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Unser junger Rechtsgelehrter ritt sehr tief in Gedanken versunken nach dem Städtchen heim, in welchem wir ihn zuerst kennen lernten. Das schöne, von einer so furchtbaren Entschlossenheit beseelte Edelfräulein hatte ihm einen tiefen Eindruck gemacht, der ihn nicht wieder losließ. Er glaubte ganz in die Tiefe eines außergewöhnlich stark und mächtig empfindenden Gemütes, wie ihm noch keins im Leben begegnet war, geblickt zu haben. Das, sagte er sich, war es eben – die Überfülle tiefen Gemütes, die ihr die Kraft gab, dem verhängnisvollsten und verwegensten Gedanken furchtlos ins Auge zu schauen, sich lieber mit den schrecklichsten Entschlüssen zu tragen, als den Rechten ihres Gemütes zu entsagen. Freilich, es war wunderlich genug, so fest und unlöslich das Gemüt mit allem seinem Leben an einen Besitz, ein Vaterhaus zu klammern. Aber dies Vaterhaus war ihr die Heimstätte ihrer Glückserinnerungen, der Ort, wofür sie ihr Vater, ihr Bruder noch ein schemenhaftes, von allen Gegenständen, zwischen denen sie sich bewegte, reflektiertes Leben hatten – zog sie aus diesem Hause fort in die fremde Welt, so hatte sie das Gefühl, jene ganz und völlig zu verlieren.
Und dann – Ludgarde war so schön, eine so bedeutende Erscheinung – war es denn wahrscheinlich, daß sie zu ihren Jahren gekommen, ohne Neigungen zu erwecken, ohne irgendeine zu erwidern? Hatte sie nicht vielleicht schon solch eine Neigung mit blutendem Herzen geopfert, eben weil ihr Besitztum, ihr Vater, ihr kranker Bruder sie nicht entbehren konnten? Und mußte nun nicht solch ein gebrachtes Opfer ein neuer Kitt, eine neue Fessel für sie geworden sein?
Max erboste sich innerlich jetzt über die Roheit der Menschen, die Ludgardens starrsinniger Verteidigung ihres vermeintlichen Rechtes eine so herzlose, alberne Deutung gaben. Nun ja – sie kannten, wußten das ja: es war nichts Neues im Lande – wenn kein Sohn da ist, so erbt nicht die Tochter, sondern ein oft sehr entfernter Namensvetter, und die Tochter zieht mit einer Aussteuer, einer mäßig bemessenen Leibrente ab; das war unzähligemal vorgekommen auf den Gütern; das schreiende Unrecht, welches darin lag, das hatte der alte Brauch längst aus dem Bewußtsein der Menschen verwischt. Wie konnte das Fräulein von Nyvenheim sich dawider so hartnäckig auflehnen, daß es zum Gespött werden mußte, daß es durch Prozessieren arm wurde? Die Menge urteilt so rasch, so roh, so dumm, und mußte sich Max nicht selber die Raschheit seines Urteilens vorwerfen, als er beim Beschauen der Gemälde Hugo von Nyvenheims aus diesen wunderlichen Farbendithyramben auf Ludgardens Geistesart Rückschlüsse hatte machen wollen?
Als er am folgenden Vormittag in seiner Arbeit fortzufahren kam, wurde er vor dem Hause nur noch von dem Knechte, der ihm gestern sein Pferd abgenommen, empfangen. Im Hause selbst herrschte merkwürdige schweigende Stille, die nur durch ganz gedämpfte, aus der ländlich beschäftigten Außenwelt herübertönende Geräusche, wie von geschwungenen Dreschflegeln oder in der Ferne klapperndem Flachsbrechen, unterbrochen wurde. Durch die Fenster des Gemaches, in welchem Hugos wilde Ausstrahlungen eines zu hoch lodernden Genies hingen, sah Max Ludgarde draußen auf dem Rasen unfern des Wassers stehen und ein paar Mägde beim Ausspannen von Leinenstücken dirigieren; er mußte bei der schönen Gestalt, deren plastisch fließende Umrisse sich von der stahlgrauen Fläche des Wassers abhoben, an Nausikaa denken, an Gudrun, die ja auch in »verrücktem« Selbstbewußtsein König Helges kostbare Wäsche ins Meer warf. Sein Auge blieb gefesselt an ihrer Gestalt hängen, bis sie seinen Blicken entschwand und er nun, wie sich besinnend, weiter schritt und all seine Gedanken den Akten und Dokumenten zuzuwenden strebte, um derentwillen er gekommen.
