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Einundzwanzigstes Kapitel.
Herr Böhmer und sein Plan

Auf Schloß Edern war es seit einiger Zeit sehr still geworden. Die alte Gräfin war nicht zufrieden mit dem Laufe der Dinge, der ihr so lange den Gefallen gethan, ihren Wünschen und Vorstellungen im großen Ganzen zu entsprechen, und der nun plötzlich so rebellisch geworden. Ihr Plan, gegen das über ihr hangende Ungewitter einen Blitzableiter zu errichten, indem sie Gundobald in ihre Familie aufnahm und durch Boto's Verbindung mit Hermine das Interesse des geistlichen Rathes auf ihre Seite zog, war völlig zu Schanden geworden – und das, wie sie sich sagte, lediglich durch den abscheulichen Streich jener Eugenie von Chevaudun, die mit ihrem falschen Namen, ihrer falschen Rolle, ihrer goldgefüllten Kassette gekommen war, um alles, was sie so gut eingeleitet, gründlich zu zerstören.

Statt das alles wieder gut zu machen, wie doch im Grunde ihre Gewissenspflicht gewesen wäre, und Boto ihre Hand zu reichen, hatte dieses ruchlose Geschöpf Boto's Bewerbung rundweg abgelehnt. Und Boto war das so tief zu Herzen gegangen, er war in so düsterer Stimmung seitdem; auch das große Bankproject war ja gescheitert, gewiß auf den Betrieb Eugeniens bei ihrem Vater, dem großen Geldbaron, hin; seine Dampfmühlen erheiterten ihn auch nicht mehr, sie verschlangen so große Anlagesummen und die Aussicht auf Gewinn zog sich dabei in immer weitere Perspective zurück.

Und nun lastete auf Mutter und Sohn noch die Sorge wegen Ludwig's Brief, von dem ihnen Böhmer berichtet; dieser räthselhafte Brief, der ihnen so verhängnißvoll werden konnte, lag wahrhaft wie ein Alp auf ihnen.

Wie hätte das alles, alles anders werden können, seufzte Boto eines Abends, wo er seiner Mutter allein gegenübersaß, tief auf – wie hätten wir Gundobald den ganzen Bettel vor die Füße werfen können, wenn ich besser berathen gewesen, wenn ich mich nicht so grenzenlos thöricht bei dieser Chevaudun betragen hätte … der Aerger, die Reue, der Verdruß, die Wuth darüber werden mich noch ersticken – ich habe Augenblicke, wo ich mir ein Leids anthun möchte, wenn ich daran denke, daß dieses Mädchen mit ihren Millionen so viele, viele Tage lang in unserm Hause war und daß mir um sie zu gewinnen nichts Besseres einfiel als diese heillos dumme Komödie mit dem Schuft Beltram … diese einfältige Retterrolle, die ich bei ihr spielen wollte, und in der ich noch obendrein zu spät kommen mußte! Bei Gott, es ist zum Verzweifeln!

Ich begreife, daß dir die Sache zu Herzen geht, antwortete die Gräfin; aber sie ist jetzt nicht mehr zu ändern, du mußt sie jetzt wie eine Schickung Gottes annehmen…

Ist sie nicht mehr zu ändern? Und weshalb am Ende nicht? Das frage ich mich so oft, ach so oft! Die Chevaudun lebt noch immer in unserer Nähe – soviel wir wissen frei, an niemand anderes gefesselt – weshalb, weshalb Mutter, sollte es unmöglich sein, sie am Ende doch noch zu gewinnen? Mit Klugheit, mit Energie, mit festem entschlossenem Willen? Sie ist doch am Ende ein Mädchen wie andere auch! Wenn ich nur erst ein Mittel, irgendeinen Weg gefunden hätte, mich ihr wieder zu nähern, irgendeine Anknüpfung, irgendeinen schicklichen Vorwand, sie aufzusuchen … und eine Art freundlichen Verkehrs wiederherzustellen … und dann, dann wehe dem, der wieder zwischen sie und mich träte, wie damals dieser Dankmar!

Gräfin Wallburg antwortete nicht gleich auf die mit dem Ausdruck der höchsten Leidenschaftlichkeit hervorgestoßenen Worte ihres Sohnes. Dann sagte sie:

Du magst darin recht haben, daß es nicht so ganz unmöglich wäre, wieder eine Anknüpfung zu finden … und wäre die gefunden, so ließe sich dann ja sehen … am Ende muß sie ja selbst einsehen, daß sie gegen uns, die wir sie vertrauensvoll aufnahmen, nicht schön gehandelt hat, als sie ohne alle Rücksicht auf uns sich zu Gundobald's Partei schlug – als sie so brüsk uns verließ … wer weiß, wie gern sie selbst deshalb eine Versöhnung suchte, um es ein wenig wieder gut zu machen …

Darum nur ein Mittel, einen Vorwand, rief Boto aus – ich bitte dich, Mutter, schaff' ihn mir, denn ich zerquäle mir umsonst das Hirn darüber!

Die Gräfin sah sinnend vor sich hin, als das Gespräch durch einen Diener, der hereinkam, gestört wurde.

 

Nicht ganz so schwer trug Comtesse Edwine ihr Schicksal, die Huldigungen Gundobald's verloren zu haben. Aber sie war doch sehr ungnädig gegen ihn gestimmt, sie drückte sich sehr spöttisch über ihn aus, wenn die Rede auf ihn kam; sie ging träumend, theilnahmlos umher, ließ von ihrem Lieblingshunde Pluto Steine aus dem Wasser apportiren, zankte sich nun und dann mit der Kammerjungfer, weil ihre Unterröcke nicht genug gestärkt waren, und schlief bis in den hellen Morgen hinein.

Bertha, die eine neue Gouvernante haben sollte, sobald die Gräfin Edern nach der gemachten Erfahrung sich dazu entschließen konnte, aufs neue eine solche Person in ihr Haus zu nehmen, brachte einen großen Theil ihrer Stunden im Gesindezimmer zu und gab dann von Zeit zu Zeit ihrer Mama Berichte über die Vorkommnisse in dieser Region, welche von ihrem Talente zu spähender Beobachtung sehr Günstiges schließen ließen.

Nur Graf Achatius war ganz der alte; sein unangefochtenes Gemüth bedurfte der Sinnsprüche, welche er sammelte, nicht, um sich eine weise Heiterkeit zu bewahren, und wenn er sich das Horazische

Aequam memento rebus in arduis
Servare mentem

vorsagte, so geschah dies nicht aus einem philosophischen Trostbedürfnisse oder weil ihm die res als arduae vorgekommen wären; er nahm die philosophischen Pastillen blos des Wohlgeschmackes wegen.

