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Als Levin Schücking am 31. August 1883 seine Augen zum ewigen Schlummer schloß, konnte niemand ahnen, daß der literarische Ruhm dieses Dichters, der vier Jahrzehnte hindurch das Interesse des gebildeten Publikums rege gehalten hatte, so schnell verblassen würde. An der betrübenden Tatsache, daß selbst viele der besten Romane Schückings, die ihm den Ehrennamen des deutschen Walter Scott eintrugen, heute mit den einst vielgelesenen Werken anderer vergangener Größen in den Leihbibliotheken ein gar ruhmloses Dasein fristen, ändert auch die Anerkennung nichts, die dem Schaffen des Dichters von namhaften Kritikern in unseren Tagen noch gezollt wird. Als Adolf Stern seine Geschichte der neueren Literatur schrieb, war Levin Schücking eben gestorben, deshalb wiegt sein Zeugnis in dieser Sache nicht sehr schwer; mehr gilt das Wort von Adolf Bartels im zweiten Bande seiner Geschichte der deutschen Literatur: »... Die Bedeutung seiner besten Romane, zu denen noch zahlreiche Novellen traten, beruht auf der Schilderung der heimatlichen Besonderheiten, der westfälischen Natur und Menschen. Im besonderen ist es Schücking sehr oft gelungen, den Übergang von der alten zur neuen Zeit im Revolutions- und Napoleonischen Zeitalter mit eigentümlicher Stimmungsgewalt darzustellen; darin leistete er das für Westdeutschland, was Edmund Hoefer für die Ostseegegenden vollbracht hat.«
Ehe ich jedoch auf das Schaffen Schückings eingehe, gebe ich im Anschluß an die Arbeit Hermann Hüffers in der Allgemeinen deutschen Biographie, die mir der Verfasser mit seinem wertvollen Aufsatze »Levin Schücking, insbesondere in seinem Verhältnis zu Annette v. Droste« (Beilage zur Allgem. Zeitung, 1886, Nr. 84-87) für diese Einleitung freundlichst zur Verfügung stellte, eine knappe Darstellung vom Lebenswege Schückings.
Christoph Bernhard Levin Schücking wurde am 6. September 1814 zu Clemenswerth bei Meppen geboren, als Sprosse eines alten westfälischen Geschlechtes, das schon 1362 zu den ritterbürtigen Familien der Stadt Coesfeld gehört. Der Vater des Dichters war ein tätiger, lebhafter, aber leidenschaftlicher und eigenwilliger Mann, der sich in seiner Beamtenlaufbahn in mannigfaches Mißgeschick verwickelte. Die Mutter, eine Frau von seltener Begabung und Liebenswürdigkeit, war eine Verwandte M. Sprickmanns und wurde durch ihn in den Kreis der Fürstin Gallitzin und bei der Familie Droste-Hülshoff eingeführt, wo sie mit der zweiten Tochter Annette Freundschaft schloß. Katharina Schücking hat ihre zahlreichen Dichtungen, von denen nicht wenige ein edles, sinniges Gemüt und ein feines Naturgefühl zu glücklichem Ausdruck bringen, niemals in einer Sammlung veröffentlicht, sondern nur gelegentlich in Zeitschriften und literarischen Taschenbüchern. Auf dem Schlosse Clemenswerth, in einem durch die Kunst geschaffenen Park, inmitten unabsehbarer Heiden, erwuchs ihr ältester Sohn Levin, bis er im Jahre 1830 auf das Gymnasium nach Münster geschickt wurde. Von seiner Mutter erhielt er einen Empfehlungsbrief an die befreundete Dichterin, die damals mit ihrer Mutter und der einzigen Schwester eine Stunde von Münster das kleine Landgut Rüschhaus bewohnte. In seinen »Lebenserinnerungen« hat er anmutig geschildert, wie er an einem Frühlingstage 1831 freundlich dort empfangen wurde. Am 2. November desselben Jahres verlor er seine Mutter. Annette v. Droste-Hülshoff begnügte sich nicht damit, der Freundin in einem ihrer schönsten Gedichte einen tiefempfundenen Nachruf zu widmen; sie nahm sich auch mit mütterlicher Sorge des verlassenen Knaben an, der jedoch bald von Münster nach Osnabrück übersiedelte, seit 1833 in München, Heidelberg und Göttingen nicht eben leidenschaftlich Jurisprudenz studierte und erst 1837 nach Münster zurückkehrte. Was ihm dort bevorstand, mag man in seinen Erinnerungen (I, 104 ff,) lesen. Von seinem Vater, der in zweiter Ehe lebte, hatte er nichts mehr zu erwarten, und als geborener Hannoveraner konnte er den Zulaß zu einer juristischen Prüfung in Preußen nicht erlangen. Aber der scheinbare Nachteil gab für sein Leben die glückliche Entscheidung: er nötigte ihn, seiner Lieblingsneigung zu folgen und die in Göttingen nur nebenbei betriebenen literarischen Studien zur Hauptsache zu machen. Freilich an Bedrängnissen fehlte es nicht. Nur mit Mühe, durch Privatstunden in neueren Sprachen, konnte er das unentbehrliche gewinnen. Seine Dichtungen trugen nichts ein; was ihm aushalf, war sein kritisches Talent. Er wurde Mitarbeiter an mehreren Zeitschriften, insbesondere an dem von Gutzkow redigierten Telegraphen. Mit Annette v. Droste bestand vorerst nur eine lose Verbindung. Erst das Erscheinen von Annettens Gedichten und gesellschaftliche Berührungen führten wieder engere Beziehungen herbei, und zahlreiche Briefe der Dichterin geben Zeugnis, wie eifrig sie sich bemühte, dem bedrängten jungen Manne durch befreundete Personen eine sichere Stellung zu verschaffen.