Er mochte eine Stunde gearbeitet haben, als es leise an seine Tür pochte und die steife Duenna, welche ihn gestern empfangen hatte, eintrat. Sie schien ein wenig verlegen, kam um zu fragen, ob dem Herrn Referendar auch nichts abgehe, und dann, während Max einen Stuhl heranzog, sagte sie, wie sich ein Herz fassend:
»Sie flößen uns ein so großes Vertrauen ein, Herr Wendt – auch dem Fräulein, das glaubt, mit Ihnen sei uns nun die Rettung ganz sicher gekommen – Sie sind so gar nicht wie die andern Herren Juristen, wie der Herr Justizrat, der viel zu viel Worte macht, als daß sie alle wahr sein könnten – ich bin überzeugt, Sie sagen mir die Wahrheit, wie es eigentlich um den Prozeß steht und ob wir wirklich jetzt Aussicht haben, ihn zu gewinnen?«
Max sah in das ernste Gesicht mit den langen, wie gefrorenen Zügen vor ihm, er konnte sich überzeugt halten, daß hier nicht eigennützige Sorge um sich selbst, die Sorge einer Dienernatur, welche sich auf einem sinkenden Schiff fühlt, sprach; deshalb antwortete er:
»Wir wollen eben tun, was wir können, jeden Zoll breit Boden verteidigen, der Ausgang steht in der Hand der Richter.«
Die alte Dame legte verzagend die Hände in den Schoß.
»Kennen,« fuhr sie dann fort, »wissen Sie, da Sie doch auch aus der Hauptstadt sind, etwas von unserm Gegner, dem alten Herrn von Dalhausen zu Hasberg? Er hat immer unsern seligen Herrn gehaßt, schon von ihren jungen Jahren her, wo sie durch ihre Meinungen und Ansichten scharf aneinandergeraten sein sollen, und Gemeinschaft haben die beiden Familien nie miteinander gepflogen. Aber nun, heißt es ja, sei er ganz besonders darauf erpicht und versessen, in den Besitz von Nyvenheim zu kommen, weil er seinen Sohn mit einem reichen Mädchen verheiraten will, und für die jungen Leute kein anderes Heim hat? Du lieber Gott, da ist dann wohl gar nichts zu hoffen – etwa, daß Herr von Hasberg bewogen werden könnte, Nyvenheim Fräulein Ludgarde, wenigstens solange sie lebt, zu lassen...«
»Nein,« sagte Max, »das ist, soviel ich davon vernommen habe, nicht zu hoffen. Sie dürfen jedoch Herrn von Hasberg deshalb nicht falsch beurteilen. Er verlangt gewiß nur sein Recht und glaubt dies seiner Familie schuldig zu sein. Er hat mehrere Söhne; an dem älteren, den er für die diplomatische Karriere bestimmt hatte, hat er, so wie ich höre, schon das große Herzeleid erleben müssen« – Max sagte das mit einem eigentümlich spöttischen Lächeln – »daß er sich dazu völlig untauglich und unbrauchbar erwiesen, und was die reiche Braut angeht, nun ja, es wäre ein hübscher Zug des Schicksals, wenn es ihn nun damit und mit Nyvenheim entschädigte« – um Maxens Lippen spielte dasselbe Lächeln wieder – »dann bekäme der jüngere Bruder später das väterliche Gut Hasberg ... Sie sehen also ...« »Daß da nichts zu hoffen ist,« fiel die alte Dame ein, leise den Kopf schüttelnd und betrübt auf ihre mageren, in Halbhandschuhen steckenden Hände blickend, »mein armes, armes Fräulein!«
