheim aufstellen!« Der Großvater sagte immer so, wenn er vom Waldhaus sprach.

Schorsch mußte, so ungern er's tat, endlich nachgeben, aber erst, als Lene sich überzeugt hatte, daß es sich auf dem Kanapee wirklich gut liegen ließ, und daß man die Bettstücke den Tag über in einer Schublade, die sich in demselben befand, unterbringen konnte. Die Matratze und ein Kopfkissen waren entbehrlich, da das Sofa gut gepolstert war. Aus Mutters Federndecke, die Lene viel zu schwer war, konnte man gut zwei machen, die immer noch warm genug waren, und an Leintüchern und Bezügen fehlte es nicht. Den Schrank bekam Schorsch in seine Stube, und daneben stellte er seinen Koffer, Lene aber hatte sich eine Kleiderecke mit einem alten Vorhange gemacht, und ein tannenes Tischchen in der Mitte vervollständigte die Einrichtung, nicht zu vergessen ein Brett an der Wand, worauf sich einige Tassen, Töpfe und sonstiges Geschirr befanden.

Schorsch fühlte sich in der neuen Behausung gleich ganz behaglich. Es war ihm eine Wonne, seine Stube allein zu haben und nicht mehr mit den zwei andern Austrägern wie bisher schlafen zu müssen. Lene hingegen vermißte gar vieles, und sie dachte jeden Abend mit Wehmut an ihr so hübsches, behaglich eingerichtetes Zimmerchen bei der Frau Baronin. Dort war, wenn sie müde und oft recht spät nach Hause kam, Babette immer noch auf, die ihr in der hellen, warmen Küche ihr Nachtessen zurechtgestellt hatte. Wenn sie dann gegessen hatte und nicht mehr plaudern mochte, wozu Babette aber immer aufgelegt war, nahm sie ihr bereitstehendes Licht und legte sich ins Bett.

Hier war schon ein schlecht beleuchtetes Treppenhaus zu passieren. Unten, wo kleine Beamte und Kaufleute wohnten, ging's noch an, allein je höher sie kam, desto spärlicher war das Licht, so daß sie tastend ihre Stubentür suchen mußte. Gewöhnlich war's die Zeit, wo Schorsch in der Fortbildungsschule weilte. Lene zündete ihre Lampe an, denn es gab allerlei zu tun. Eine Flasche Bier für Schorsch nahm sie aus dem Lädchen im Erdgeschoß mit hinauf. Lene selber trank Tee. Das Wasser dazu mußte gekocht, das Feuer zu diesem angezündet werden. Dann gab's zu ordnen, zu flicken, nach dem Essen aufzuspülen.

Dazu war sie die Art der Mitbewohner nicht gewöhnt. Zeigte sie sich am Anfang freundlich gegen alle, wie sie's nicht anders wußte, so kamen ihr die Frauen mit allerlei Anliegen und Schwatzereien. Sagte sie aber, sie habe keine Zeit, und hörte nicht zu, was gequatscht wurde, so hieß es, sie sei hochmütig, und sie begegnete nun überall gehässigen Gesichtern. Wenn Schorsch nach Hause kam – es wurde gewöhnlich halb zehn Uhr – da hätte Lene gerne noch mit ihm geplaudert und sich über manches mit ihm ausgesprochen, aber der war dann todmüde, denn die Arbeit mit den Tieren, das Reinigen der Käfige, das Füttern und die unausgesetzte Aufmerksamkeit, die man dabei beobachten mußte, war keine geringe Sache, und dann wurde in der Schule auch noch Aufmerksamkeit verlangt. Schorsch hatte nie ein großes Mitteilungsbedürfnis gehabt, und so legte er sich gewöhnlich gleich, nachdem er gegessen hatte, schlafen, und Lene dann auch.

Aber sehr oft fand sie keine Ruhe, wenn das Kleinste bei der Schneidersfamilie in der Nebenkammer zahnte und in einem fort schrie, oder wenn die größeren Kinder husteten oder der Mann der Packträgersfrau unten in der dritten Etage angetrunken nach Hause kam und lärmte und wetterte.

»Kümmre dich nicht drum und leg dich aufs andere Ohr!« riet Schorsch.