Er saß an seinem mit alten Büchern bedeckten Tische unter dem Fenster in der Wohnstube auf Schloß Edern; vor ihm lag ein Quartant und auf der aufgeschlagenen Seite zeigte ein sauberer Kupferstich den berühmten durch Flammen sich schlängelnden Salamander Franz' I.

Extinguo et nutriscor! las er die dazugehörige Legende – ich werde nie dahinterkommen, was es bedeuten soll! Ich lösche die Flamme und nähre sie. Seltsam, seltsam! Hat das einen Sinn? Wenn's einer von den heutigen großen Demagogen sagte, könnt' ich's mir auslegen: ich wiegle auf und wiegle ab! Aber Franz I.? Hat er an seine Leidenschaften gedacht? Vielleicht, fuhr Graf Achatius fort und legte den Zeigefinger an seine Nase – vielleicht heißt's nur: viel trinken macht durstig, oder just so viel als: l'appetit vient en mangeant! Dieser liederliche König Franz!

In diesem Augenblicke kam ein Wagen auf den Schloßhof gerollt; Achatius blickte auf und sah Herrn Böhmer's leichtes Gefährt. Herr Böhmer sprang eilig herunter und trat sehr bald, nach einem flüchtigen Anklopfen, ohne sich weiter melden zu lassen, ins Zimmer. Er sah ein wenig echauffirt und aufgeregt aus.

Ah, Herr Böhmer, sagte Achatius, ihm ohne aufzustehen die Hand reichend – Sie sehen ja auch aus wie ein Salamander – setzen Sie sich; die Gräfin wird sogleich erscheinen – wollen Sie eine Erfrischung haben? Was bringen Sie Neues?

Nicht viel Gutes, Herr Graf, nicht viel Gutes; es ist eine sehr arge Welt, und wenn es in Ihren alten Büchern da anders steht, so werfen Sie sie fort und schaffen sich neue an.

Das werde ich schön bleiben lassen, Herr Böhmer, versetzte Achatius; wenn die Welt arg ist, so kommt das ja blos daher, weil die Menschen sich keine gute Devise als Richtschnur für ihr Handeln mehr nehmen – mit einer guten Devise kommt man durchs ganze Leben – sehen Sie, dieses alte Buch hier stammt noch aus Nesselbrook's Bibliothek; er war ein gescheiter Mann, der Alte, aber dieses Buch hier wußte er nicht zu achten und schenkte es mir. Ich will es dir geben, Achatius, es ist etwas für dich, sagte er; du bist solch ein Goldwäscher, der seine Freude daran hat, wenn er sich aus viel Schlamm einzelne Goldkörner herausfischt; für mich ist das nichts, ich liebe das Gold gleich in ganzen Barren!

Damit meinte er seine dicken philosophischen Systeme, seinen Descartes, seinen Malebranche – aber du liebe Zeit, was fängt man mit plumpen Goldbarren an!

Man schlägt Münze daraus, Herr Graf.

Ja, wenn man ein königlicher Geist ist, der das Münzrecht hat. Der alte Nesselbrook aber wußte nichts anderes damit zu beginnen, als langen Draht daraus zu ziehen, goldene Gedankendrähte, die immer feiner und feiner und immer länger wurden; damit knüpfte er dann das nächste an das Fernste, und war man bei ihm, so saß man, ehe man sich's versah, mitten in einem solchen goldenen Gewebe, wo das eine Ende an die wandernden Kirgisen am Amur und das andere an den kleinen Schuh Aschenbrödel's, eins an die sieben Heerschilde des Sachsenspiegels und ein anderes an einen Vers des Zentavesta geknüpft war. Wie der Mann die Welt sah! Es war einem zu Muthe bei ihm, als säße man neben dem sausenden Webstuhle der Zeit! Endlich aber wurde ihm des Schwirrens dieses Webstuhls doch selber zu viel; es wurde ihm schwindelig dabei, das Drahtgewirre um ihn her beengte ihm den Athem; er raffte seine Kraft zusammen und brach durch, er ging durch die Lappen, seine eigenen Lappen, wie ein wunder Hirsch!

Durch seine eigenen Drähte – ja, so mögen Sie's wol nennen, Herr Graf – aber, bemerkte Herr Böhmer, ich fürchte, der Draht, den er an den Schuh seines Aschenbrödel – da Sie doch von Aschenbrödel sprechen – angeknüpft hatte, zerriß nicht dabei, sondern schleifte …

Herr Böhmer wurde hier unterbrochen; die Gräfin trat herein.

Nun? sagte sie, bei seinem Anblicke ein Erschrecken nicht ganz verbergend und rasch auf ihn zuschreitend – Sie sehen nicht aus, als ob Sie viel Gutes brächten!

Doch, doch, doch, Frau Gräfin, versetzte er, sich leicht verbeugend – ich habe eine gute Nachricht, für Sie, heißt das – es war alles eine unnütze Sorge – ich habe den Brief der Frau Randheim, den wir so fürchteten, Frau Gräfin, und der Brief ist völlig harmlos für uns – er enthält nichts als eine Anweisung auf Gundobald Burghaus, der nicht in der Lage ist, diese Anweisung honoriren zu können – der verdammte Bursche, der Thonkneter, ist hübsch damit angeführt – da, lesen Sie selbst, lesen Sie es!

Herr Böhmer zog sein dickes Taschenbuch hervor und nahm daraus die Abschrift des Briefes, die wir Helene im Begriff sahen ihm zu übersenden, und die gestern nebst ihrem »rührenden« Schreiben bei ihm angekommen.

Die Gräfin begab sich zu ihrem gewöhnlichen Platze in der Sofaecke und überflog hier das Schriftstück.

In der That, sagte sie dann, erleichtert aufathmend, das ist nichts Gefährliches. Es beweist nur das Vorhandensein eines Testaments; es würde, wenn ein solches vorgebracht würde, dasselbe bekräftigen können und in den Augen der Richter seine Wichtigkeit haben; aber ohne das ist es das Porto nicht werth, das es gekostet haben mag! Bitte, ziehen Sie die Klingel, Herr Böhmer – ich will Boto rufen lassen, ihm die gute Nachricht mitzutheilen.

Während man Boto erwartete, fuhr Böhmer fort:

Für mich habe ich keine so guten Nachrichten; wissen Sie, wo meine böse Hexe von Tochter ist?

Nun?

In Dornegge!

In Dornegge – Fräulein Eugenie hat sich ihrer angenommen? Sie beschützt das leichtsinnige Geschöpf, das seinem Vater entlaufen ist? Nun, das sieht ihr ähnlich – Fräulein von Chevaudun demaskirt sich immer mehr!

Ist es nicht abscheulich? stimmte Böhmer ein.

