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VIII.

Es war ein grauer, wolkenverhangener Tag des Herbstes; um Haus Nyvenheim herum lagen überall auf den Pfaden und den Rasenstücken wie ein gelber Teppich die dürren Blätter; denn der Gärtner hatte aufgegeben, täglich wider sie anzukämpfen. Die Natur schien halbwach zu träumen und darüber, daß es doch eigentlich Tag sei, sich gar nicht bewußt zu werden. Nur gegen den Abend hin lebte im Westen ein dunkles Rot auf, das intensiver und flammender wurde, und einen schwachen Lichtreflex auf die feuchten Dächer warf, und auf die graue Wasserfläche, in welche der Turm von Haus Nyvenheim seinen Fuß stellte. Man hätte sogar ein schwaches Spiegelbild der alten Quadermauern im Gewässer wahrnehmen können.

Fräulein Brigitte saß im Wohnzimmer allein; sie harrte auf Ludgardens Heimkehr aus den Anlagen, wohin sie dieselbe gehen sah. Schwer von Gedanken bedrängt, war die gute Brigitte unschlüssig, was sie beginnen, ob sie nicht einmal den Doktor aus der Stadt herausbescheiden solle, um ihm Ludgardens Stiller- und Stiller-, Bleicher- und Bleicherwerden zu klagen, wenn sie nur zu diesem Doktor ein klein wenig mehr Zutrauen gehabt hätte. Aber etwas mußte nun doch geschehen, es schien ja wirklich, als ob sonst über der herzerschütternden Geschichte Ludgarde den Verstand verlieren werde; etwas, eine kleine zerstreuende Reise, eine ... Da hörte sie plötzlich auf dem Hofe, zu den Fenstern hinauf, einen erschreckenden Ruf, der sie auffahren ließ. »Fräulein, Fräulein, um Gottes willen, Fräulein!« rief es wie angsterfüllt. Es war die Stimme von Franz, dem Pferdeknecht.

Brigitte sprang zum Fenster, riß es auf, aber sie sah niemand. Nur ein gesatteltes, fremdes Pferd ohne Reiter sah sie aufsichtslos umhergehen; war ein Reiter zu Unglück gekommen?

Brigitte eilte hinaus, in den Flur hinab; einen Augenblick stand sie hier, unschlüssig, wohin sich wenden; da sah sie durch die offenstehende Hintertür zwei Männer, die auf ihren Armen eine weibliche Gestalt trugen – eine triefend nasse, wie entseelte, weibliche Gestalt – Ludgarde!

Brigitte stieß einen Jammerschrei aus; sie brach unter dem fürchterlichen Anblick wie vernichtet zusammen.

»Nur rasch, helfen Sie ihr in ein wärmendes Bett,« rief einer der beiden Männer Brigitten zu; aber die Stimme dieses Mannes gab Brigitten nur um so weniger ihre Fähigkeit, sich zu rühren und zuzugreifen, wieder: es war die Stimme Max Wendts, Max Hasbergs! Franz jedoch, der andere der beiden Männer, gab die Richtung an, Mägde kamen herbei: so hatten sie bald Ludgarde auf ihr Bett gelegt, um sie fürs erste nun der nachwankend gekommenen Brigitte zu überlassen.

»Sie lebt! sie wird gerettet werden, wenn Sie nur rasch sie warm betten, ihr warme Getränke einflößen,« rief Hasberg Brigitten zu. Er selber, sah sie jetzt erst, war triefend naß wie durch Wasser gezogen. »Und dann,« fuhr er fort, »muß einer sofort zum Arzt, mein Pferd steht gesattelt im Hofe, nur fort!«

Franz übernahm das in Hast und stürzte davon. Max verließ das Zimmer, um Brigittens Tätigkeit nicht zu hemmen; er schritt, seiner kaum mächtig vor Aufregung, ins Wohnzimmer und hin und her, bis eine der Mägde hereinkam und ihn mahnte, an der Herdflamme der Küche seine Kleider zu trocknen. Während er dann hier stand, in eine Dampfwolke gehüllt, die von der unteren Hälfte seiner Gestalt ausging, beobachtete ihn scheu und ängstlich, nur unterdrückt miteinander flüsternd, das Dienstvolk; alle hatte das ihnen rätselhafte Ereignis mit Schrecken erfüllt.

Es mochte eine halbe Stunde nach diesem verflossen sein, als Brigitte in die Küche herab zu ihm kam.