Aber Lene konnte das nicht, obgleich sie ihren Schlaf sehr nötig gehabt hätte. Die feine Näharbeit den ganzen Tag über griff Kopf und Augen an. Und dann die Luft in den Stuben mit den vielen Nähmädchen! Wenn Lene auch jetzt bei der Madame sitzen durfte, so war die Türe nach dem Nebenzimmer doch offen, und der Duft von gar allerlei Sachen kam herein, besonders zur Vesperzeit, wo die Mädchen ihre Käsebrote aufwickelten und ihre Bierfläschchen entkorkten, die sie mitgebracht hatten. Viel gelüftet durfte, besonders im Winter der teuren Heizung wegen, nicht werden. Wenn Madame Reimer Anprobe hatte entweder im Salon nebenan oder auswärts, so übergab sie Lene jetzt die Aufsicht über die andern, was aber bald den Neid von diesen erweckte. Lene schwieg oft lange, wenn die Mädchen die Abwesenheit der Lehrherrin benützten und plauderten, lachten und sangen. Sie hatte ja bis vor kurzem gerne selber mitgemacht. Wenn aber die Arbeit dabei ruhte, wenn die Röcke nicht zusammengenäht, die Rüschen nicht gekraust, die Toiletten, auf deren Vollendung stets von allen Damen mit Macht gedrängt wurde, dadurch nicht vorwärts kamen, da mußte Lene mahnen, aber es wurde ihr dann bitterübel genommen.

»Man ist doch keine Maschine, man wird doch auch wenigstens einen Augenblick die Hände ruhen lassen dürfen.«

»Das ist uns gleichgültig, ob die Frau v. Soundso einen Tag länger auf ihren Staat wartet oder nicht.«

»Ist das auch recht, daß du's auf einmal mit der Madame hältst statt mit uns?«

So scholl's durcheinander, und eine besonders Kecke rief: »Gebt acht, die Madame und die Lene haben nun ein Kompagniegeschäft zusammen, und bald wird uns diese dann nicht mehr kennen, wenn sie in Sammet und Seide geht, wie's schon jetzt den Anschein hat, ha, ha, ha!«

Alle Mädchen wollten sich nun fast totlachen über diese Anspielung, denn Lene war, seit Babette damals so eindringlich mit ihr gesprochen, ihrer schlichten Kleidung treu geblieben, freilich oft mit schwerem Herzen, denn ein bißchen hübsch und geputzt wäre sie sehr gern gegangen.

Einmal war sie der Versuchung erlegen und hatte sich, hauptsächlich um dem Gehänsel zu entgehen, ein Musselinkleid mit Einsätzen und Garnituren gekauft und einen Federbesatz für den Hut gleichwie die Kolleginnen. Aber sie sollte wenig Freude davon haben. Als sie etwas unsicher am Sonntag in diesem Anzug der Frau Baronin begegnete, hatte diese sie erstaunt von oben bis unten mit der Lorgnette betrachtet und gesagt: »Ei, ei, Lene, ich kenn' dich ja gar nicht mehr wieder! Wenn du so elegant wirst, darf ich dir in Zukunft wohl nicht mehr die Kleider meiner Tochter anbieten?«

Lene war der Ton, in dem dies gesagt wurde, peinlich. Und als sie zu Babette kam, da wurde es gar arg. Erst sah sie diese starr an, dann sagte sie:

»Ja, wenn du so eine wirst und nun mit Flor und Spitzenzeug anfängst, das man in einem halben Jahr in den Kehricht werfen kann, dann passen wir nicht mehr zusammen!«

Lene fing an zu weinen und zu erzählen, wie man's mit ihr treibe. Und der Schorsch habe sich jetzt auch einen besseren Anzug anfertigen lassen, er sage auch, in der Stadt könne man halt nicht wie auf dem Dorf herumlaufen.