Im Sommer 1839 wurde Schücking mit Freiligrath befreundet, der nach Münster gekommen war, um für das von dem Buchhändler Langewiesche ihm übertragene Werk »Das malerische und romantische Westfalen« Studien zu machen. Als Freiligrath sich der Ausführung dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte, trat Schücking, an historischen und literarischen Kenntnissen ihm weit überlegen, mit der zweiten Lieferung Ende 1840 für ihn ein. Aber auch diesem würde es schwer geworden sein, in der verabredeten kurzen Frist das Werk zu beendigen, hätte nicht Annette, beseelt von gleicher Heimatsliebe, unterstützt durch ihre Orts- und Personenkunde, mit der uneigennützigsten Freundschaft ihm Beistand geleistet. Auch an anderen Arbeiten Schückings war sie beteiligt, und ich bedaure lebhaft, die sich hierauf beziehenden hochinteressanten Ausführungen Hermann Hüffers in dem oben erwähnten, in der Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Aufsatze hier nicht wiedergeben zu können. Aus dem Schützling war mittlerweile ein Freund geworden. Die Freundschaft erstarkte noch, als Schücking mit ihr auf der Meersburg weilte, wo er die Bibliothek des Freiherrn v. Laßberg ordnete, des Schwagers der großen Dichterin. Über das Freundschaftsverhältnis zwischen Annette v. Droste-Hülshoff und Levin Schücking ist viel geschrieben worden, auch viel Unzutreffendes; hier ist aber nicht der Ort dafür, näher darauf einzugehen. Das glückliche Zusammensein auf der Meersburg dauerte vom Herbst 1841 bis zum Frühling des nächsten Jahres. Ostern 1842 ging Schücking, einem Rufe des Fürsten Wrede folgend, nach Schloß Ellingen in Franken, um die Erziehung der beiden Söhne des Fürsten zu übernehmen. Die Verhältnisse dort waren aber wenig erfreulicher Art, und Schücking war deshalb sehr erfreut, als ihn Freiherr v. Cotta aufforderte, an der Redaktion der Allgemeinen Zeitung teilzunehmen. Die neue Stellung bot ihm auch die Möglichkeit, den sehnlich gewünschten eigenen Hausstand zu gründen. Am 7. Oktober 1848 vermählte er sich mit Luise v. Gall und trat dann seine Stellung in Augsburg an. In angenehmem Verkehr mit Kolb, dem Leiter der Zeitung, und so ausgezeichneten Mitarbeitern wie Fallmerayer und List verlebte er dort zwei Jahre, übernahm aber im Herbste 1845 unter sehr günstigen Bedingungen die Redaktion des Feuilletons der Kölnischen Zeitung. Das Verhältnis zu seiner westfälischen Freundin war leider nicht mehr ungetrübt. Er hat sie auch bis zu ihrem Tode am 24. Mai 1848 nicht wiedergesehen.