Und just jetzt, jetzt, wo der Bildkneter auch da ist – es wird ein schönes Leben da sein, in Dornegge, ein erbauliches Leben – den Bildkneter hat man eingeladen, zu bleiben – und meine fromme, folgsame Helene wartet in seiner Gesellschaft ab, bis sie ihren Papa mürbe gemacht und zur Vernunft gebracht hat – sie hat ja Zeit, und Zeitvertreib jetzt auch – und der Papa muß doch am Ende Ja sagen – besonders bei den glänzenden Aussichten, die der junge Künstler jetzt zu bieten hat! Bei dieser Anweisung auf Güter im Monde, mit Renten, die keinen hungerigen Hund fett machen – da muß der Papa sich doch endlich zum Guten legen – aber wart – ich will euch dazwischenfahren – wie ein Wetter will ich dazwischenfahren …!

Woher wissen Sie, daß Helene in Dornegge ist? unterbrach die Gräfin Edern den zornigen Mann.

Woher? Nun, das ist mir bald klar geworden. Sie hatten's schlau genug gemacht – ich habe den Meister Ludwig beobachten lassen, jeden seiner Schritte, habe sogar den Briefträger von unserm Stadtviertel bestochen – aber lange hatte ich keine Spur, wo sie stecken könne – der Meister Ludwig schrieb keinen Brief und empfing keinen. So kam die Zeit, wo er sein Actenstück da, seinen Brief an Herrn von Burghaus bringen mußte, und dann sicherlich auch weiter ging, um Helene zu besuchen – und richtig sah ich ihn am ersten Juli ausziehen. Ich ließ ihn im Auge behalten, Frau Gräfin, ich hatte einen Mann, der ihm folgte – aber der Mann blieb lange aus, bevor er heimkam – Meister Ludwig hatte seltsamerweise allerlei Kreuz- und Quertouren gemacht, ehe er seinen Wanderstab an den Thürpfosten von Schloß Dornegge gelehnt und im Innern verschwunden war. Aber seltsamerweise kam er nicht wieder heraus, seine Reise zu Helene fortzusetzen, und mein Mann kam zurück und sagte: Herr Böhmer, es hilft weiter gar nichts, daß ich da um das alte Castell herumlungere, den Gärtnerjungen aushorche und die Küchenmagd, wenn sie in die Mühle Milch zu holen geht, zum Schwatzen bringe – es hilft weiter gar nichts. Der junge Mensch scheint sich da oben zu behagen und denkt so wenig ans Abziehen wie der Fuchs, wenn er einmal in der Dachshöhle sitzt. Es müßte denn sein, daß der Gärtnerbursche, der Eduard heißt und ein grausam verschmitzter Kerl ist, ihn austriebe; denn er ist fuchsteufelswild wider ihn, er sagt, er habe ihm seine Liebste weggeschnappt. Seine Liebste weggeschnappt, wie ist das, Mann? bin ich dazwischengefahren. – Wie das ist? Nun ich denk', für den Burschen ist das ärgerlich! sagt mein Schlaukopf und redet dann von dem Meister Ludwig, und der »Wilhelmine«, dem flotten, naseweisen Ding, das bei dem Fräulein Kammerjungfer sei, und wie der Ludwig und die Wilhelmine gar nicht mehr ohneeinander gesehen würden, und nun, mit Einem Worte, ich hätte blind sein müssen, hätt' ich's nicht gemerkt, daß die Helene in Dornegge ist und sich Wilhelmine nennt, und daß dieses Fräulein von Chevaudun sie bei sich verbirgt und für ihr Kammermädchen ausgibt – ist es nicht haarsträubend, Frau Gräfin, wahrhaft haarsträubend von dieser Person?

Meinen Sie Helene oder die Chevaudun?

Ich meine die Chevaudun, natürlich die Chevaudun – wie hab' ich sie freundlich bei mir aufgenommen! Mir das so zu vergelten! Aber lassen Sie mich weiter erzählen. Ich ging just bei mir zu Rathe, was nun zu thun sei, da sendet mir die Frau Randheim einen Brief von Helene – einen langen, kindischen, unverschämten Brief, und den Wisch da – Herr Böhmer deutete auf die Copie des Schreibens des alten Freiherrn an Gundobald, die vor der Gräfin auf dem Tische lag, und den Wisch da – Beides als Einlagen einer Epistel, die sie von ihrem Ludwig bekommen, und, läßt Frau Randheim dazu sagen, eine Antwort von mir wolle sie gern an Ludwig gelangen lassen, der sie weiter besorgen werde – nun ja, glaub's schon, zur Weiterbesorgung hat er nicht weit zu gehen – aber ich habe ihr darauf dienen lassen, dieser Frau Randheim – ich danke, ich werde die Antwort schon selbst besorgen – ich will ihnen mit der Antwort schon kommen!

Was wollen Sie jetzt thun, Herr Böhmer? fragte die Gräfin, welche mit großer Spannung dieser Erzählung gefolgt war. Sie wollen an die Chevaudun schreiben und sie auffordern …

An die Chevaudun? Werde mich schön hüten! Würde mir wenig helfen! Damit sie mir höhnisch antwortet: Helene sei gar nicht in Dornegge – sie wisse nichts von meiner Helene, die solle ich selber hüten! Nein, dazu bin ich zu schlau!

Während dieser Worte war Boto eingetreten; Herr Böhmer sprang auf und begrüßte ihn, und die Gräfin theilte ihm rasch alle Nachrichten mit, die sie eben erhalten. Und während dann Boto das Papier nahm und mit höchst befriedigter Miene überflog, fuhr Herr Böhmer fort:

Nein, nein, nein, mit solchen Leuten darf man nicht so offen zu Werke gehen – wenn ich jetzt ohne Arg und Vorsicht nach Dornegge käme und mich da bei Fräulein von Chevaudun anmelden ließe mit einer schönen Empfehlung, ich sei da, um Helene zurückzuholen, so würde die Helene verschwinden, darauf können Sie sich verlassen; es gibt Versteckwinkel genug in dem alten Dornegge, ich kenne selber einige – nein, nein, nein, so ist meine Absicht nicht – wir müssen die Sache schlauer angreifen!

Und was wollen Sie thun, Herr Böhmer? fragte Boto.

Ich will sie ohne weiteres entführen – bei Nacht und Nebel – ich will ohne weiteres hineingehen, die Helene aus ihrer Kammer herausholen, in einen Wagen packen und dann fort damit – das will ich thun!

Wenn Sie dabei nur keine Schwierigkeiten finden, Herr Böhmer, fiel die Gräfin ein.

Schwierigkeiten – wüßte nicht, welche ich finden sollte! Ich kenne Schloß Dornegge, habe als kleiner Junge darin gespielt, dazumal, als mein Vater noch beim alten Nesselbrook war, bin hundertmal spät abends nach Thorschluß noch in Schloß Dornegge hineingekommen – dafür lassen Sie mich sorgen – und wo die »Wilhelmine« im Schlosse schläft, das weiß ich auch schon, das war nicht schwer zu erfahren, dafür hat mein Mann, Sie verstehen schon, wen ich meine, – mit dem Küchenmädchen Freundschaft gepflogen – werde den Weg schon finden – aber eins, Frau Gräfin, eins muß ich vorher bei mir ausgemacht haben!