»Aber, Sie haben sicherlich viel Einfluß auf das Fräulein und ihre Art, zu empfinden: vermögen Sie nichts, ihr die Trennung von Nyvenheim erträglicher erscheinen zu lassen? Das Leben in einer größern Stadt muß doch auch für sie seine Reize haben, sie würde sich die ihr zusagendsten und genehmsten Kreise dort auswählen können...«
»Ach, die Stadt,« fiel tief aufseufzend die Duenna ein, »sie haßt die Stadt, sie war dort in der Pension und fühlte sich schrecklich unglücklich dort. Dann war sie mit ihrer seligen Mutter einen Winter hindurch dort, und dann hat sich allerlei junges Herrenvolk in einer Weise um sie gedrängt, daß es ihr ganz verhaßt und unerträglich geworden ist, sie ist eben nicht wie andere junge Mädchen! Sie mag von der Stadt nicht reden hören...«
»Das ist doch auch,« fiel hier fast schüchtern und tastend Max ein, »das ist doch auch etwas Verkehrtes, Ungesundes in einem jungen Mädchen, so die Welt zu hassen, an der Einsamkeit zu hangen ...«
Die alte Dame fixierte ihn scharf.
»Sie denken an... nun ja, man hat ja schon unserm armen Herrn Hugo nachgesagt, er sei ein verrücktes Genie, und jetzt sagt man...« Die gute alte Dame fuhr plötzlich mit dem Tuche an die Augen, und schloß mit den Worten: »Sie kennen sie jetzt! Sie sollten nicht auch solche Gedanken aufkommen lassen! Das Fräulein ist zu gut und hängt zu sehr mit dem Herzen an dem Ihrigen, das ist alles; und nun bedenken Sie, wen sie alles hat verlieren müssen, erst die Mutter, dann den Vater, endlich auch den Bruder noch, dadurch ist solch ein tiefer Ernst in ihre Seele gekommen, und willensstark ist sie auch, das war sie immer und von je ...«
»Freilich, es ist zu begreifen,« versetzte nachdenklich Max. »Aber wenn der Prozeß ein Ende nimmt, wider sie... was wird das Fräulein anders tun können, als sich dennoch entschließen, in irgend eine Stadt zu ziehen, sich an irgend eine Jugendfreundin, Bekannte anzuschließen, vielleicht auch einen Wirkungskreis, in welchem sie tätig sein kann, zu wählen, wenn nicht am Ende dennoch das bei ihrer herzgewinnenden Schönheit Natürlichste von allem eintritt und...«
»Ich verstehe, was Sie sagen wollen,« antwortete die alte Dame kopfschüttelnd, »aber leider wird nichts von dem allen geschehen; sie wird nicht weichen wollen von hier, sie wird bei den Ihren bleiben wollen, bei den Toten und bei den lebenden Armen, die sich an ihre Hilfe gewöhnt haben; sie wird sich einmieten im Dorfe drüben und...«
»Dort ihr Leben vertrauern? Das wäre nun doch, um darüber den Verstand zu verlieren!«
Die alte Dame sah mit kummervollem Blicke vor sich hin. Dann stand sie auf, um, wie sie sagte, Max nicht länger zu, stören, und ging, offenbar wenig durch die Unterredung getröstet.