Im Auftrage der Kölnischen Zeitung reiste er 1846 nach Paris, wo er mit Heinrich Heine in lebhaften, beinahe vertrauten Verkehr trat. Im Herbst 1847 wurde er zu längerem Aufenthalt nach Rom gesandt, um über die Reformen Pius' IX. und die begeisterten Regungen italienischen Nationalgefühls zu berichten. Die Nachricht von der Pariser Februarrevolution rief ihn nach Deutschland zurück. Noch vier Jahre verlebte er am Rhein; dann bewog ihn die Neigung zu vollkommener Unabhängigkeit, seine Stellung an der Kölnischen Zeitung aufzugeben. Seine Romane hatten ihn zu so anerkannter Geltung gebracht, daß ein so fleißiger Arbeiter wie er den Schritt in die Freiheit wagen durfte. Am 6. September 1852 machte ihn ein Kaufvertrag mit einer Verwandten zum Herrn des alten Stammgutes zu Sassenberg in der Nähe von Warendorf, das er noch vor Ende des Monats bezog. Zwei Söhne und zwei Töchter wuchsen heran; aber das glückliche Familienleben wurde durch den Tod der Mutter am 16. März 1855 getrübt. Schücking hat den Verlust niemals verschmerzt.
Seine Schaffenskraft blieb ungeschwächt; beinahe jährlich folgte von jetzt an ein größeres Werk, begleitet von Novellen und einigen dramatischen Versuchen. In dem einfachen Lebensgange des Dichters trat beinahe dreißig Jahre hindurch keine erhebliche Veränderung ein. Den Sommer verbrachte er gewöhnlich auf seinem Landgute, den Winter in Münster inmitten eines angeregten Verkehrs, zu dem auch fremde Besucher nicht selten beitrugen. Fünf Winter verlebte er auch in Rom, den von 1877 auf 1878 in Wien, wo ihm der Umgang mit Betty Paoli zu besonderer Freude gereichte. Am Schlusse seiner Biographie erzählt Hüffer: »Im April 1882 sah ich ihn zum letzten Male in Berlin, lebhaft angeregt, beweglich, als seien einige Jahrzehnte wirkungslos an ihm vorübergegangen, der helle Blick des Auges ungetrübt und das volle schwarze Haar noch ungebleicht. Um so weniger erwartet, um so betrübender kam im folgenden Jahre die Nachricht, daß er am 31. August 1883 zu Pyrmont in dem Hause seines dort als Arzt lebenden jüngsten Sohnes sanft und schmerzlos verschieden sei,« Emmy v. Dincklage sandte einen Heidekranz mit den Begleitversen:
Still, ernst und groß, der Heideheimat Sohn,
Ein Geist, der stets sich selber treu geblieben,
Bist sorgsam du dem lauten Schwarm entflohn
Und hast aus tiefstem, innerm Drang geschrieben;
Ruh sanft in roter Erd', ein hehrer Glanz
Auf deiner Gruft wird lang' nach uns noch leuchten,
Nimm, braver Mann, der Heimat Heidekranz,
Den schwere Freundestränen feuchten.
In Franz Brümmers Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten des 19. Jahrhunderts füllen die Titel der Werke Levin Schückings mehr als zwei Spalten, und es würde ein jahrelanges Studium erforderlich sein, wollte ein Verehrer des Dichters sein literarisches Schaffen in der Gesamtheit würdigen; selbst Hüffer gesteht, daß ihm Schückings zahlreiche Romane nicht ausreichend bekannt seien zur Erfüllung einer solchen Absicht. Trotz seiner großen Fruchtbarkeit ist Levin Schücking nach dem Urteile von Adolf Bartels aber nie von einer gewissen literarischen Höhe herabgesunken und Eugen Zabel urteilt, daß seine Produktivität niemals zur geistlosen Lohnarbeit zerflatterte und das Behagen, welches die Schriften dieses Dichters bei dem Leser hervorrufen, zum größten Teile darauf beruht, daß Schücking ein Erzähler im guten alten Sinne des Wortes war. »Er hat das Fabulieren als solches zur Hauptsache gemacht. Er freut sich der abenteuerlichen Verwickelung seiner Handlung, der kunstvollen Steigerung und Spannung, der Überraschungen und aller jener technischen Hilfsmittel, durch welche die Phantasie der Leser in Erregung versetzt wird. Schücking bleibt immer beweglich und unterhaltend, ein Poet, der für das Nacheinander der Dinge unerschöpfliche Quellen zur Verfügung zu haben scheint.« In dem Aufsatze, den Eugen Zabel in Westermanns Monatsheften (August 1884) über den fleißigen Mitarbeiter dieser angesehenen Zeitschrift veröffentlichte, hat er besonders nachdrücklich darauf hingewiesen, daß wenigen Poeten die Heimat in dem Grade zur Muse geworden ist wie Schücking. »Sie hatte ihm so viel Geheimnisvolles und Überraschendes zu erzählen, daß ihm der Stoff niemals ausgehen konnte. Wie Willibald Alexis die Mark, wie Spielhagen Vorpommern, wie Auerbach den Schwarzwald als dichterisches Eigentum ansehen konnten, so war bei unserem Autor Westfalen der Boden, der mit Land und Leuten sich in seinen Romanen einen getreuen Abdruck geschaffen hat. In diese Umgebung hatte schon Immermann die prächtige Episode vom Hofschulzen und der Lisbeth aus dem Münchhausen gerückt, nicht minder hat auch Freiligrath dem Lande manche Farben für seine Palette entnommen, aber sowohl der eine wie der andere blieben, was sie waren, auch wenn sie nach anderen Stoffgebieten die Hand ausstreckten. Schückings Talent war jedoch mit dem Boden der Heimat organisch dermaßen verknüpft, daß es nirgends anders wurzeln konnte und nur von ihm die volle Lebenskraft empfing.
