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Wie Isa ihr Zimmer aufräumen lernt und Babette findet, daß ein Frauenzimmer kochen und putzen, nicht nur nähen soll. – Von einem Schloß mit Zinnen, einem Pfarrhaus mit Wiese, einer Prinzessin und allerlei alten Bekannten. – Heimatzauber. – Warum Babette meint, daß Lene übergeschnappt ist, und nicht leidet, daß sie sich schöne Sachen kauft. – Was Schorsch zu erzählen weiß, und warum er »Juchhe!« schreit. – Vom Großvater und einer hohen, hohen Mauer.
Zwei Jahre später. Bei Baron Schlüters in St. ist große Frühjahrsputzerei. Die Winterfenster sind ausgehängt, und frischgewaschene Vorhänge werden aufgemacht. Zwei Scheuerfrauen hantieren mit nassen Lappen und Besen, und der Diener mit der am Fuß angeschnallten Parkettbürste macht fast wie ein Tanzmeister Windungen und Bewegungen im Salon, dessen Boden schon beinahe wie ein Spiegel glänzt.
In Isas kleinem Zimmer, das ihr seit kurzem eingeräumt worden, stehen all die hübschen, niedlichen Dinge, die eine Mädchenstube zieren, vereint auf einem Tisch in der Mitte, dabei eine große Schüssel mit warmem Wasser und daneben Seife, Schwämme, Bürstchen u. s. w. Die nun vierzehnjährige Isa wischt gerade eifrig einem Porzellanengelchen die Pausbacken, bürstet dann mit viel Seifenverschwendung einer Rokokoschäferin den Staub aus den Locken und den Falten des gebauschten Röckchens. Dann trocknet sie mit einem weichen Tuch die gesäuberten Figuren ab und betrachtet mit Vergnügen, wie nun alles glitzert und glänzt, während das schmutzige Wasser in der Schüssel beweist, daß die Arbeit nicht vergeblich war.
»Ehe du da warst, Lene, waren mir solche Arbeiten greulich. Babette wollte, daß immer alles schon fertig sei, ehe ich nur angefangen, und Mama hatte nie recht Zeit, mir etwas zu zeigen.«
Isa sagte dies zu einem einfachen, etwa vier Jahre älteren Mädchen als sie, das neben dem Tisch große und kleine Bilder abstaubte und die Rahmen dann glänzend rieb.
»Ich hab' ja selber erst von Babette die Behandlung der feinen Sachen gelernt, und sie hat viel Mühe mit mir gehabt, Baronesse,« sagte Lene Wepfer bescheiden. Einfach und bescheiden sah das einstige Lenele vom Waldhäuschen, das nun seit einem Jahre im Hause bei Baron Schlüters war, überhaupt aus. Die dunkeln gescheitelten Haare legten sich um ein braunes, schmäler gewordenes Gesicht. Eine Stumpfnase und der etwas große Mund waren nicht gerade schön, aber die langen schwarzen Wimpern, die Lene von der Mutter hatte, und der gute, wenn auch ein bißchen ernste Ausdruck machten, daß man das junge Mädchen gern ansah.
Frau von Schlüter hatte Wort gehalten und das Versprechen, das sie einst der neukonfirmierten Lene gegeben, eingelöst. Sie wollte ihr behilflich sein, später eine tüchtige Kleidernähterin zu werden, und zu diesem Zweck hatte sie das Mädchen nun fast ein Jahr zu sich ins Haus genommen. Lene schlief bei Babette und half dieser und den andern Leuten im Haus gern und willig in den Stunden, wo sie nicht bei Madame Reimer, einer der ersten Kleidermacherinnen der Stadt, nähte. Sie hatte in der strengen Lehrzeit bei der Krämerin vor allem gelernt, sich zu schicken, die Augen aufzumachen und die Zeit einzuteilen, und das kam ihr nun sehr zu statten. Wohl war es ein großer Unterschied, als sie von dem immerhin bäuerischen Haushalt des Schultheißen in die Stadt kam, und die andere Art des Sprechens, der Manieren und des Arbeitens fiel ihr anfangs schwer. Lene hatte hier wieder eine ganz neue Schule durchzumachen. Und wenn sie zuerst glücklich darüber war, daß sie das Schelten der Krämerin und ihre rauhe Stimme nicht mehr zu hören brauchte, so mußte sie sich nun an die Stadtdienstboten gewöhnen, die sie hänselten und verspotteten, und auch an Babette, die, gerade weil sie ihr wohlwollte, beständig tadelte und hinter ihr her war.
»Lern' du nur alles, das Grobe und das Feine! An nichts trägt man zu schwer, und man kann nicht wissen, wo man's einmal braucht. Und wenn ein Frauenzimmer nur nähen kann und nicht auch putzen und kochen und einteilen, so verschlampt es!«
Heute war's ein Glück, daß Lenes Nähatelier wegen eines Todesfalles geschlossen war. So konnte sie tüchtig mithelfen, wo es not tat, da Babette in der Küche Handwerksleute hatte, das Hausmädchen Geschirr reinigte und das Fräulein bei Thereschen, der Siebenjährigen, im Schulzimmer sein mußte. In ein paar Tagen, über Ostern, wollte die Herrschaft verreisen, da sollten vorher die Zimmer wenigstens fertig sein.