Um dieselbe Stunde wie gestern erschien sie wieder, um Max zum Essen zu bitten. Er fragte sich in erregter Spannung, ob Fräulein Ludgarde wieder erscheinen würde, aber nicht lange; diese kam heute schon früher, als er erwartet, und reichte ihm mit großer Unbefangenheit die Hand. »Sie sollen sich Ihr Diner nicht durch mich verkürzen lassen,' sagte sie, als er aufsprang; »ich nehme selbst an Ihrem Nachtisch teil und schäle Ihnen das Obst; und dann mache ich wie gestern Ihre Führerin zu den bescheidenen Merkwürdigkeiten unseres Tales. Heute sollen Sie unsere alte Dorfkirche zu bewundern bekommen.«
Als sie nach einiger Zeit auf dem Wege zu dem Dorfe waren, zu dem eine Lindenallee von Haus Nyvenheim führte, sagte Ludgarde:
»Woher mag die wunderliche Sage stammen, daß man auf seinem Gute keine Lindenallee pflanzen soll, daß es dann nicht auf die dritte Generation kommen wird? Es sollte mich betroffen machen, denn mein Großvater hat diese Linden gepflanzt.«
»Sind Sie abergläubisch, Fräulein Ludgarde?«
»Nicht sehr. Ein wenig. Genug, um mich mit denen, die es sind, zu vertragen, z. B. mit meiner Brigitte. Ich denke, alle Menschen von Phantasie sind es. Das Glauben ist so verlockend. Mein Vater sagte, es sei so überflüssig, den Menschen Dogmen zu geben, da sie sich deren schon zu viel selber machten.«
Ohne auf die Linden und ihre bösen Kräfte zurückzukommen, fuhr Max fort: »Sind Sie nicht begierig, von mir einen Bericht zu erhalten, was alles ich bisher in Ihrem Archiv ermittelt, klar gestellt...«
»Gewiß, gewiß,« sagte sie wie ängstlich zusammenfahrend, und fuhr dann rasch aufatmend fort: »Oder eigentlich nein; seit ich die Sache in Ihren Händen weiß, nicht; ich möchte nichts davon hören jetzt; ich vertraue Ihnen, ich möchte am liebsten in diesem Vertrauen bleiben, ohne selbst sehen zu müssen; wenn es aber nötig ist, daß ...«
»Es ist durchaus nicht nötig,« fiel Max lebhaft ein; »denn in der Tat, Sie können mir vertrauen, mehr als irgend jemand auf Erden.«
Er sagte das mit einer Wärme, daß Fräulein Ludgarde errötete und für eine Weile verstummte. Auch Max wußte nicht, wie er wieder anknüpfen sollte.
Das Dorf war nicht weit. Es lag unregelmäßig zerstreut um den Kern, den die Kirche mit ihrem von alten Kastanienbäumen beschatteten Kirchhof, und die umherliegenden besseren Häuser bildeten. Durch das feuchte, tief in die Erde gesunkene untere Turmgewölbe trat man in die stets offene Kirche, in der es ebenfalls immer dämmerig sein mußte; denn obwohl Bögen und Gewölberippen die Spitzform zeigten, waren doch die Fenster romanisch, das heißt rundbogig und klein, aus einer Zeit stammend, die des Lichtes bei ihrer Andacht nicht bedurfte, weil sie nicht lesen konnte. Über dem Hochaltar prangte – wenn man dies von altem, graugetünchtem Schnitzwerk sagen kann – das Dalhausensche Wappen; farbenreicher zeigte es sich auf den schwarzen Rautenflächen der Sterbeschilder, welche über den Mauerpfeilern angebracht waren.
Max zeigte für diese ein vorzugsweises Interesse; er las die Umschriften auf denselben, er zog ein Notizbuch heraus, in das er die gelesenen Namen eintrug.
»Hier ist das Wappen verändert,« sagte er vor einem derselben; »der gezinnte Balken hat nur drei statt fünf Zinnen.«
»Der Maler wird kein so guter Heraldiker wie Sie gewesen sein,« antwortete lächelnd Ludgarde; »kennen Sie so genau das Wappen der Dalhausen?«
»Wenn man in Ihrem Archiv arbeitet, lernt man's doch kennen,« antwortete er sich abwendend, und begann es nun auch auf den alten Grabsteinplatten zu suchen, wo er Ludgarde einigemal darauf aufmerksam machte.