Wenn es sich zuweilen aus der Umgebung der schützenden und nährenden Mutter selbst verbannte, kommt es uns trocken und überflüssig wie ein vom Baum gerissener, ängstlich im Winde hin und her flatternder Zweig vor ... Schücking erfaßt Westfalen nicht nur als Objekt nüchterner Studien, sondern er versenkt sich seelisch darein auf das tiefste und hat die Natur des Landes erkannt, wie man nur etwas erkennt, das man liebt ... Die Heide- und Moorwelt seiner Heimat ist ihm nicht tot, sie ist ihm auch nicht Gegenstand flüchtigen Interesses, sondern er geht darin auf mit scharfem Auge für das charakteristische Detail in Wald und Flur, mit seinem Ohr für das Rauschen der uralten Haine und die noch vernehmlicheren Geisterstimmen, die in ihnen für jeden nachdenklichen Menschen laut werden. Wie von selbst zieht diese Äußerlichkeit den Sinn auch auf das Innere, auf die Individuen, die in solcher Umgebung groß wurden, leben und schaffen. Im Anblick der zerstreuten Bauernhöfe mußte die Frage laut werden, worin das Charakteristische dieser Menschen liegt, die mit Kopf und Herz in den ererbten Besitz eingewachsen sind wie die Bäume ihrer Wälder, und von ihnen kam der Wanderer zu den schwelgerischen Gelagen der Domherren, die herrlich und in Freuden dahinlebten, sowie zu den wunderlichen Ideen und Gebräuchen der alten Adelsfamilien, an deren Schwelle sich die Wogen des modernen Lebens gebrochen haben und die neben vielem Schrullenhaften und Veralteten doch auch manches gute Element in sich schlossen.« Ich habe diesen treffenden Ausführungen nichts hinzuzufügen. Jedenfalls werden diejenigen seiner Werke, in denen er westfälische Zustände dargestellt hat, noch gelesen werden, wenn seine andern Bücher kaum noch dem Namen nach bekannt sind. Von seinem Werke »Das malerische und romantische Westfalen« ist das ganz selbstverständlich, weil es als poetische Schilderung der roten Erde unübertrefflich ist; aber auch die besten Romane, ich nenne nur »Paul Bronckhorst«, »Die Marketenderin von Köln«, »Verschlungene Wege« und »Schloß Dornegge«, werden immer gern gelesen werden, weil er sich in ihnen als ein feiner, geistvoller Erzähler und scharfer, kenntnisreicher Beobachter erweist, dazu als ein Mann, der ein ernstes, sicheres Gefühl nicht allein für die Handgriffe, sondern auch für die Kunst und die Pflichten des Schriftstellers besaß. Trotz aller Anerkennung, die gerade seinen Heimatromanen gezollt werden kann, muß aber doch gesagt werden, daß er, obgleich er seine westfälische Heimat in Vorzügen und Mängeln kannte und sie, an der sein Herz hing, mit dem Auge des Dichters und des Geschichtskundigen sah, gleichwohl kein Werk geschrieben hat, das etwa wie Immermanns Münchhausen unzertrennlich mit der deutschen Literatur und dem Bewußtsein der Nation verwachsen wäre. Der Dichter hat das selbst schmerzlich empfunden; »ich habe ihn öfters klagen hören, daß er nicht, ungehemmt von äußeren Rücksichten, seine ganze Kraft und Gestaltungsfähigkeit einer großen Aufgabe zuwenden könne,« erzählt Hermann Hüffer in der schon wiederholt erwähnten Biographie. Für seine innige Liebe zur westfälischen Heimat und für seine Gesinnungen zeugt auch das schöne Gedicht »Westfalen«, mit dem er im Herbst 1841 für elf Jahre von seiner Heimat Abschied nahm. Ich schalte den Schluß des elfstrophigen Gedichtes, das ich ungekürzt in mein Werk »Aus Westfalen. Bunte Bilder von der roten Erde« aufnahm, hier ein:
O, sei gegrüßt zum Scheiden,
Du Heimat, gute Nacht,
Mit deinen sonnigen Heiden,
Mit deiner Wälder Pracht –
Wie deine Hünensteine
Fest in uralter Treu',
Wie Tauben deiner Haine
Verschlossen, rein und scheu.