»Wenn es gilt, arbeite ich gern,« sagte Isa und stürzte eine Schublade ihres Schreibtisches, um den Inhalt nachher in schönster Ordnung wieder einzuräumen.
Die Mutter wünschte, daß Isa nach und nach auch etwas vom Hauswesen lernen sollte, denn sie selber vermißte es sehr, daß sie nicht mehr davon verstand. Wohl war sie als Älteste einer Reihe von Geschwistern auf einem Schloßgute praktisch gewöhnt worden, aber mit zehn Jahren war sie, das Reserl von Schömberg, zu einer kleinen Prinzessin in die Residenz gekommen und war bei dieser nicht nur ihre ganze Kinderzeit über als Gespielin verblieben, sondern auch noch etliche Jahre als Hofdame, als Prinzessin Isabella sich ins Ausland verheiratete. Baron Schlüter war Offizier. Er hatte einst den beiden jungen Damen Reitstunde gegeben, und Therese von Schömberg hatte um seinetwillen ihre geliebte Prinzessin verlassen. Aber es blieb auch nachher noch ein inniges Verhältnis zwischen den beiden Gespielinnen. Prinzessin Isabella, die keine Kinder hatte, war die Patin von ihres Reserls Kindern. Isa trug ihren Namen. Heinz, der jetzt ein Kadett geworden, hatte sich seiner guten Zeugnisse wegen schon in der fernen Residenz bei der fürstlichen Patin in seiner neuen Uniform vorstellen dürfen, und Thereschen, das jüngste der Schlüterschen Kinder, war ihr ausgesprochener Liebling.
»Die sieht dir am meisten ähnlich, Reserl, und ist auch so ein gutes, braves, kleines Ding, wie du eines warst,« sagte die Prinzessin. Trotzdem ihr Wohnort weit entfernt war, sah sie die Baronin Schlüter mit den Kindern doch alle Jahre einmal für einige Tage. Es war der im Trubel eines großen Hofes lebenden Frau eine Freude und Erquickung, die Jugendfreundin bei deren Mutter, der lieben, alten Frau von Schömberg, zu treffen, bei der das Prinzeßchen einst mit ihrem Reserl gar schöne Ferienzeiten hatte verleben dürfen.
Wie immer im Frühjahr, wenn die Bäume blühten, stand auch jetzt wieder diese Reise bevor.
»Ich freue mich furchtbar auf die Großmama und auf die Patin und auf Tante Ninni und Minni und auf die Onkels und alle dort,« sagte Isa während der Arbeit, die sie zusammen verrichteten, gewiß ein dutzendmal. Und sie erzählte Lene von dem alten Schloß auf dem Berg, der Halle mit den Rüstungen, wo gegessen wurde, den schönen Pferden von Onkel Dieter, dem nun das Gut gehörte, und von dem uralten freundlichen Herrn Pfarrer und seiner Schwester Erdmuthe, bei der man den besten Kaffee und den herrlichsten Napfkuchen bekam. »Auf eine Wiese geht der Pfarrgarten hinaus, Lene, so grün und so voll Blumen, wie man sie nirgends mehr findet. Ein Bach fließt vorbei, und von Mutters Mädchenstube im Turm, wo ich schlafen darf, erblickt man den Wald, und Schwalben umflattern die Zinnen. Es ist wie in einem Märchen, und Mutter sagt, der Zauber der Heimat umwehe einen dort!«
Isa konnte nicht fertig werden, wenn sie von Schömberg sprach, und Lene hörte so gern zu. Und währenddem Bücher abgestaubt und Deckchen gebürstet und ganz zuletzt auf Schreib- und Nähtisch all die kleinen hübschen Dinge wieder sorgsam und sauber aufgestellt wurden, schweifte ihre Phantasie an diesen so herrlich geschilderten Ort. Aber ihre Gedanken, angeregt durch die Frühlingsdüfte, die zum weit geöffneten Fenster hereinkamen, kehrten sich auch zu dem, was ihr selber das Höchste in der Welt war, zum Häuschen im Walde. Dort sangen jetzt auch die Vögel. Der wilde Kirschbaum, die Schlehen am Zaun und die Aurikeln im Garten blühten. So schön wie die Waldwiese dort war die in Schömberg sicher nicht, und so heimelig wie die Giebelstube, in der die Mutter mit ihren Kindern geschlafen hatte, konnte selbst eine Schloßstube mit Zinnen nicht sein.
Ja, der Heimatzauber, der bewegte in Wehmut und Sehnsucht Lenes Herz in derselben Weise wie das Innere ihres Schorsch, der Ausläufer in einem Glasgeschäft war, und das des alten Mannes in der Armenhausstube droben im einsam gelegenen Dörflein. Ach, das Heim – das liebe, traute Heim!
Und Lene erzählte nun ihrerseits von Wald und Garten, vom Brunnen und all den Tieren, und Isa meinte:
»Wenn ich das große Los gewänne oder auf einmal furchtbar viel Geld von jemand bekäme, dann würde ich euch gleich das Waldhäuschen wieder kaufen!«
»Das ist sehr gut von Baronesse, aber so etwas geschieht nie im Leben!«
Lene erwiderte es in mutlosem Tone und fuhr dabei mit dem Staubwedel über eine Büste vom Kaiser und Bismarck, während Isa noch einige Albums auf einem kleinen Tischchen ordnete.