»Es ist hübsch,« sagte er dann, »daß Ihr Pfarrer kein roher Ikonoklast ist, wie so viele seiner Amtsbrüder, die allen altertümlichen Schmuck zerstören und ihre Kirchen ›stilgerecht‹ versimpeln!«
»Sie hassen eben das Altertümliche, denn es lehrt uns Geschichte,« entgegnete Ludgarde. »Die Geschichte ist ein leidiges Ding für sie. Es ist etwas Fürchterliches um die Geschichte der Kirche. Man blickt auf eine Welt der Verfolgung, unbegreiflicher Grausamkeit, herzbrechender Foltern und Qualen; welches Elend ist da über Menschen, Volksstämme, Länder, Völker von hoher und edler Kulturblüte gebracht! Und das alles um ihrer herrschsüchtigen Dogmen willen! Ist es nicht grausig? Und dann diese schreckliche Reformation...«
»Sie nennen sie schrecklich?« fiel Max überrascht ein.
»Nun ja – die Menschen waren ja auf dem Wege, sich zu besinnen, zu befreien. Schon die Mystiker, schon große Orden hatten den Gedanken der Innerlichkeit aufgenommen, ihn still gehegt. Die Menschen des Humanismus, der Renaissance lösten dann schon mit kühneren Händen die Fesseln. Da kommen diese unglückseligen Reformatoren mit ihren neuen Auslegungen, mit ihrem Streit um Bibelstellen, mit ihrer wütenden Sektenpolemik. Das Dogmengezänk entbrennt neu an allen Ecken, der Katholizismus, der längst in sich zu vermodern begonnen, wird aufgestachelt, sich neu zu beleben und frisch zu kräftigen, und aus dem Dogmenhader wird endlich das Verderben des Dreißigjährigen Krieges, das Verderben der heutigen Spaltung, die Niedertracht des Konfessionshasses.«
Während sie so sprach, sah Max verwundert in ihre belebten, klaren Züge. Der geschichtsphilosophische Gedanke, den sie aussprach, mochte ihm neu sein; jedenfalls kostete es Nachdenken, um über seine Wahrheit oder Unwahrheit klar zu werden.
Sie lachte plötzlich mit einer Fröhlichkeit auf, welche zeigte, daß solche Fragen doch keinen Einfluß auf ihre Stimmung hatten.
»Sie sehen mich mit mißbilligender Verwunderung an, daß ein junges Mädchen sich herausnimmt, solche Urteile zu fällen, sich Verständnis für solche Dinge zuzutrauen!«
»Nicht doch – wenn sie sich die nötigen Kenntnisse erworben hat, ohne welche solche Urteile allerdings frivol sein würden...«
»Das ist's eben – die Kenntnisse, darum fragt sich's. Und nun will ich mich von dem Vorwurf der Frivolität reinigen. Die Kenntnisse hatte mein guter Vater für mich, und was ich eben sagte, war im ganzen sein Gedankengang. Absolvieren Sie mich jetzt?«
»Absolvieren? Ich danke Ihnen für eine Anschauung, deren Größe mich jedenfalls den Geist Ihres Vaters verehren läßt.«
»Sie können mir nichts sagen, was mir wärmer zu Herzen ginge,« sagte Ludgarde mit einem dankbaren Blick in seine Züge.