Mir gib zum Angedenken
Dies Laub, dem Zweig entrafft
Am Hute will ich's schwenken
Auf meiner Wanderschaft,
Mir unters Haupt es legen,
Träum' ich am fernen Strand –
Noch einmal: Gottes Segen!
Gegrüßt, gegrüßt mein Land!
Besonders in seiner späteren Lebenszeit ist Levin Schücking zu den religiösen Ansichten der Mehrzahl seiner Landsleute in immer schärferen Gegensatz geraten. Adolf Stern schreibt darüber in seiner Geschichte der neueren Literatur: »Dieselben Ereignisse und Kämpfe, welche nach 1848 und namentlich nach der Gründung des Deutschen Reichs eine Anzahl als Katholiken geborner west- und süddeutscher Dichter in das Lager hinüberdrängten, in welchem bis dahin die Konvertiten und die Ultramontanen vom reinsten Wasser allein geschart standen, führten ihn weiter nach links, auf die protestantische Seite, als er selbst in den vierziger Jahren für möglich gehalten haben würde.« Die beiden Romane, in denen er kirchliche Fragen zu beantworten versuchte, sind »Luther in Rom« (1870) und »Die Heiligen und die Ritter« (1873). – Ich kann bei diesen beiden Werken, so reizvoll es auch wäre, die mir vorliegenden so verschiedenartigen Beurteilungen gegenüber zu stellen, nicht mehr verweilen, weil der mir für diese Einleitung zur Verfügung stehende Raum nahezu erschöpft ist. Nur kurz erwähnen will ich auch Schückings Tätigkeit für den Nachruhm und die Verbreitung der Schriften seiner großen Freundin, deren edles, durch den Tod verklärtes Bild unvergänglich vor seiner Seele stand. 1860 gab er »Letzte Gaben« von Annette v. Droste heraus, zwei Jahre später erschien sein Buch »Annette v. Droste, ein Lebensbild«, eine überaus anziehende und bleibenden Wert besitzende warme, liebevolle Schilderung des Wesens der Freundin; 1879 endlich besorgte er auch die erste Sammelausgabe von Annettens Schriften.
»Der Grundgedanke meiner Schriften,« sagt Schücking einmal, »ist Emanzipation des Menschen im allgemeinen und der Frau im besonderen von den Fesseln jener Anschauungen und Lebensverhältnisse, die das Individuum in seinem Selbstbestimmungsrecht beschränken und es hindern, sich seiner Natur gemäß zu echtem Menschentum zu entwickeln. Es hängt das zusammen mit jenem angeborenen Unabhängigkeitsbedürfnis des Westfalen, der bei einer in sich gekehrten Natur wenig von der Welt verlangt, dafür aber auch sich zornig aufbäumt, wenn die Welt in sein Wesen eingreifen will.« Mit diesen Worten hat der Dichter die Hauptmomente seines literarischen Wirkens und Schaffens klar hervorgehoben. Und wenn seine Romane auch keinen Markstein in unserer Literatur bedeuten, für deren gesundes Leben sprechen sie doch, und wahr sind die Worte, die ein Freund des Dichters aussprach, heute noch: »Welche Fülle von Kenntnissen, Erinnerungen, Fähigkeiten geht mit dem Verstorbenen dahin! Für Westfalen ist niemand, der ihn ersetzen könnte.«
Ich hoffe, daß diese billige Ausgabe zweier Dichtungen dem Dichter manchen neuen Freund gewinnt zu den alten, die ihm Treue gehalten haben. Ihnen empfehle ich ganz besonders seinen Roman »Paul Bronckhorst«, der den Leser in die bewegten, wechselvollen Ereignisse zu Anfang des vorigen Jahrhunderts versetzt. Gottschall nennt ihn in seiner »Nationalliteratur« mit Recht die Iliade der westfälischen Autonomen, deren Göttermaschinerie die feudalen Ideen bilden; der Roman zeichnet sich durch glückliche Anlage und künstlerische Ausführung aus.
Iserlohn, im Juli 1904.
Ludwig Schröder