»Fertig sind wir!« rief sie, als ihre Mutter ins Zimmer trat und nach einem freundlich grüßenden Blick die beiden lobte, daß alles so frisch und sauber aussehe.
»Da können wir ja am Ende morgen schon reisen. Der Salon und Vaters Zimmer sind auch bereits wieder eingeräumt, und wenn Fräulein Susanne mit Thereschens Lernen auch abbrechen kann, so gewinnen wir einen Tag an den Ferien. Heinz trifft ja heute schon in Schömberg ein!«
Die Baronin besprach sich nun mit Babette, und in der Schulstube, wo die achtjährige Therese von Fräulein Susanne unterrichtet wurde, fand sich auch kein Hindernis.
»Mir ist's recht, wenn sie gehen,« sagte Babette. »Eine Küche kann man doch viel besser weißen und malen lassen, wenn man nicht nebenher für die Herrschaften darin kochen muß!«
Lene tat's so leid, daß sie die zwei nächsten Tage – es war Dienstag und Mittwoch in der Karwoche – Babette nicht so helfen konnte, wie sie gewünscht hätte. Es gab gerade für Ostern noch besonders viel Arbeit bei Madame Reimer zu erledigen. Lene war nun längst schon über die Anfangsarbeiten, wie Röckeeinfassen, Stoßannähen, Volantsfälteln u. s. w., hinüber und durfte bereits einfache Blusen und Röcke machen.
Heute vertraute ihr Madame Reimer sogar das selbständige Garnieren einer feinen Krepptoilette an, und als Lene mit ihren geschickten Fingern die Säumchen, Spitzen und Felbeln wirklich hübsch und elegant zustande brachte, da lobte sie die lebhafte Madame Reimer, die eine geborene Französin war, in ihrem gebrochenen Deutsch vor allen andern. »Ah, das ab' Sie gemakt rekt ibsch! 'ier nok muß eine Schleife 'er, und da mehr pli.« Madame Reimer bog und wendete mit ihren gewandten Händen den Kragen und die Manschetten und hielt dann die duftige Taille etwas entfernt, um einen besseren Gesamteindruck zu haben. Nochmal nickte sie befriedigt, und mit einem: » C'est bien – es ist gut!« hing sie den fertigen Anzug über einen der vielen Ständer.
Am Abend – es war beinahe neun Uhr, bis die Nähmädchen entlassen werden konnten – kam Lene strahlend vor Glück nach Hause.
»Babette, Babette, hören Sie nur, was geschehen ist! Madame Reimer ist zufrieden mit mir, und ich brauche künftig nicht mehr unter den Lehrmädchen zu sitzen, sondern komme in das Zimmer zu ihr, und statt einer Mark zwanzig Pfennig für den Tag bekomme ich nun zwei Mark, ganze zwei Mark im Tag. Babette, volle fünfzig Pfennig mehr als Schorsch!«
So lebhaft und aufgeregt hatte Babette das sonst meist stille Mädchen noch gar nicht gesehen, und als Lene ihren Hut auf den Herd, die Handschuhe um ein Haar in den für sie bereit gestellten Suppenteller warf und dann eine Kartoffel fast ungeschält in den Mund stecken wollte, da sagte die alte Köchin kopfschüttelnd:
»Wirst mir doch nicht überschnappen, Mädel? Das ist schon so manchem vor Übermut passiert, denn Hochmut kommt vor dem Fall!«
Aber nach diesen schrecklichen Prophezeiungen freute sie sich doch von ganzem Herzen mit Lene und schwelgte mit ihr in Gedanken an das heidenmäßig viele Geld.
»Jetzt wird aber gleich in der nächsten Woche nach den Feiertagen ein Sparkassenbuch angelegt, das sag' ich dir. Und sofort, jeden Samstag abend, wenn du dein Geld kriegst, läßt du's gleich einschreiben. Du weißt, ewig kannst du bei uns im Haus nicht bleiben, besonders wenn du jetzt nur noch nähst und gar nichts mehr helfen kannst, da mußt du dir ein eigenes Loschih nehmen!«
Lene nickte zustimmend.
»Aber einen Sommerhut und ein helles Kleid und auch Handschuhe muß ich mir zuerst anschaffen, dann will ich sparen!« Lene sagte es als etwas Selbstverständliches.
»Ja warum nicht gar! Das wäre so etwas! Fang nur so an, dann kannst du sehen, wo du mit deinem Geld hinkommst!« knurrte Babette und schlug mit ihrem großen messingnen Fingerhut dröhnend auf den weißgescheuerten Küchentisch. Sie stopfte Spültücher und glättete auf diese Weise das zugestopfte Loch.
»Aber ich muß doch!« begann Lene wieder zaghaft.
»Was mußt du? Willst du mir jetzt auch solche Sachen machen wie die neumodischen andern?«
Babette biß im Unmut den groben Faden, mit dem sie flickte, ab und knüpfte ihn dann mit ungeschickten Fingern wieder an. Das Nähen war nicht ihre starke Seite.