Auf Babette machte das alles keinen Eindruck. Mit der gleichgültigsten Miene von der Welt sagte sie endlich: »Tut, was ihr wollt, aber dann kommt mir nur nicht wieder mit euren schönen Plänen, zu sparen und eure Ersparnisse einmal dazu zu verwenden, um dem alten Mann dort oben aus seinem elenden Aufenthaltsort wegzuhelfen! Erst heut hat die Frau Wegmann gesagt, dem gehöre Ruhe und nicht das Jammerleben unter den Lumpenleuten. Am Sonntag habe sie ihn auf dem Waldbänkchen sitzen sehen. Der treibe es nicht mehr lange, hat sie gesagt, so alt und gebückt habe er dagesessen!«

Lene weinte noch mehr. Sie kam sich auf einmal so erbärmlich vor, und doch hatte sie nichts Böses getan, und des Großvaters Leid zu ändern, stand ja wirklich nicht in ihrer Macht. Aber sie horchte hoch auf, als Babette fortfuhr:

»Und was die Frau Wegmann noch anderes wußte, das ist das Neueste, daß es dem Ochsenwirt mit seinen Geschäften ganz miserabel gehen solle. Der hat zu viel spekuliert, und wie mit dem Waldhäuschen, so sei's ihm mit noch manch anderem gegangen. In der Zeitung stehe es schon lange wieder den Sommerfrischlern angepriesen, und er sagte, wenn's heuer wieder nichts sei, so verkaufe er das Gelumpe.«

Lene vergaß für den Augenblick alles andere, was sie vorher bekümmert hatte, und sie und Schorsch, der inzwischen auch gekommen war, um die Schwester zu einem Spaziergang abzuholen, blieben nun fest bei Babette sitzen, die heute keinen Ausgang hatte. Aber selbst der gute Tee, den diese später vorsetzte, und der Hefenkranz, den es immer am Sonntag gab, blieben vollständig ungewürdigt. Das, was die drei zusammen redeten, war zu wichtig.

Babette hatte Lenes Sparkassenbuch herbeigeholt, das sie ihr aufbewahrte, und Schorsch hatte auch sein Notizbuch herausgezogen. Er las Zahlen und berechnete laut, und Lene schrieb mit Bleistift das, was er sagte, auf ein weißes Blatt Papier, das eigentlich zum Zubinden der Einmachtöpfe bestimmt gewesen war, aber daran konnte man jetzt nicht denken.

Babette horchte auf und half nach, und als eine längere Reihe von Zahlen zusammengerechnet war, schüttelte sie mit dem Kopf und sagte:

»Es ist gar nicht daran zu denken! Wie haben wir nur auch miteinander so dumm sein können, an solch eine Möglichkeit zu glauben! Fünfhundert Mark habt ihr zusammen in den Zins gebracht, davon kauft man keinen Zigeunerwagen geschweige denn ein Haus!«

»Ach Babette, Babette, hätte ich mir nur nicht diesen dummen neuen Anzug gekauft!« jammerte Lene, und Schorsch verwünschte im stillen die Zigarren, die er da und dort geraucht, und die unnötigen Schoppen, die er getrunken. Das alles wollte er in Zukunft lassen und so noch mehr sparen als bisher.

Nun tröstete Babette: »Die paar Mark, die das gekostet, hätten die Sache auch nicht anders gemacht. Dreitausend Mark verlangt der Ochsenwirt, zweitausend gleich bar. Das könntet ihr ja wohl, wenn's gut geht, in etlichen Jahren zusammenbringen, aber wer weiß, ob der Großvater da noch lebt, und auf keinen Fall wartet der Ochsenwirt so lange mit dem Verkauf!«

»Ach Babette, wenn sich nur für diesen Sommer wenigstens einmal Mieter fänden, so wär' doch Zeit gewonnen. Ich würde ganz gewiß von jetzt ab jeden Pfennig zusammensparen und mir gar nichts mehr anschaffen, und Schorsch auch, wenn nur ...«

»Essen und trinken müßt ihr doch! Und wenn ihr auch all euer Verdientes zusammenscharren könntet, so tät's doch noch lange nicht reichen!« Babette fiel es schwer, das zu sagen, aber es war nun einmal so. Und nun goß sie noch einmal heißes Wasser zu dem inzwischen kalt gewordenen Tee und redete zum Trinken zu. Es nützte jetzt nichts, wegen all der vergeblichen Pläne auch noch diese guten Gaben verderben zu lassen.