Und was wäre das? fragte die Gräfin.

Ganz sicherlich, fiel hier Achatius ein, der, in seinen Stuhl am Fenster zurückgelehnt, die ganze Unterredung still angehört hatte, ganz sicherlich, ob Sie nicht besser thäten, den Ludwig und die Helene ruhig beieinanderzulassen – denn am Ende, Herr Böhmer, bekommt er sie doch!

Gott soll mich bewahren! rief Herr Böhmer entrüstet aus. Der Thonkneter meine Tochter – woran denken Sie, Herr Graf?

An den gewöhnlichen Lauf der Dinge, sagte Achatius mit spöttischem Lächeln, an den gewöhnlichen, natürlichen Lauf der Dinge! Daß der Papa seine Tochter entführt, ist nicht der natürliche Lauf der Dinge; überlassen sie solche Streiche der Jugend, Herr Böhmer; die wird am Ende doch immer fertig mit dem, was sie will – sie hat die gehörige Unvernunft dazu, und das ist ihr Vortheil bei der Sache – wir Alten haben keine gehörige Unvernunft, und deshalb bringen wir nichts zu Stande!

Ich meine, an Unvernunft fehlt es dir doch nicht, Achatius! bemerkte hier mit verdrießlichem Tone die Gräfin – laß Herrn Böhmer weiter sprechen.

Herr Böhmer sprach weiter. Er sprach noch vieles weiter, und zwar, um der Gräfin Edern die Erlaubniß abzugewinnen, seine Tochter Helene zu ihr nach Haus Edern bringen zu dürfen.

Nehme ich sie in mein Haus, so sind nicht zwölf Stunden vergangen, sagte er, und der Teufel hat den Thonkneter im Nachbarhause wieder da! Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, Frau Gräfin; es hat noch niemand gesagt, der Böhmer sei ein Gimpel, der sich übers Ohr hauen lasse, und wer mich anführen will, der muß früh aufstehen, aber wie ich's anfangen soll, die beiden Sünder auseinanderzuhalten, wenn sie nebeneinanderwohnen, davon habe ich keinen Begriff. Die Helene, das vorwitzige Ding, ist so verkehrt und verwegen geworden, daß sie im Stande wären, die Mauer zwischen meinen Häusern zu unterminiren; ein Loch brächen sie mir durch die Wand, wenn's sonst nicht anginge. Und soll ich sie ins Kloster sperren, um dessentwillen sie mir fortgelaufen ist? Die halten auch die Klostermauern nicht! Ueber Mauern läßt sich hinüberklettern. Ich bin nirgends sicher, als wenn ich sie weit von der Stadt habe.

Mir ist das durchaus keine angenehme Aussicht, solch einen Wildfang hüten zu sollen, Herr Böhmer, sagte die Gräfin.

Aber wenn ich Sie bitte! versetzte Böhmer bedeutungsvoll. – Es wird nicht anders angehen, Frau Gräfin, es wird nicht anders angehen. Hab's mir überlegt. Ich muß auch auf Helenens Ruf sehen. Es darf nicht heißen: sie ist fortgewesen, niemand weiß wohin, und dann wiedergeholt und ins Kloster gesperrt worden – es geht nicht, Frau Gräfin, es geht nimmermehr! Ich muß sagen können: die Helene ist auf ein halbes Jahr zur Frau Gräfin Edern gegeben; sie lernt da die feine Küche, die Haushaltung – damit ist jedermann befriedigt, jedermann findet das in der Ordnung; das ist recht, Böhmer, sagt jedermann, bei der Frau Gräfin kann sie etwas lernen und da ist sie wohl aufgehoben! Von ihrem tollen Streiche aber erfährt dann niemand, niemand hat ein Arg! Also, Frau Gräfin, willigen Sie ein, Sie wissen, welchen ergebenen Diener Sie an mir haben, und – setzte Herr Böhmer mit einem nicht miszuverstehenden Tone hinzu: eine Hand wäscht die andere!

In Gottes Namen denn, antwortete die Gräfin mit einem Seufzer; bringen Sie mir Ihre Tochter, ich will ihr ein Zimmer bereit machen lassen – fürs erste will ich sie aufnehmen und Ihnen hüten, wenn's auch nicht gleich für ein halbes Jahr zu sein braucht!

Nun, meinetwegen für ein Vierteljahr, fiel Böhmer ein – und Sie, Graf Boto, was meinen Sie, wenn ich Sie bäte, mich auf meiner Expedition zu begleiten?

Graf Boto hatte schweigend und nachdenklich dem allen zugehört; jetzt sagte er, betroffen aufschauend:

Ich sollte Sie begleiten – und wozu?

Weil ich nicht gern allein gehe; weil ich nicht weiß, ob ich nicht auf Hindernisse stoße, ob dieser Thonkneter nicht am Ende die Verwogenheit hat, mir in den Weg zu treten – halten Sie das für unmöglich?

Unmöglich wäre das nicht.

Gewiß nicht, und Sie, Sie kennen Dornegge, wie ich es kenne, jeden Winkel darin – haben auch als kleiner Junge darin gespielt, wissen auch, in welche Nester die Ratten da schlüpfen und wo der Fuchs seine Wechsel hat. Sie wären mein Mann, Graf Boto, auf solch einer Tour!

Das ist aber doch eine seltsame Zumuthung für Boto! sagte die Gräfin Edern unmuthig.

Ein Freundesdienst, nur ein Freundesdienst! sagte Herr Böhmer, Boto's Antwort erwartend.

Dieser strich einigemale schweigend das Kinn, dann antwortete er langsam und bedächtig:

Wenn du nichts dagegen hast, liebe Mutter, werde ich Herrn Böhmer diesen Freundesdienst leisten!

Er sah sie dabei mit einem bedeutungsvollen Augenblinzeln an, das Herrn Böhmer entging, aber die Gräfin zu der Antwort bestimmte:

Ich habe gewiß nichts dagegen, daß du Herrn Böhmer einen Gefallen thust – beschließe ganz, wie du willst.

Nun, das ist brav, rief Herr Böhmer aus, das ist liebenswürdig von Ihnen und Graf Boto; und nun bin ich meiner Sache sicher – nun ist sie gemacht – um Mitternacht ist in Dornegge alles still – um Mitternacht hole ich mein Kind heraus, und in der Morgendämmerung, so zwischen drei und vier, können wir mit ihr hier sein, Frau Gräfin, thut mir leid, daß wir so früh die Störung machen müssen, aber Noth kennt kein Gebot – wenn Sie nur die Gnade haben, einen Diener und eins von Ihren Mädchen aufbleiben und auf unsere Ankunft warten zu lassen – das reicht vollständig hin, vollständig – und Böhmer wird's Ihnen nicht vergessen, Frau Gräfin, Zeit seines Lebens nicht, auch Ihnen nicht, Graf Boto – Sie können verlangen, was Sie wollen, und Sie sollen sehen, daß Gerhard Böhmer der Mann ist, auf den man bauen darf!