»Also einen neuen Hut, sagst du, müssest du haben, womöglich mit all dem modernen Firlefanz und einem ganzen Gemüsegarten darauf, wie sie's jetzt haben? Ich sag' dir, du trägst dein nettes einfaches Strohhütchen mit dem blauen Band, das dir die Baronesse geschenkt, getrost auch am Sonntag. Und was ein helles Kleid anbetrifft, so kannst du dir ja gleich eins bei Madame Reimer selber bestellen, wenn du so reich bist, und womöglich auch einen weißen Unterrock dazu und helle Glacés.«
»So haben sie's alle!« sagte Lene.
»Alle, – so! Und weil sie alle Narren sind und ihr mühsam Erworbenes an Staat hängen und im Alter dann in Lumpen gehen, willst du's auch so machen? Wozu hast du denn dein hübsches rosa Kleid, das man wieder waschen kann, und die freundliche himmelblaue Bluse zu dem guten dunkelblauen Rock von der Frau Baronin? Und einen sauberen grauen Lüsterunterrock hast du von mir, und schwarze Filethandschuh oder meinetwegen braune gewobene kannst du dir ja kaufen!«
Babette hatte sich ganz in Eifer hineingeredet, und Lene saß ordentlich erschrocken da.
»Ihr habt ja recht, Babette, aber man ist eben auch jung, und wenn einem so viel Schönes durch die Hand geht, und wenn alle so geputzt sind« ... Lene redete sich schon wieder in Eifer, aber Babette kehrte sich nicht daran.
»So ist eine Einfache gerade unter all den Aufgedonnerten eine wahre Wohltat!« sagte sie. »Schau doch unsere Herrschaften an, wie einfach die auf der Straße gehen, und man merkt daran gleich, daß sie etwas Rechtes sind. Gerade so ist's auch unter den Dienstmädchen und Arbeiterinnen. Die Richtigen, die etwas auf sich halten, erkennt man auf zehn Schritte an ihrer Adrettheit und Sauberkeit, aber nicht an langen Ärmeln, mit denen sie alles auswischen, und an Volants, während unter dem Kleid oft kein ganzer Strumpf ist.«
Lene mußte im stillen Babette recht geben, und sie nahm sich vor, nachher noch rasch ihr nett gemachtes rosa Kleid einzuseifen, damit sie's für die Festtage ganz frisch habe. Da läutete es an der Hausglocke.
»Das wird Schorsch sein! Vielleicht war er am Sonntag daheim und weiß was vom Großvater.«
Lene beeilte sich zu öffnen und kehrte mit dem Bruder zurück, der ein stattlicher, stämmiger Bursche geworden war. Babette hatte den braven, stillen Menschen von jeher sehr gern und nötigte ihn, Platz zu nehmen.
»Ich hab' noch ein Stück Wurst, das mir zu viel war, und meinen Most kannst du auch trinken, ich schlaf' dann besser,« sagte sie und schob ihm beides zu, während Lene für ihn ein Stück Brot um den ganzen Laib herum abschnitt. Die Frau Baronin hatte es ein- für allemal erlaubt, weil Schorsch so schwer arbeiten mußte und immer Hunger hatte.
Heute schmeckte es ihm aber sichtlich nicht so gut, und nachdem Lene dem Bruder ihr Glück verkündigt hatte, fragte sie etwas mißmutig:
»Was hast du denn? Warum bist du so einsilbig? Kannst doch reden und dich mit mir freuen!«
»Ich freue mich ja, und 's ist mir recht, wenn's dir wenigstens gut geht,« erwiderte Schorsch kleinlaut, ohne sein bisheriges Wesen zu ändern.
Und dann erzählte er, nicht klagend, aber in niedergedrücktem Tone, daß sein Beruf ihm eben oft sehr schwer falle. »Ich weiß ja, ich hab's tausendmal besser bei dem freundlichen Herrn Sturr, der immer selber nachschaut und uns extra bezahlt, wenn's oft noch bis in die Nacht hinein zu packen gibt, als beim Buller. Und die Frau ist schon manchmal gekommen und hat uns einen Trunk oder etwas extra zum Essen gebracht, und zu frieren brauchen wir auch nicht im Packraum, dafür wird gesorgt. Aber dort hab' ich halt meinen Hans gehabt und war deshalb viel glücklicher.«
»Sei froh, daß du nicht mehr mit anzusehen brauchst, wie man ein Tier plagt,« tröstete Babette.
Schorsch seufzte: »Das bin ich auch, aber mir fehlt halt etwas, und ich weiß, das ist undankbar. Der Packsaal ist ja so geräumig, und all die schönen Tassen und Gläser und Figuren einzupacken, ist eigentlich ganz lustig. Aber oft wird mir's trotzdem so eng dabei, daß ich nur auf und davon möchte!«
Schorsch reckte und streckte sich, und Babette dachte im stillen: »Ist das ein mächtig großer, kräftiger Mensch!«
»Wenn du nachher die Pakete austrägst, so bist du ja dann draußen,« sagte Lene.
»Ja, das schon, aber halt nicht im Grünen und im Wald, und ich muß eben immerfort an all das Lebendige denken, das wir gehabt haben, und wie wir's pflegen durften, und wie alles an einem hing.«
Babette meinte, den Mohrle, den lasse sie sich noch gefallen, ja, der sei recht gewesen, aber das andere Viehzeug mache doch furchtbar viel Arbeit und Schmutz, und sie täte sich, wenn sie eine eigene Stube hätte, nie mit Vögeln oder Katzen oder gar solchem Schlangenzeug, wie's der Großvater gehabt, befassen, das gehöre in den Zolohogischen.