Noch zitternd an allen Gliedern sagte sie: »Dem Himmel sei gedankt, es steht ganz wohl; sie weiß, daß Sie ihr Retter sind, sie will leben, sie glaubt des Arztes nicht zu bedürfen, aber nun bitte ich Sie ...«

»Sie wollen eine Erklärung, wie ich hierher komme, gerade in diesem Augenblicke?« unterbrach sie Max – sie nahm jetzt wahr, wie bleich und angegriffen er aussah – »kommen Sie, im Wohnzimmer will ich sie Ihnen geben.«

Als sie mit ihm hinaufgegangen, eine Dienerin Licht gebracht hatte, und er nun mit der weißen Hand über sein bleiches, edles Gesicht fuhr, fühlte sie allen Rest von Groll und Verachtung schwinden. Die Überzeugung von irgend einem großen Irrtum kam über sie, und ihr erster Gedanke war nun nicht mehr der an die Enthüllung, welche sie erwartete, sondern die Pflege, die auch ihm so bitter not zu tun schien. Sie eilte wieder fort, um ihm kräftigen Wein bringen und heißen Tee bereiten zu lassen; erst als sie sich durch diese Tätigkeit beruhigt, und er sogleich dem Weine zugesprochen hatte, setzte sie sich wieder, und er erzählte nun:

»Ich war eben auf dem Wege hierher; meine Verwundung war geheilt, so weit geheilt, daß ich mit meinem Vater mich auseinandersetzen und nun die Reise hierher unternehmen konnte. Ich ritt sorglos, glücklich, Ludgarde, wiederzusehen, den mir bekannten Weg von der Höhe nieder; mein Pferd betrat beinahe die Brücke, als ich links vom Gebäude, hinter demselben, da, wo die Anlagen hinter dem vom Wasser bespülten Turm in einem weitgedehnten Bogen in den Weiher vortreten, eine dunkle Gestalt aus dem Gebüsch hervortreten und sich dicht dem Wasserspiegel nähern, hart am Rande stehen bleiben sehe. Ich glaube Ludgarde zu erkennen; erschrocken sehe ich, wie sie beide Arme erhebt, sich vorwärts bewegt – eine grauenhafte Ahnung ergreift mich – ich sporne mein Pferd, und mit einigen Sätzen trägt es mich vor die Portaltür, die gottlob geöffnet steht, dann renne ich durch den Flur, in die Anlagen, schreie Franz an, den ich von den Ställen daherkommen sehe, eile weiter, und der liebe Gott hat mich eben früh genug kommen lassen; sie rang noch mit den Armen wider das Versinken; ich konnte nach wenigen Schritten in das kalte Element hinein sie erfassen, heraustragen. Franz, der, als er mich mit der Last daherkommend erblickte, zuerst gelaufen war, Sie herbeizuholen, war gleich darauf an meiner Seite wieder, mir zu helfen, und nun wissen Sie den Hergang.«

Brigitte faltete die Hände mit einem leisen Stoßgebet.

»Und so danken wir Ihnen wenigstens ihre Rettung,« sagte sie – »Ihnen ...«

»Danken Sie mir widerwillig? Sie sprechen das ›Ihnen‹ so aus.«

»Nun, mein Gott, das könnte Sie nicht erstaunen, nachdem Sie so an uns gehandelt!« Und Brigitte begann nun ihm alles zu sagen, ihm alles vorzuwerfen, was die Frauen von ihm vernommen, was durch ihn Ludgarde gelitten.

Max hörte ihr mit wachsendem Staunen zu. Er geriet außer sich bei dieser Erzählung. »Das, das hat Ludgarde von mir geglaubt? Und darüber ist sie verzweifelt? Das hat sie getrieben, den Tod zu suchen? O mein Gott, laß den Augenblick bald schlagen, wo sie gefaßt, gekräftigt genug ist, alles und jedes von mir aufgeklärt zu hören!«

Er sprach nicht mehr. Er begann heftig, fast zornig auf und nieder zu schreiten. Brigitte hörte kein Wort weiterer Erklärung von ihm. Sie mußte sich bescheiden, später alles durch Ludgarde zu erfahren; aber so wenig sie sich bewußt war, bei all diesem Erschütternden ihren Verstand auf der alten Stelle zu haben, begriff sie doch, wenn sie Max, der endlich ganz bleich und kraftgebrochen in eine Sofaecke gesunken war, wenn sie diese jetzt wie vergeistigten, matt von der Lampe beleuchteten Züge nur ansah, daß ihm ein bitteres Unrecht geschehen sein müsse.


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