Schorsch trank stillschweigend seine Tasse aus, aber den Kranz, den er sonst so gern aß, zerbröckelte er zwischen den Fingern. Dann sagte er plötzlich: »Wenn man Sommergäste finden könnte, ja, dann! Erst gestern hat die Frau Direktor, als sie mit dem Kleinsten im Wägelchen durch den Garten fuhr, gesagt, wenn sie nur in der Nähe der Stadt etwas mieten könnte für ihre Krampfhusten-Kinder. Der Doktor habe Waldluft verordnet, sie mögen aber nicht weit von daheim fort.«

Lene horchte auf, doch Babette meinte, es sei gescheiter, sich die ganze Sache jetzt aus dem Kopf zu schlagen. Selbst wenn das Waldhaus je wieder einmal die Heimat der Geschwister würde, was aber vermessen sei zu glauben, so könnten sie ja das gar nicht mit ihrem Beruf vereinigen.

»Aber natürlich könnten wir das,« sagte Schorsch, »ebenso gut wie die andern im Dorf. Die Lene sitzt ohnehin zu viel, und mir täte der Gang schon gar nichts schaden. Die Stadt ist auch groß, da hat so mancher vom andern Ende her gerade so weit zu gehen wie die Buchberger.«

»Jetzt trinkt und schwätzt nicht mehr über etwas Unmögliches!« mahnte Babette wieder. Aber es wollte keinem mehr etwas anderes einfallen; der Heimatzauber war über sie gekommen, und der ließ sich nicht so gewaltsam losschütteln ....

Der Sommer wurde heiß, – es war der dritte, seit Lene nun bei Madame Reimer arbeitete, – und die früher so runden und rosigen Wangen des Mädchens waren schmal und blaß geworden. Auch eine große Müdigkeit überkam sie jetzt oft, und der Kopf tat ihr manchmal zum Zerspringen weh.

»Die Lene hat die Bleichsucht, sie macht mir Sorgen,« sagte die Baronin zu Babette, die in der Küche eben die Läden schloß und dann alle Fenster öffnete, der grausigen Hitze wegen, wie sie sagte.

Lene war dagewesen, um der Frau Baronin eine leichte Toilette anzuprobieren, und da war dieser ihr schlechtes Aussehen und gedrücktes Wesen aufgefallen.

»'s ist schon länger, daß sie so elend ist und klagt,« sagte Babette. »Sie arbeitet zu viel, ich mag sagen, was ich will, und wenn sie dann heimkommt, so ist's glühend heiß in ihrer Stube, und womöglich näht sie dann noch bis in die Nacht hinein privatim für irgend jemanden. Sie ist neuerdings mächtig aufs Geldverdienen aus, und das ist ja recht. Aber dann hilft sie auch wieder ihrer Schneidersfrau bügeln oder der andern Hausfrau waschen, und all das zusammen ist halt zu viel, ich sag's immer. Sie sollte ein bißchen feiern und in guter Luft sein, aber Sommerfrischen gibt's halt für unsereinen nicht!« Babette fügte den letzten Satz in etwas ungutem Tone bei und rührte dabei in einer Pfanne voll Kirschen, die eingemacht wurden, und deren bläulichrote Farbe mit der von Babettes Gesicht übereinstimmte.

Die Baronin nahm Babette in der Hitze nichts übel, denn eine Köchin hat's da wirklich schwer.

Aber Lenes Befinden ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie sprach lange mit ihrem Manne darüber, und dann setzte sie sich spät abends noch an ihren Schreibtisch und schrieb einen Brief.

Alle im Hause hatten die nette, brave Lene lieb, und es war daher eine allgemeine Freude, als ein Antwortschreiben von der Großmama in Schömberg kam, das lautete:

»... Was Du mir über Lene Wepfer schreibst, hat mich stark bewegt, und sehr gerne lade ich das wackere Ding für ein paar Wochen zu uns in unsere gute Luft ein. Sie soll sich da einmal recht gründlich ausruhen, im Garten und im Wald sitzen, und unsere alte Ga wird dafür sorgen, daß sie auch gehörig ißt und hauptsächlich viel Milch trinkt. Ich erwarte sie nächste Woche, und wenn Ihr alle dann in den Ferien nachkommt, wird's ihr um so behaglicher sein, Eure bekannten Gesichter zu sehen ...«

Nun folgte noch die Angabe der Züge, wie Lene reisen sollte, und das Geld für die nicht kurze Fahrt war auch beigelegt.