Babette sagte beständig so, so oft die Schlüterschen Kinder sie auch eines andern belehrten. Aber Schorsch genierte die falsche Aussprache dieses Wortes nicht. Denn als er's hörte, wurde er nun ganz lebendig und trank und aß selbst noch ein zweites mächtiges Stück Brot, das Babette mit Butter schmierte. Das Wenige, das ihn so freute, war nämlich, daß seine Gänge ihn oft an dem Tiergarten vorbei oder auch quer durch denselben führten, und der einzige Tadel, den er von Herrn Sturr bekam, war, daß Schorsch in dieser Gegend sich stets zu lange aufhielt und dann zu spät heimkam. Heute hatte er's z. B. dahin gebracht, daß der helle Kragenbär aus Malaka ihm ganz manierlich das Brot aus der Hand nahm und nicht schnappte, wie er tat, wenn Kinder es ihm reichten und dann aus lauter Angst wieder zurückgingen. Und von der Fischotter, die sonst für so bös galt, erzählte er allen Ernstes den beiden Frauen, sie sei so arg brav, wenn man still bei ihr stehen bleibe, und einmal sogar – man möge es ihm glauben oder nicht – habe er sie deutlich singen hören.
»Nicht ganz singen,« verbesserte er sich, als die zwei über diese Erzählung laut lachen mußten. »Natürlich nicht singen wie ein Mensch oder ein Vogel, aber doch fast wie ein Hahn, und wenn ich in denselben Tönen mit ihr rede, so antwortet sie mir!«
Schorsch hätte noch lange von seinem Lieblingsthema gesprochen, aber Babette war nun müde und wollte zu Bett. Die Geschwister aber machten miteinander aus, daß sie am Ostersonntag zusammen den Großvater besuchen wollten.
»Frau Wegmann, die ich gestern traf, sagt, der Großvater bekäm' es immer schwerer mit dem Christian, der jetzt gar nicht mehr aus dem Bett herauskäme, und den man ganz verpflegen müsse,« sagte Schorsch noch im Fortgehen. »Sie meint auch, der Großvater nehme so ab, und ob wir ihn denn nicht aus dem Armenhaus herausbekommen könnten.«
Lene stand mit dem Licht in der Hand da, um Schorsch hinunterzuleuchten. Die Augen standen ihr voll Tränen. Wie oft hatte sie schon mit dem Großvater das besprochen, und jedesmal hatte er den Gedanken daran fast mit Heftigkeit zurückgewiesen. »So bin ich geführt worden, und da hab' ich zu bleiben, und ihr seid auch viel zu jung, um überhaupt Pläne zu machen,« eine Ansicht, die Babette mit Macht unterstützte.
Am Ostersonntag wanderten die beiden Geschwister in aller Morgenfrühe zusammen durch den Wald dem Heimatdorfe zu. Es war fast wie einst, als sie noch Kinder waren, nur daß Schorsch heute beinahe etwas Ausgelassenes an sich hatte, was Lene gar nicht an ihm kannte. Darüber befragt, sagte er einmal über das andere: »Wart nur – wart nur, bis wir beim Großvater sind, aber dann gibt's was Neues! Nicht nur du kannst ihm was erzählen, heut weiß auch ich etwas. Juchhe!« Und der sonst so ruhige Schorsch warf seine Mütze in die Höhe und fing sie wieder auf, setzte in mächtigen Sprüngen einem Hasen nach, der über den Weg lief, und rief dem Kuckuck in übermütigem Tone zu:
»Schrei du heut nur! Ich brauch dich nicht – brauch dich nicht – heut nicht und morgen nicht – Kuckuck, Kuckuck!«
Lene unterdrückte kopfschüttelnd ihre Neugier, denn zu fragen, wenn Schorsch nicht antworten wollte, war ja gänzlich unnütz, das wußte sie von jeher. So zog sie vor, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, die waren ja heute auch so froh. Und als sie zusammen einen Fußweg einschlugen und durchs weiche, dunkelgrüne Moos wandelten, da kam ihr das Singen, und ein Lied ertönte nach dem andern; sie wußte ja von der Mutter her so viele.
Die Mutter! Unwillkürlich wurden nun die Weisen ernster und gehaltener, und als sie am Scheideweg von links oben herab das alte Heim sahen, da wurde auch Schorsch wieder stiller, und er begleitete mit halblautem Pfeifen Lenes Gesang:
Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Wort mir immerdar,
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein, was mein einst war!