 

Der Plan Böhmer's wurde nun noch in seinen kleinern Einzelheiten festgestellt, und dann nahm man zusammen das Mittagsmahl ein, zu dem eben geläutet worden. In der späten Nachmittagsstunde aber fuhr ein mit zwei starken, hohen Füchsen bespannter, geschlossener Wagen vor; Gräfin Edern hatte darauf aufmerksam gemacht, daß ein geschlossener Wagen für Böhmer's Unternehmen zweckmäßiger sei, als sein leichtes, halboffenes Gefährt, und die beiden Männer machten sich auf den Weg, nachdem sie Christian, dem Kutscher, seine Instruction gegeben.

Es war fast Dämmerung, als sie ein Dorf erreichten, welches ungefähr eine halbe Stunde von Dornegge entfernt lag. Vor dem Wirthshause desselben stiegen sie aus, und Christian spannte seine Pferde aus, um sie zu füttern. Boto und Böhmer bestellten ein Nachtessen und ließen sich Wein unter die Linde vor das Haus hinausbringen, wo man den Abendverkehr der friedlichen Landbewohner beobachten konnte; diese saßen auf den Bänken vor ihren mit der Giebelseite der Straße zugewendeten Häusern, mit von der Tagesarbeit müden Armen, aber aber regsamen Zungen; die fremden Herren und der schöne, ausgespannte Wagen vor dem ländlichen Hotel mochten der Gegenstand ihrer lebhaft ausgetauschten Bemerkungen sein – menschliche Theilnahme an fremden Erscheinungen ist auf dem Lande ein so vorherrschender Zug – er schien hier sogar auf den braunen Metzgerhund übergegangen, der Herrn Böhmer's Stuhl umschlich und seine Knie beschnupperte, sehr zum Unbehagen des Herrn Böhmer, der scheu diese stattlichen Knie zurückzog.

Die Bestie wird doch nicht toll sein, wie, Herr Graf? sagte Herr Böhmer. Man hört jetzt so entsetzlich viel von tollen Hunden.

Toll? Nein, wenn er toll wäre, würde er nicht erst so vernünftig und gründlich untersuchen, wo er Sie am besten in die Wade oder in den Schenkel beißen mag.

Ich bitte Sie um Gottes willen, Herr Graf, thun Sie mir den Gefallen und locken Sie mir den Hund fort!

Geben Sie ihm einen Fußtritt!

Ich werde mich hüten – glauben Sie, ich hätte Lust, die Feindseligkeiten zu eröffnen?

Aber wissen Sie, daß es sehr schlimm ist, daß Sie solch ein Hase sind, Herr Böhmer, und sich vor Hunden fürchten?

Schlimm weshalb? Ich denke, das ist meine Privatangelegenheit und etwas sehr Natürliches. Seitdem jeder dritte Hund toll wird …

Toll oder nicht – wenn man Hunde fürchtet, soll man nicht bei Nacht und Nebel Expeditionen wagen, bei denen man just am ersten in Span und Hader mit ihnen gerathen kann!

Sie glauben doch nicht etwa, daß in Dornegge Hunde gehalten werden? Frauenzimmer halten keine Hunde.

Sind Sie dessen so gewiß? Es könnte doch eine unangenehme Ueberraschung werden, wenn ein großer Hofhund uns in die Quere käme!

Das wäre eine unangenehme Ueberraschung! erwiderte Herr Böhmer, leicht die Farbe wechselnd – aber das ginge Sie an, Graf Boto, fügte er dann lachend hinzu; machen wir das vorher aus – die Frauenzimmer, welche uns in den Weg treten könnten, nehme ich auf mich, und Sie die Hunde!

Meinethalben, versetzte Boto, ich fürchte beide nicht!

Es wird aber keine Noth haben, fuhr Herr Böhmer fort. Gibt es Hofhunde auf Dornegge, so werden sie den Hof hüten; wir aber wollen nicht über den Hof, wir gehen ganz einfach auf der Rückseite durch die Glasthür, welche am Ende des Küchenganges liegt. Die Glasthür ließ sich schon zu meiner Zeit nicht mehr ordentlich schließen und flog auf, sobald man dem Schlosse den richtigen Druck gab; seitdem wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht besser geworden sein. Springt sie aber nicht auf, nun, so stoßen wir einfach eine Scheibe ein – wir haben nichts zu fürchten, Herr Graf, denke ich, und wahrhaftig, ich werde nicht viel Federlesens machen!

Graf Boto mußte gegen dies alles nichts einzuwenden haben, denn er schwieg und trank sein Glas aus.

Nachdem man das Nachtessen eingenommen, befahl Graf Boto seinem Kutscher, einzuspannen. Als man das Dorf verließ, schlug es in dem alten, grauen Thurme neun Uhr. Der Weg lief nach einer Viertelstunde in das stille, kleine Gebirgsthal ein, welches von dem Schlosse Dornegge beherrscht wurde. Der Wagen folgte dem Wege, bis man deutlich das Rauschen des Mühlenwehrs hörte.

Die beiden Männer stiegen jetzt aus und hießen den Kutscher rechtsab in ein Gehölz fahren, das sich einen allmählich anschwellenden Hügel hinaufzog; ein Weg schlängelte sich unter den Aesten junger Buchen, zwischen denen einzelne hohe alte Eichen standen, hindurch und lief auf eine grasbewachsene Halde aus. An dieser Stelle, wo man die Hecken der Gärten von Schloß Dornegge jenseit der Halde dicht vor sich und darüber rechts das Gebäude selbst zum Theil aus den Baumwipfeln dieser Gärten aufragen sah, hielt der Wagen, noch vom Schatten des Gehölzes geborgen.

Es war eine stille, laue, zauberhaft schöne Sommernacht. Der Mond stand mit einer schmalen, spitzen Sichel am wolkenlosen Himmel; aber das Sternenlicht reichte völlig hin, sich zu orientiren und klar alle nähern Gegenstände zu unterscheiden.

Boto ließ seine Uhr repetiren.

Es ist noch weit von zehn, sagte er. Wie schlagen wir die Zeit tobt, bis wir die Lichter in Dornegge erlöschen sehen und alles zur Ruhe ist?