Lene war wirklich sehr mit ihren Nerven herunter, und es war fast krankhaft, wie sie sich oft während der Arbeit nach Wald und frischer Luft sehnte. Da war's ihr, als täte sich ein Paradies vor ihr auf, als der Brief von Frau von Schömberg kam. Babette durfte beim Weckenholen die frohe Nachricht überbringen, und Lene lief rasch, ehe sie ins Geschäft ging, noch zu Schorsch, um ihr Glück zu verkünden. Sie kam aber im Augenblick gar nicht mit ihrer Nachricht an. Er stand hinter einer durch Weiden mit Holzpfählen verbundenen Umzäunung und beugte sich liebreich zu einer grunzenden Wildsau herab.

»Sieh nur, Lene, du kommst gerade recht! Elf Frischlinge haben wir gekriegt, alle gesund und tadellos.« Und indem Schorsch beständig mit dem von Mutterglück, aber auch von Besorgnis um seine Sprößlinge aufgeregten Tier liebreich sprach, nahm er eins nach dem andern von den gestreiften, wirklich herzigen Tierchen in die Höhe, um es auf seine Tadellosigkeit zu prüfen.

Lene fand die kleinen Tiere auch ganz nett, aber sie sagte, sie habe wenig Zeit, Schorsch möge sie nur bis zum Eingang begleiten. Er tat's, und als sie ihm erzählte, war auch er erfreut, daß seiner Lene so was Gutes bevorstand. Aber es war schwer, mit ihm zu gehen und zu gleicher Zeit zu sprechen, denn alle Tiere kannten ihn. Da kreischten die Papageie auf, dort schlug der mächtige Löwe mit dem Schweif, als er vorbeikam. Der schwarze indische Panther, der beständig im Kreise herumlief, blieb stehen und machte fast ein freundliches Gesicht, und im Affenkäfig entstand ein wahrer Aufruhr mit Zerren am Gitter, Hin- und Herschwingen und Schreien, daß Lene sich die Ohren zuhielt.

»Jetzt weißt du's, und ich gehe wieder. Das ist ja gar nicht zum Aushalten, dieses Gelärme!«

Aber Schorsch lachte und sagte: »Das ist kein Lärmen, das ist Sprechen, – du verstehst's nur einfach nicht!«

Ja, die Sprache der Tiere zu verstehen, das ist nur wenigen gegeben, und deshalb wußte der Herr Direktor, was er an Schorsch hatte. Der kannte nun längst ein jedes einzelne von den Tieren, sie alle liebten ihn wegen der Güte, mit der er sie behandelte, und folgten seinem Willen, selbst die Raubtiere, die sonst niemanden in ihren Käfigen duldeten.

Schorsch hatte es bei einzelnen zustande gebracht, daß er sich ihnen behufs gründlicher Reinigung der Käfige nähern durfte, oder wenn bei Erkrankungsfällen Hilfe not tat. Immerhin war dies sehr gefährlich, und der Herr Direktor vermied solche Experimente, wenn irgend möglich. Daß aber Jack, der Riesenelefant, der nicht immer gutmütig war, seinen Rüssel liebkosend um Schorschs Arme legte, daß der braune Petz ihm die Tatze durchs Gitter reichte und der große Schimpanse seine langen, dünnen Arme ihm um den Hals schlang und sich von ihm wie ein Kind huckepack schleppen ließ, dagegen konnte man nichts sagen, und dies alles trug sehr viel zur Erheiterung des großen und kleinen Publikums bei. Lene und der Großvater ängstigten sich immer ein bißchen bei Schorschs Handwerk, das ja nicht ohne Gefahr war, aber dieser meinte: »Wenn ich Maurer wäre, könnte ich herunterstürzen, in den Fabriken kommt man oft in die Treibriemen und als Eisenbahner unter die Räder. Gefahr gibt's überall!«