»Wollen wir daran vorbei?« fragte Lene, und Schorsch nickte. Sie stiegen den steilen, schmalen Weg hinauf, auf dem die Mutter immer so schwer zu ziehen gehabt hatte. Er war noch viel schlechter als einst, und das Waldhäuschen erst, wie vernachlässigt und verwittert sah das aus! Es schien unbewohnt, die Läden waren geschlossen, das Gärtchen ungepflegt. Am Brunnen wucherte Unkraut, und die hübschen bunten Farben an den Läden und am Gartenzaun waren abgegangen und verblichen. Nur ein Plakat vorn am Eingang des Hauses war mit bunten Buchstaben erneuert worden:
»Zu vermieten für Sommergäste.«
»'s ist halt zu abgelegen! Unsere Stuben sind für die Stadtleute zu niedrig, und das Essen, das die Ochsenwirtin geliefert hat, sei nicht sorgfältig gekocht gewesen,« sagte Lene. »Den ganzen vorigen Sommer hat's ihnen leergestanden, und für dieses Jahr hat er trotz Annoncierens in den Blättern auch noch keinerlei Angebot.«
»Seine Spekulation ist gründlich ins Wasser gefallen. Geschieht ihm aber schon recht!« Trotz seiner glücklichen Stimmung war Schorschs Stimme fast hart, als er so sprach.
Nach einem flüchtigen Rundgang ums Haus – sie mochten sich nicht lange aufhalten – gingen die beiden die Wiese, die voll Vergißmeinnicht und Schlüsselblumen stand, hinauf, direkt dem Dorfe zu. Lene pflückte im Vorbeigehen einen Strauß davon, und dann eilten sie zum Großvater.
Der wußte, daß sie um diese Zeit kamen, aber er schien sie nicht zu erwarten. Als sie in die Stube traten, wandte er ihnen den Rücken, denn er stand drüben an Christians Bett, der seine Krämpfe hatte und schrie. Der Großvater suchte ihn zu beruhigen.
»Setzt euch einstweilen! Es währt schon recht lange, daß er so ist, da muß es doch bald einmal aufhören.«
Es hörte auch auf, wenn man Geduld hatte, und der Großvater konnte nun weg und die beiden begrüßen.
»Hab' noch für gar nichts sorgen können. Jetzt seid ihr hungrig und durstig und müßt warten! Wollt ihr Kaffee oder Bier?«
Der Großvater sah so müde aus, und Lene stellte der Einfachheit halber rasch Gläser hin, und Schorsch holte Bier, das über der Straße zu haben war. Dann zog er aus seiner Tasche vier Würste heraus. »Für jeden von uns eine, dem Großvater zwei.« Dieser schnitt Brot auf, und nun wurde es gemütlich.
»Erzähl' du zuerst, Lene!«
»Nein du, Schorsch!«
»Nein, was ich zu sagen habe, ist lang und kommt nachher,« eiferte dieser, und der Großvater sah fast ängstlich von einem zum andern.
»Ihr macht einen ja ganz neugierig,« sagte er. »'s wird doch nichts Schlimmes sein?«
Da schilderte nun Lene, was sie bei Madame Reimer erlebt, und verlor sich dabei in ihrem Glück so in Beschreibung der Garnituren der betreffenden Taille, daß Schorsch sie endlich unterbrach und sagte: »Jetzt komme aber ich an die Reihe,« was dem Großvater recht war, denn von dem andern hatte er nur das wohlig empfunden, daß man mit seiner Lene zufrieden sei.
»Also jetzt paßt auf, Großvater, Lene, jetzt kommt was!« begann Schorsch. »Ihr wißt doch, daß mir's so schwer war in meinem Geschäft, aber weggehen wollte ich nicht; das tut man doch nicht nur aus dem Grunde, weil man gern etwas anderes möchte.«
Der Großvater nickte beifällig.
»Aber nun hört! Also gestern mittag trag' ich Sachen aus, – auf Ostern gibt's ja immer besonders viel – und einen großen Zwerg von Ton, der einen Schiebkarren führt und in einen Park kommt, mußte ich zu dem reichen Bankier Lachmann tragen. Auf dem Rückweg komme ich durch den Tiergarten.«
»Natürlich, Brüderle, wieder den Umweg gemacht trotz dem vielen Geschäft,« scherzte Lene, aber Schorsch eiferte:
»Nein, diesmal nicht, mein Weg führte mich wirklich hindurch. Und dann blieb ich, wie immer, vor meiner Fischotter stehen und vor meinem Bären und dann vor meinen Löwen.«
»Sag' doch nicht immer ›meine‹, sie gehören dir doch nicht!« schaltete Lene ein, aber Schorsch wurde nun ärgerlich über das Unterbrechen.
»Ob sie nicht mir gehören, das hör' jetzt! – Also wie ich am Raubtierhaus stand und mit der Löwin redete, die so herzige drei Junge hat, und die jedermann anknurrt, mich aber allem Anscheine nach ganz gern hat, da sagte auf einmal eine Stimme hinter mir: ›Woher verstehen Sie es, so gut mit den Tieren zu verkehren?‹ Es war der Herr Direktor vom Tiergarten, und ich wußte nicht recht, was ich antworten sollte. Aber dann fragte er mich, wer ich sei, und wie ich heiße, und was ich verdiene, und ob ich schon Tiere besorgt hätte. Und als ich ihm von den unsrigen daheim und von meinem Hans geredet, da besann er sich einen Augenblick, und dann sagte er: ›Streifen Sie einmal Ihren Ärmel zurück!‹ Ich tat's, weil er's wollte, und dann befühlte er meine Muskeln und sah mich ganz genau von allen Seiten an. Darauf sagte er: ›Wollen Sie Tierwärter in meinem Garten werden?‹ Großvater, Lene, mir ist dabei ganz anders geworden! Und er sprach weiter, ich könne dann vom Morgen bis zum Abend da sein und dürfe all die Tiere pflegen und füttern helfen und sie ansehen, wenn ich mag, und mit ihnen reden.