»Sie haben,« fuhr Max nach einer Pause fort, während sie schon draußen die Kirche umschritten, um die alten eingemauerten Grabsteine zu betrachten, »sicherlich in der Bibliothek Ihres Vaters einen Schatz in Nyvenheim. Dürfte ich dahinein einen Blick werfen?«
»In unsere kleine Büchersammlung? Ohne Zweifel, ich zeige sie Ihnen sehr gern; obwohl Sie aus der Zusammenstellung der Bücher sich kein Bild von der Geistesrichtung des Vaters machen können. So etwas wächst aus den Anschaffungen verschiedener sich folgender Generationen zusammen, und so steht des Urgroßvaters ›Voiture‹, ›Benserade‹ und andere Hotel-Rambouillet-Poesie neben des Großvaters ›Ruinen von Palmyra‹, des Vaters ›Gibbon‹ oder ›Lessing‹ oder seinen Philosophen.«
»Das jedoch macht eine Büchersammlung interessant, die Fülle des Verschiedenen, das uns deshalb auch mit einer Menge uns unbekannter Titel und Namen wunderlich anmutet. Das Unbekannte, uns Verschlossene, Geheimnisvolle reizt und verspricht. Ich habe diesen Eindruck nie mehr als in einer Bibliothek. Wie unendlich, wie unaussprechlich mannigfach ist das Geistesleben der Menschen; das umschwirrt alle Höhen, bohrt sich in alle Tiefen des Daseins ein, und am Ende...«
»Umschwirrt es mit seinen schwachen Mottenflügeln doch nur – nicht das eine große Licht, sondern das eine große Dunkel!«
Max sah sie wieder ein wenig betroffen über solch eine Äußerung aus dem Munde eines jungen Mädchens an. Er sagte rasch:
»Sie sind nicht Pessimistin?«
Er hatte es mit einem Ton der Sorge, als ob es ihm ein persönliches Anliegen sei, gesprochen. Deshalb sah Ludgarde offen zu ihm auf, als sie lebhaft antwortete:
»Gewiß nicht! Diese Art der Philosophie ist mir zu kokett.«
»Kokett?«
»Nun ja, steckt nicht in all der pessimistischen Geistreichigkeit ein großer Teil von Koketterie mit der eigenen Tiefe des Empfindens, und der eigenen, schneidigen Schärfe des Erkennens?«
»Vielleicht,« sagte er. »Es ist jedenfalls nichts Gesundes. Kokett? Ein gefallsüchtiger Philosoph? Der Gedanke hat etwas Komisches. Aber Sie mögen recht haben. Eine stärkere größere Zeit hat ihren Stolz in den mutigen Widerspruch gesetzt. Unsere will nur noch gefallen!«
Max Wendt kam heute viel später erst als gestern von Nyvenheim fort. Ludgarde hatte ihn sogleich, als sie von dem Spaziergang zurückgekommen, in die Bibliothek geführt; sie war in dem oberen Turmgemach oberhalb des Archivs untergebracht. Sie war nicht groß und enthielt doch, wie Max die Rückentitel übersehend gestand, eine Fülle von Schriften, deren Verfassernamen und Inhalt ihm so fremd waren wie die Sprache von Wadai oder Honolulu. Und daraus quollen den beiden jungen Leuten nun die Anstöße zu lebhafter Unterhaltung und einem Gedankenaustausch, der kein Ende fand. Beide empfanden eine Art Herzensfreude darüber, wie ihr Geschmack in den meisten Dingen harmonisch sich begegnete, oder, wo er von verschiedenen Standpunkten ausging, sich doch sobald friedlich zu einigen wußte.
»Etwas Erschreckendes liegt im Durchmustern solcher Sammlungen der Werke einer früheren Zeit,« sagte Max; »das ist die beständige Entdeckung moderner, laut präkonisierter Gedanken in den alten, längst wieder vergessenen Büchern. Man könnte verzagt alles Denken einstellen, weil man doch immer nur schon Vorgebuchtes und schon – klarer und tiefer vielleicht – Ausgesprochenes denken kann.«
»Deshalb sollten unsere Denker demütiger sein,« versetzte Ludgarde, »und«, setzte sie lächelnd hinzu, »dem Empfinden der Frauen den Vorrang lassen. Es ist doch immer neu, weil es sich auf einen neuen Gegenstand richtet.« Ludgarde hatte sich auf das Taburett an der Nische des Turmfensters gesetzt, während Max vor den Schränken sich hin und her bewegt hatte. Er kam jetzt und setzte sich an die andere Seite des schmalen, in die tiefe Nische gestellten Tisches und antwortete lebhaft:
»Steht es darum höher? Bei der Männer Denken wiederholt sich immer am Ende der Inhalt; bei der Frauen Empfindung wiederholt sich immer das Wie, die Form.«
»Bei allen? Wiederholt sich die Form, der Ausdruck ihres Gefühls? Wie wissen Sie das? Ich denke, das kann edeln Männern nicht zur Erfahrung werden?« versetzte sie.