Gegen diesen Satz konnte niemand etwas einwenden, auch der Großvater nicht, als Schorsch ihn wirklich einmal an einem Sonntag mittag in einer Kutsche abholte. Das war ein Fest für die beiden Geschwister, obgleich der Schuster-Martin, als die Droschke vor dem Armenhaus hielt, sich am liebsten verkrochen hätte und nachher, als Schorsch ihn glücklich in seinen Sonntagsrock gebracht hatte, nur mit der größten Mühe zum Einsteigen zu bewegen war. Auch die steifen Glieder wollten nicht recht, bis Schorsch ihn einfach auf den Arm nahm und in die weichen Polster setzte. Auf dem Weg meinte er sich bei jedem ihm Begegnenden entschuldigen zu müssen. Erst in der Stadt, wo ihn die Leute nicht kannten, fing er an, sich zu freuen. Und dann im »Zolohogischen Garten«, wie Babette immer noch sagte, unter den herrlichen alten Bäumen, geführt von den beiden Enkeln, die ihn von Käfig zu Käfig, von Haus zu Haus, wo alle die merkwürdigen Tiere waren, führten, da wurde er ganz jung und lebhaft. Bei der Giraffe, die den Kopf so hoch oben hatte, daß man schier eine Brille brauchte, um ihn zu sehen, stand der Herr Direktor, und Schorsch stellte vor: »Das ist mein alter Großvater.«

Da hatte der Herr Direktor ihm, dem einfachen Schuster-Martin, die Hand gegeben und gesagt: »So, das freut mich! Der Schorsch ist ein braver Kerl, er soll so bleiben!«

Das war doch noch die allergrößte Freude für den alten Mann an diesem Tag gewesen. –

Lene eilte ins Geschäft, und als sie abgelegt hatte und Madame Reimer schon an ihrem Platz fand, entschuldigte sie sich, daß sie ein paar Minuten zu spät komme, und erzählte dann sofort von der Einladung, dabei zugleich um vier Wochen Urlaub bittend. Die Mädchen im Zimmer nebenan horchten hoch auf, und der Neid sprach aus einigen, wie sie sagten: »Hört nur die Lene! In die Sommerfrische will sie gehen wie die Vornehmen, und gar noch auf ein Schloß!«

»Die armen Kinder von den Ferienkolonien kommen auch auf Schlösser, da ist weiter nichts dabei!«

»Die hat sich's fein eingefädelt! Gerade wenn wir am meisten schwitzen müssen, läuft sie im Wald spazieren.«

»Die Lene sieht aber so elend aus wie keine von uns, die hat's nötig, daß sie ausspannt,« sagte eine Neue. Es war die Älteste der Packträgersfamilie, in deren Haus Lene wohnte. Das Mädchen hatte ihr gefallen, und sie hatte ihr die Stelle bei Frau Reimer verschafft.

Madame war im ersten Augenblick sehr erschrocken über Lenes Ansinnen, denn diese war ihr nahezu unentbehrlich geworden. Aber da sie wußte, daß besser zu arbeiten sei mit frischen Kräften als mit heruntergekommenen, so gab sie, wenn auch schweren Herzens, ihre Erlaubnis dazu.

»Es ist mir serr, serr ungeschickt, gerade jetzt,« – Madame hätte wohl zu jedem Zeitpunkt so gesagt – »aber ick 'offe, daß sie dann kommt mit rote Backen zurück und mit viel neuer Kraft zu die Arbeit!«

Lene versprach lächelnd, ihr möglichstes zu tun. Als sie aber im Verlauf des Vormittags, während sie auf dem großen Tisch eine seidene Schlepprobe zuschnitt, erwähnte, daß gerade in die Zeit, wo sie in Schömberg sein werde, auch der regelmäßige Besuch der Prinzessin Isabella von X. falle, da geriet Madame Reimer ganz in Ekstase und sagte:

»Wenn Sie werden macken das Bekanntschaft von diese Dame, so werd' Sie sik erinnern, daß Sie sein das reckte 'and von Madame Reimer de Paris, und daß Sie werd' bei occasion warm empfehlen dieses Firma!«

Lene sagte verlegen, sie glaube, daß ihr dazu nie Gelegenheit geboten werde, im günstigsten Falle bei einer Kammerfrau, aber dann wolle sie gewiß tun, was sie könne.

Die Nähmädchen horchten hoch auf bei diesem Gespräch, und als am Abend Lene freundlich wie immer von einer jeden unter ihnen sich verabschiedete, da gab's doch manchen ehrlichen Händedruck und Wunsch: »Viel Vergnügen, und vergessen Sie uns nicht ganz!« Nur die rotblonde Jette, die Lene – sie wußte selber nicht warum – nicht ausstehen konnte, rief ihr noch nach: »Ziehen Sie nur gewiß Ihr dunkelblaues Druckkattunkleid an und die alte schwarze Jacke, da werden Sie ja ein herrliches Modell abgeben für die Firma Madame Reimer de Paris


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