›Sie verstehen die Tiersprache! Ich hab' Sie schon manchmal beobachtet,‹ sagte der Herr Direktor noch weiter. Und dann hat er gesagt, ich könne eintreten, wann ich wolle; seinen bisherigen Wärter habe ein Wolf gebissen. Und, Großvater, Gehalt bekomme ich noch einmal so viel als jetzt! Siehst du, Lene, jetzt bin ich dir über! Und bleiben könne ich, solang' es mich freue, – mein Lebenlang, wenn ich wolle, sagte der Herr Direktor, – natürlich mit Lohnerhöhung und vorausgesetzt, daß die Tiere mich gern hätten!«
»Oder dich auch beißen wie den andern,« sagte Lene. Aber sie und der Großvater konnten gegen solch ein Glück nicht mehr ankommen, obgleich sie mancherlei Bedenken hatten. Sie mußten sich schließlich mit ihm freuen, mochten sie wollen oder nicht.
»'s ist alles recht, Büble,« – der Großvater nannte den himmellangen Schorsch noch immer so, – »'s ist alles recht, wenn nur nicht so viel Gefahr dabei wäre! Denk' nur, der Unterschied: unsere Bleß, der Mohrle und die Blindschleichen und jetzt Tiger und Panther, und Klapperschlangen, und was weiß ich alles für Untiere!«
»O Großvater, Tier ist Tier, und es kommt nur darauf an, ob man's versteht. Und du hast mich gelehrt, was lebt, gern zu haben, und ich freue mich nur auf das eine, daß ich dich einmal hinführen und dir alles zeigen darf!«
»Könnt' mir nicht denken, wie das zugehen sollte, so ein alter, gichtbrüchiger Kerl wie ich, der kaum in seiner Stube herumhumpeln kann. Müßtest mich ja wahrhaftig Huckepack tragen oder gar in einer Kutsche abholen!«
Des Großvaters Scherze waren wehmütig, und das konnte Schorsch heute nicht ertragen.
»Warum nicht in einer Kutsche?« sagte er übermütig. »Alles kann jetzt sein, wenn man so viel Geld verdient. Und das steht bombenfest,« – Schorschs Rede klang nun ernst und männlich, – »daß du die längste Zeit im Armenhaus gewesen bist, und daß wir dir ein Stüble irgendwo suchen, am liebsten bei uns in der Stadt, wo wir dich dann wenigstens in der Nähe hätten, – nicht wahr Lene?«
Diese stimmte begeistert zu, aber der Großvater wurde bei diesen Anschlägen ganz aufgeregt.
»Ihr meint's ja gut, und das Schönste wäre, weiß Gott, wenn wir wieder beisammen sein könnten. Aber was tät' ich alter Mann in der Stadt, wo kein bißchen Grün zu den Fenstern hereinguckt, und wo alle Stuben für unsereinen vier Stiegen hoch sind und nach einem Hofwinkel die Fenster haben. Hier seh' ich doch noch den Wald und, wenn ich des Nachts nicht schlafen kann, den weiten Himmel. Und dann dürfte ich jetzt auch gar nicht vom Christian weg, denn der beißt jeden, der an sein Bett kommt, außer mir.«
»Da sind mir meine wilden Tiere doch noch lieber, die haben kein so gräßliches Menschengesicht,« murmelte Schorsch dazwischen, aber der Großvater schüttelte mit dem Kopf: »Der Christian hat trotz allem ein Menschenherz, und das hat mich ein wenig gern. Und dann braucht mich auch die Liese, die jetzt oft solche Anfälle von Atemnot hat und sich dann gern zu mir herübersetzt. Und nach den Scherenschleiferskindern, namentlich nach dem kleinsten, muß ich auch manchmal sehen, wenn die Eltern zum Bettel aus sind!« Der Großvater sagte das alles bestimmt, aber bescheiden und schlicht.
»Ja, und dann holt dich das Weib abends auch noch aus dem Bett, wenn der Mann betrunken ist und sie halb tot prügelt, und das alles mußt du ertragen, und wir können dir nicht helfen!«
Lene und Schorsch berechneten nun, wieviel sie künftig im Monat Einnahmen hätten. Beide dünkten sich unsäglich reich. Als sie dann aber gründlich überlegten, was Essen und Trinken, Kleider und Schuhe, wenn auch alles vom Einfachsten war, kosteten, schrumpften die Summen und auch die Pläne, die jeder von ihnen im stillen hegte, wieder gewaltig zusammen.