»Sie haben recht,« entgegnete Max. »Ein edler Mann verlangt nur einmal vom Schicksal das Glück, die Empfindung, das volle Herz einer Frau sich zugewandt zu sehen, es gibt für den richtig fühlenden Mann nur eine Liebe.«
»Ist das nicht das Bekenntnis Ihrer Jahre? Werden spätere nicht Sie anders empfinden lassen?«
»Nein, nein,« fiel er ein, »niemals. Ich stimme vollständig jenem Autor bei, der eine zweite Liebe einen falschen, den natürlichen ersetzenden Zahn nannte.«
Beide lachten, wie um eine beginnende Verlegenheit zu maskieren. Darüber trat die »Adoptivtante« herein, und nun nahm das Gespräch eine andere Wendung, und Max empfahl sich jetzt bald darauf; er sah zu seiner Überraschung, daß der Nachmittag viel zu sehr vorgerückt war, um ihm heute noch eine Fortsetzung seiner Archivarbeit zu verstatten.
»Ist es wahr, Brigitte, was er gesagt hat,« fragte Ludgarde, während die beiden nun auch hinunter in das Wohnzimmer schritten, »daß alle Frauen auf dieselbe Art empfänden, liebten? Ich meine, ich müßte anders empfinden als andere, mit einem Drang zu geistiger Verschmelzung und seelischem Ineinander-Aufgehen, mit der Voraussetzung eines gleichen Pulsierens aller Adern, wodurch die Gefühle und Gedanken strömen, so sehr, daß ich mich vor einer Liebe fürchtete, die mein eigenes Innere so aufzehrte; und bei einer Verbindung würde ich mich noch mehr fürchten, daß ich so etwas Ideales doch niemals fände.«
Brigitte ließ mit einem sinnenden, weichen Ausdruck ihrer gewöhnlich so unbewegten Züge auf Ludgarde ihr Auge ruhen; dann sagte sie: »Man muß im Leben auch nicht ausgehen, um so völlig ideale Dinge zu suchen; man muß zufrieden sein, wenn man sich etwas Schlichtes, Rechtschaffenes gewinnt und das Ideale nur wie ein schmückender Kranz darum liegt; die Poesie erfüllt nun einmal unser Leben nicht, sie legt höchstens ihre Arabesken umher.«
Ludgarde fand ihre Brigitte höchst komisch mit ihren Arabesken.
»Wie bescheiden du bist!« sagte sie lachend.
»Und du, Kind, bist zu leidenschaftlich, zu überschwenglich, zu stark, viel zu stark für ein Mädchen!« versetzte Brigitte und seufzte. Als aber Ludgarde, die diesen Vorwurf oft gehört hatte, ohne viel mehr darauf zu horchen, bald das Zimmer verließ, sagte sie, ihr mit demselben weichen, sinnenden Ausdruck nachblickend:
»Es ist offenbar, daß sie anders, daß sie bewegter, lebhafter, heiterer geworden, wie um die Hälfte von ihrer Sorgenlast freier! Wenn dieser Mann – dieser Herr Wendt – wenn er die Wendung brächte, die all unsern Jammer endete, wenn er den Bann löste, der auf ihr liegt, ich würde ihn segnen, auch wenn er statt eines Advokaten nur einen Schuster zum Vater hätte!«