Ich hätte Lust, erwiderte Böhmer, eine kleine Recognoscirung anzustellen – rechtsherum durch diese Buchenpflanzung kann ich auf die Rückseite kommen – vielleicht ist da alles still und es gelingt mir, bis an unsere Glasthür vorzubringen – zu sehen, ob die alte Freundin meiner Jugendtage noch im frühern Stande und so gutmüthig wie ehemals ist.

Einverstanden, Herr Böhmer, versetzte Boto lebhaft; ich will unterdeß Ihrem Beispiele folgen und durch die Gartenanlagen da vor uns eine kleine Streiferei machen, um die Festung von dieser Seite zu recognosciren.

Gut, gut, sagte Böhmer, und während Boto sogleich davonschritt, fuhr er, sich an den Kutscher wendend, fort:

Du thust besser, den Wagen gleich zu wenden, Christian. Du weißt, um was es sich handelt, Christian …

Ich weiß alles, entgegnete Christian lächelnd. Sie und Graf Boto haben mir ja schon in Edern Bescheid gesagt.

Gut, Christian – wenn wir mit der jungen Dame kommen – du thätest gut, den Wagenschlag offen zu stellen – wenn wir mit der jungen Dame kommen, dann schnell herein mit ihr, und du läßt deine Füchse dann ausgreifen …

Sie sollen schon ausgreifen, Herr Böhmer; bringen Sie nur die junge Dame her – an den Füchsen wird's nicht liegen.

Zünde dir keine Pfeife an, Christian; es könnte gesehen werden, wenn du Feuer machst!

Gewiß nicht, Herr Böhmer, haben Sie keine Sorge!

Herr Böhmer ging. Er ging in einer andern Richtung als der, welche Boto eingeschlagen, rechtsab unter den dunkeln Buchenstämmen dahin.

Christian schaute ihm lächelnd nach. Er wußte in der That um alles, und mehr, als Herr Böhmer ahnte. Comtesse Bertha war nicht umsonst seine specielle Gönnerin, weil er ihrem Pony seine besondere Obhut zuwandte. Er wußte längst aus ihrem mittheilsamen kleinen Munde, der nie stillstand, wenn sie ihm zuschaute, wie er den Pony striegelte, daß Herrn Böhmer's Tochter eine Liebschaft mit einem Bildhauer angefangen habe und ihrem Papa durchgegangen sei, niemand wisse wohin. Und als er heute von den beiden Herren, die er gefahren, seine Instruction erhalten, wußte Christian auch, um wen es sich handle und um was.

Und daß Herr Böhmer ihm, damit er das Maul halte, ein stattliches Trinkgeld geben werde, wußte Christian auch, und daß Comtesse Bertha morgen bei der Hand sein werde, wenn er den Pony striegele, ebenfalls – und daß er im gewissenhaften Gedanken an das gute Trinkgeld des Herrn Böhmer sie ein wenig zappeln lassen werde, bis sie alles aus ihm heraushabe, ebenfalls. Christian wußte alles, das Geschehene und das Zukünftige, und machte ein sehr vergnügtes Gesicht, während er mit dem Ausrufe: Hopp, Fuchs! seine flache Hand auf den Schenkel eines seiner Thiere schlug, das, eben den Hals zu dem Rasen niedersenkend, sein Geschirr in Unordnung zu bringen drohte.

Nur Eins wußte Christian nicht. Er wußte nicht, daß in der weichen, stillen Sommernacht, rastlos von einer innern Unruhe umhergetrieben, vor wenig Augenblicken auf dem Waldwege durch dieses Buchengehölz ein Mann geschritten war, den das Erscheinen eines Wagens, das Halten des Wagens an dieser Stelle und die zwei aussteigenden Männer im Höchsten Grade betroffen gemacht hatten. Er wußte nicht, daß dieser Mann sich beobachtend hinter einen Baumstamm gedrückt, daß er, als Böhmer mit Christian sprach, an der andern Seite des Wagens ungehört herangekommen und daß er jedes Wort vernommen hatte, welches Böhmer gesprochen. Christian ahnte nichts davon, daß dieser selbe hohe, dunkel aussehende Mann sich dann, als Herr Böhmer rechtsab ging, linkshin rasch, unhörbar, wie ein Schatten entfernt hatte, daß er dabei, Verwünschungen murmelnd, für sich gesagt:

Die hirntollen Abenteurer! Sie wollen sie entführen – Eugenie entführen! Wahnwitzige Thoren!

Als Jauffroi von Montenglaut sich sicher aus dem Gehörkreise des Kutschers wußte, schritt er fest und rasch zu; er eilte zuerst in die Mühle hinunter, wo er hastig in seine Kammer trat und aus seinem kleinen Gepäcke eine Waffe nahm und zu sich steckte; dann verließ er die Mühle wieder und schritt nach Schloß Dornegge hinauf, sprang über einen Graben, der die zum Schlosse gehörenden Gartenanlagen von dem Thalgrunde trennte, und befand sich bald danach auf den geebneten Kiespfaden, die hinauf und an den Hecken entlang bis zur Terrasse Eugeniens liefen.

Weil er die letzten Tage hindurch fast all seine Zeit im Freien und in der Umgebung des Schlosses umherschwärmend zugebracht hatte, war der Baron Jauffroi, sehen wir, im Besitze der genauesten Ortskunde.

Aber auch Böhmer und Boto kannten aus den Erinnerungen ihrer Knabenzeit jeden Winkel innerhalb und außerhalb des Schlosses, und weil sie einen directen Weg einschlugen, während Jauffroi den Umweg ins Thal hinab, zur Mühle und dann wieder hinauf machte, erreichten jene beiden ihre Ziele um eine geraume Zeit früher.

Zuerst Herr Böhmer. Er war am Ende der kleinen Buchenwaldung, an deren Saum sein Wagen hielt, an einen ausgemauerten, wasserlosen Graben gelangt, hinter welchem sich die Stallungen und Wirthschaftsgebäude erhoben; ihm zur linken lag der alte vordere Bau, durch den die Durchfahrt auf den innern Hof führte. Herr Böhmer aber hielt sich rechts, ging an dem gemauerten Graben entlang, dann um zwei Ecken des Grabens und der von ihm eingeschlossenen Wirthschaftsgebäude herum und befand sich so bald an der Rückseite des Schlosses, wo eine schmale, alte, hölzerne Brücke über den Graben lief und an eine Glasthür führte.

Durch diese Glasthür gelangte man in einen stillen, wenig gebrauchten Corridor im Erdgeschosse des hintern Flügels. Die Thür hatte nicht im ursprünglichen Plane des aus der Zeit vor dem Siebenjährigen Kriege stammenden Baues gelegen; sie war später erst in die feste Mauer gebrochen, um ohne langen Umweg aus den Küchenregionen in das Gehölz kommen zu können, welches hinter dem Schlosse die sanft ansteigende Bergseite bedeckte.