»Was kann man denn tun, daß man reich wird?« sagte Lene unwillkürlich. Sie saß mit dem Rücken gegen das offene Fenster und erschrak sehr, als eine laute Stimme antwortete: »Solche einfache Hüte weitertragen wie du, Hüte, auf denen nichts ist, und wobei unsereines verhungern müßte, wenn alle Leute den Geschmack hätten. Zum Glück gibt's nicht viel solche!«
Es war die Putzmacherrosa, die aufgedonnert in einem Mullkleid mit Spitzen und einem großmächtigen Hut voll Rosen und Schleifen draußen stand. Sie war im Begriff, in die Stadt zu gehen und sich unten bei der Musik im Stadtpark mit Freundinnen zu treffen. Spöttisch, fast mitleidig schaute sie an Lene herab, und diese hatte einen Augenblick das Gefühl, als müsse sie sich wirklich schämen, besonders wegen ihres Ausspruches. Da kam ihr aber Schorsch zu Hilfe. So ungewandt er sonst war, diesmal kam ihm rasch eine Antwort:
»Den Hut und das Kleid hat meine Schwester von der Baronesse bekommen!«
Das ärgerte Rosa. Was wollten denn die? Die Lene war ja doch nur Magd bei ihnen gewesen. Überhaupt war es von ihr, der Rosa, ja die reine Gutherzigkeit, daß sie sich mit diesen Armenhausleuten in ein Gespräch eingelassen, und mit einem kurzen Gruß ging sie von dannen. Daß es sie heimlich ärgerte, daß Lene bei der bekannten und feinen Madame Reimer nähte, während ihre Hutmadame ein viel geringeres Publikum hatte, gestand sie sich selber nicht. Ebenso war es ihr unangenehm, daß ihre Mutter ihr seit einiger Zeit beständig Lene Wepfer als Beispiel vorhielt. Vergleiche mit einer so altbackenen Person waren ihr in der Seele zuwider.
Die Krämerin hatte im Winter einen schweren Fall die Treppe in den Laden hinunter getan, und die umtriebige, unermüdliche Frau mußte viel liegen. Hatte sie's in gesunden Tagen mit den Mägden nicht verstanden, so ging's jetzt in den kranken noch viel schlechter. Da war nun Lene nie im Dorf, ohne geschwind auch nach ihrer alten Frau zu sehen und zwischen ihr und dem jeweiligen Dienstmädchen ein bißchen zu vermitteln. Lene war nun in der Erinnerung für die Krämerin ein Ausbund von einem tüchtigen Dienstmädchen geworden, und auch heute, wo sie nach ihr sah, rühmte die Kranke mit weinerlicher Stimme, wie gut eben damals alles gegangen sei. Lene mußte fast lachen.
»Aber manchmal habt Ihr doch auch die Geduld mit mir verloren, Frau, und 's war auch kein Wunder, so dumm und ungeschickt, wie ich damals war!« Lene hätte gut hinzufügen können: »Und schwer war's schon, bei Euch auszuhalten,« aber daran dachte sie nicht mehr, im Gegenteil, sie konnte mit gutem Gewissen sagen: »Aber etwas gelernt hab' ich bei Euch, und dafür bin ich immer dankbar,« ein Ausspruch, der der kranken Frau unendlich wohl tat.
Als sie so zusammen redeten, kam auch der Schultheiß dazu, und als dieser hörte, wie nett die beiden Geschwister vorwärts kamen, reichte er Lene die Hand, – das war von dem gewichtigen Herrn Vormund und Dorfobersten bis jetzt noch nie geschehen, – ließ sogar eine Flasche Wein heraufbringen und stieß mit Lene und dann auch noch mit Schorsch an, der gekommen war, die Schwester zum Rückweg abzuholen. Der Großvater war nur mit bis unters Haus und dann wieder heimgegangen. Er hatte ein zu feines Empfinden, um sich als Armenhäusler irgendwo einzudrängen, wo er sich nicht willkommen glaubte. Schwer hatte im Anfang dieses Bewußtsein auf ihm gelastet, nach Dorfbegriffen nun als der Niedersten einer angesehen zu werden, doch in Demut beugte er sich auch unter diese Prüfung. Über was der Schuster-Martin aber trotz aller Kämpfe nicht Herr werden konnte, das war die stets gleichbleibende Sehnsucht nach der alten Heimat, nach der ungestörten Arbeit und Ruhe in der eigenen Stube, nach der einstigen Tageseinteilung und Ordnung, nach den lieben Stimmen der Seinen und auch nach der Anhänglichkeit der kleinen und großen Tiere, die seine Freude gewesen.
Alles das zog heute abend, als er in seinem nun recht abgenützten Lehnsessel am Fenster in seiner Stube saß, an ihm vorüber, und er faltete die von der Gicht mehr denn je geplagten Hände. Eigentlich hätte er ja heute abend nur danken müssen für das, was die Kinder erlebt, aber jedesmal, wenn sie dagewesen waren, wußte er auch wieder von neuem, was er an ihnen gehabt hatte. Nach alter Gewohnheit wollte er im Anblick des weiten Himmels – des goldnen Tors, wie seine Marie gesagt – Erleichterung suchen und hob den Blick, um ihn aber ebenso schnell wieder sinken zu lassen. Sein neuestes Kreuz war ja, daß sich dicht neben dem Armenhaus die große weiße Wand des Neubaues einer Bierbrauerei erhob, durch die er wohl bald seinen Ausblick auf die Sonne und des Nachts auf das gestirnte Firmament verlieren würde. Aber sein Buch, seine Bibel, die hatte er noch. Und als er seine Seele an den Verheißungen der Schönheit im Jenseits wieder beruhigt hatte, stand er auf und tat willig seine Handlangerdienste da, wohin Gott ihn für jetzt gestellt hatte.