Als Herr Böhmer sich der Brücke näherte, bemerkte er trotz der Dunkelheit, daß auf dieser Rückseite des Schlosses einige Veränderungen stattgefunden hatten. Der Weg an dem Graben entlang war geebnet und von den Hindernissen befreit, welche ihn zu des alten Nesselbrook Zeiten mitunter sehr unbequem und in dunkeln Nächten nicht ganz gefahrlos gemacht hatten. Damals hatte dieser Weg als eine Art Succursale des Oekonomiehofes gedient. Man hatte da Holzvorräthe aufgeklaftert, überflüssige Baumaterialien dahin verwiesen, ausgedroschenes Stroh da abgelagert. Auf der schmalen Brücke selbst harrten oft aufgeschichtete Haufen von Reisigholz der Verwendung in der herrschaftlichen Waschküche.

Das alles war entfernt, und von dem geklärten Wege zweigten sich breite Pfade ab, die sich in den Bergwald hinaufschwangen – es war offenbar, daß man in jüngster Zeit begonnen, diesen Bergwald in die Parkanlagen von Schloß Dornegge zu ziehen. Und dann war die Brücke, soviel sich in der Nacht erkennen ließ, ausgebessert; es hoben sich unter den Füßen Böhmer's, als er sie sachte betreten, keine Bohlen mehr; das Geländer duftete nach neuem Oelanstrich – es wäre sehr unangenehm gewesen, wenn sich diese Cultur, die sich hier offenbar aller Gegenstände bemächtigt hatte, auch auf das Schloß der alten Glasthür erstreckt hätte und der besondere Herrn Böhmer so wohlbekannte Druck am Griff nicht mehr hingereicht haben würde, sie zu öffnen.

Das war nun der nächste Gegenstand der Untersuchung. Herr Böhmer hatte ja Muße dazu, denn alles war still ringsumher; die nächsten Fenster im Schlosse waren dunkel – nur rechts am Ende des Gebäudes, wo die Gesindezimmer sich befanden, schimmerte aus drei Fenstern Licht; im obern Stock, gerade darüber, mußte Helene ihr Zimmer haben. Die Fenster standen dort offen; auch das Fenster unmittelbar über der Glasthür war geöffnet; aber Licht war da im ganzen obern Stock nicht zu sehen.

Herr Böhmer schritt also behutsam auf der Brücke weiter und gelangte an die Thür und faßte den Griff am Schlosse der Glasthür und fand, daß der alte Druck nicht mehr seine Schuldigkeit thue. Wenigstens beim ersten Zugreifen nicht. Er versuchte es mit größerer Kraftanstrengung, aber auch die größere Kraftanstrengung half nicht – er murmelte leise ein: Fatal, fatal, fatal! zwischen den Zähnen und versuchte es zum dritten male.

Auch das dritte mal fruchtete nichts, das Schloß widerstand dem heftigen Drucke Böhmer's; aber im selben Augenblicke schrak er heftig zusammen, denn eine helle Stimme über ihm sagte plötzlich:

Ums Himmels willen – bist du das, Papa? Papa – du? O, wart, wart, im Augenblicke öffne ich dir!

Herr Böhmer starrte äußerst überrascht empor; er sah nur auf einen Blick den Kopf eines jungen Mädchens über sich aus dem offenen, aber dunkeln Fenster schauen; im nächsten Augenblick war der Kopf schon wieder verschwunden, und was er nun erblickte, war nichts als ein dunkler, von Locken umwallter Männerkopf, dessen Anblick seine Ueberraschung um nichts angenehmer machte.

Ich werde Ihnen gleich mit Licht entgegenkommen, Herr Böhmer, sagte der Männerkopf, und dann verschwand auch er. Gleich darauf flammte ein Lichtschein da oben auf.

Das kommt mir dumm in die Quere, sagte sich Herr Böhmer höchst verdrossen – nun bekomme ich mit dem verdammten Thonkneter auch noch zu schaffen!

An der Thür, welche ihrem alten Freunde so hartnäckig widerstanden, wurde im Innern ein Geräusch wie von einem zurückgeschobenen Riegel hörbar; sie flog auf, und im nächsten Augenblicke fühlte Herr Böhmer sich von den weichen Armen seines Kindes umschlungen und stürmisch ans Herz gedrückt. Sie küßte ihn, sie streichelte seine Wangen und entzückt rief sie, ehe er irgend zu Worte kam, aus:

O guter, guter, lieber Papa, du bist selbst gekommen, um uns zu sagen, wie lieb und gut du bist, und mit uns Frieden zu schließen – o du braver Papa Böhmer – so auf meinen armen Brief zu antworten – so hat er dich also gerührt? O, ich wußte es ja, daß du gut bist, Papachen, jetzt komm', komm' nur herein –, wolltest du so spät nicht mehr vorn herein kommen? Du dachtest wol, die Leute seien nicht mehr auf, das Thor geschlossen – du wolltest keinen Lärm mehr machen – o, das hätte nicht geschadet, wir gehen nicht so früh zur Ruhe auf Schloß Dornegge – hierher, hierher, hier ist die Treppe!

Helene hatte ihren vollständig verdutzten Papa mit diesen stürmisch herausgejubelten Worten in den schmalen Gang und zum Fuße der Treppe gezogen, welche aus diesem Gange zu dem größern Corridor oben emporführte. Auf diese Treppe fiel jetzt ein Lichtschein, Männertritte kamen herab; Herr Böhmer sah Ludwig mit einem Leuchter in der Hand ihm entgegenkommen und hinter ihm eine zweite Männergestalt, die oben stehen blieb. Als Böhmer, von seinem jubelerfüllten Töchterchen gezogen und geschoben, einige Stufen erstiegen hatte, sah er, daß es Gundobald Burghaus war – zu Worte war er bisjetzt nicht gekommen.

Mein Vater, Herr von Burghaus! rief Helene aus. Ist das nicht prächtig – der Papa, den mein Brief so gerührt hat, daß er selber kommt – und nun ist ja der ganze Kriegsrath zusammen! Du mußt wissen, du seelenguter Papa, wir hielten just eben ein wenig Kriegsrath in Herrn von Burghaus' Zimmer, im Dunkel und bei offenen Fenstern, weil die Nacht so schön ist – da hörten wir etwas an der Glasthür rütteln, und ich erkannte dich, ich sah augenblicklich, daß du es warst …

Katzenaugen! murmelte Herr Böhmer, der sich im ganzen wie ein ertappter Dieb, wie ein Mensch, den der Flurschütz im Obstgarten abgefangen hat, vorkam – verfluchte Katzenaugen!

Gefangen war er freilich; zunächst kam es nur darauf an, der Beschämung zu entgehen, und deshalb stotterte Herr Böhmer etwas von so spät noch eintreffen, von versuchen wollen, ob man noch ohne Störung Helenens Zimmer aufsuchen könne, und einige weniger artikulirte Sätze, die das freudige Geplauder übertönte, womit Helene den Papa, den braven, herrlichen Papa, in das Vorzimmer Gundobald's schob, dasselbe, in welchem die kleine Gesellschaft eben, wie Helene sich ausdrückte, im Dunkeln und bei offenen Fenstern Kriegsrath gehalten.

Ludwig stellte den Leuchter auf den Tisch und Helene zog den Papa auf einen Divan nieder und setzte sich neben ihn, ihre Arme um seinen Nacken legend und ihren Kopf an seine Wangen schmiegend und einmal über das andere ausrufend:

Der gute, gute Papa, der uns mitten in unsern Kriegsrath hinein den Frieden bringt!

Ludwig war unterdeß beeifert, Herrn Böhmer's Hut ihm abzunehmen, Gundobald entzündete rasch eine zweite Kerze und ging, das Fenster zu schließen; er rief dabei aus:

In der That, das ist brav und edel von Ihnen, Herr Böhmer, und da ich, wie Sie ja jetzt wissen, in Ludwig meinen lieben Vetter sehe, dessen Schicksal mir am Herzen liegt, so müssen Sie sich schon gefallen lassen, daß auch ich Ihnen den wärmsten Dank sage …

Ja, aber mein Gott, fuhr hier Herr Böhmer, an seine von diesem stürmischen Empfange erschütterte Energie zusammennehmend, auf, wer sagt Ihnen denn, daß ich gekommen bin …

Es ist recht, fiel Gundobald, sich Böhmer gegenübersetzend, ein, wir sollten es Ihnen überlassen, selber das entscheidende Wort zu sprechen, wir sollten es Ihnen nicht so vom Munde wegnehmen, aber Sie müssen das der freudigen Erregung schon zugute halten! Und so lassen Sie mich denn sagen, Sie handeln nicht allein wie ein guter Vater, der das Recht der Selbstbestimmung in seinem Kinde, wenn es sich einmal so unerschütterlich ausgesprochen hat, anerkennt, sondern auch wie ein kluger Mann – es war nun einmal eine Trennung der jungen Leute nicht mehr möglich; Helenens Gefühl hat über ihre Zukunft ein für allemal entschieden, und was Vetter Ludwig's Zukunft angeht, so glaube ich, ich kann Ihnen für dieselbe einstehen. Sie wissen, welche Verpflichtungen ich habe, für diese Zukunft zu sorgen; Helene wird es Ihnen geschrieben haben. Wenn Ihnen bisher in Ludwig's Talent, seinem ernsten, willenskräftigen Streben keine Bürgschaft für seine Zukunft gelegen hat, so konnte man das eine Vorsicht nennen, welche ich nicht tadeln will, aber …

Aber Sie selbst, Sie selbst, Herr von Burghaus? fiel hier Herr Böhmer im höchsten Grade verwirrt, verstört und kleinlaut ein; es war ja gar nicht mehr möglich, zwischen dies alles wie ein wahres Unthier mit einem brutalen: Nein, nein, ich komme zu einem ganz andern Zwecke, ich will ganz etwas anderes, als meine Tochter dem Thonkneter geben! zu fahren. Schon seit dem ersten Augenblicke, wo er sich an der Thür so kläglich ertappt gesehen, war ihm der rechte Muth dazu geschwunden wenn doch nur Boto zu seiner Unterstützung dagewesen wäre!

Ich selbst, … wer bürgt Ihnen für mich? wollen Sie sagen, versetzte Burghaus. Haben Sie deshalb keine Sorgen; meinen Proceß kann ich verlieren, aber ich werde nicht arm dadurch; die Gerichte werden, seitdem uns der Brief meines Großvaters an mich zur Hülfe gekommen ist, mir sicherlich jene große Summe zusprechen, welche jetzt in ihren Händen ist, verlassen Sie sich darauf, Herr Böhmer. Und ein Theil davon gehört Ludwig, ich betrachte das als eine Ehrenschuld …

Die aber Ludwig, fiel dieser, an den Tisch vortretend, ein, nicht anerkennt …

Seien Sie still, Vetter, rief Burghaus lachend, wir kennen solchen Künstlereigensinn! Aber Ihre Braut ist, gottlob! vernünftiger, und unsere Geschäfte sollen Sie deshalb nichts angehen! Herr Böhmer, Helene und ich werden uns schon darüber verständigen! Und so wären wir in allem einig, nicht wahr; Herr Böhmer? Wir wollen diesen Friedensschluß mit einem Glase Sect feiern, Sie werden einer Erfrischung bedürfen – Ludwig, wollen Sie die Klingelschnur ziehen?

Herr Böhmer seufzte tief auf. Helene legte wieder ihren Kopf an seine Wangen, was ihm in diesem Augenblicke ein wenig unbequem war, denn es störte ihn beim Reden, als er sagte:

Ich sehe freilich wohl, es ist nichts anderes zu machen als gute Miene zum bösen Spiele! Es mag drum sein, Herr von Burghaus, es mag drum sein; Sie sind ein Cavalier und wissen, was eine Cavalierparole zu bedeuten hat …

Gerade so viel wie das Jawort, das ein guter, braver Papa gibt! rief Helene, ihn noch einmal stürmisch umarmend, aus. Es ist heilig und kann nie zurückgenommen werden.

Herrn Böhmer schoß in diesem Augenblicke, wo ihn die Augen seines Töchterchens so schelmisch freudig anblickten, ein Verdacht durch den Kopf. Spielte man ein wenig mit ihm, hatte man bei seinem ersten Anblicke sofort beschlossen, sein Kommen in einer Weise zu deuten und auszulegen, die ihm unmöglich machen sollte, etwas anderes herauszubringen, als was man von ihm hören wollte? Es hätte viel Geistesgegenwart dazu gehört, so rasch einen solchen Plan zu fassen; aber sein Töchterchen, das ja wol den Ton dazu angegeben, hatte Geistesgegenwart, viel Geistesgegenwart sogar – aber es wäre doch stark gewesen, sehr stark!

Und dann kam ihm der Gedanke an Boto, den er draußen warten ließ, und an die Verlegenheit, ihm diese merkwürdige plötzliche Wandlung der Dinge ankündigen zu müssen – und dann wieder der Gedanke, ob er wirklich wol von diesen jungen Leuten überlistet und übertölpelt sei wie ein Papa in der Komödie; durch diesen Gedanken schoß ihm der neue, daß, wenn er nun ins feindliche Lager überginge, er Ederns vielleicht zu einem Vergleiche zwingen könne, der diesen Thonkneter und künftigen Schwiegersohn am Ende doch zu einer guten Partie für Helene mache – das alles schoß durcheinander ihm durch den Kopf, und von diesen Gedanken den festhaltend, der zunächst drängte, sagte er:

Aber liebe Helene, ich habe einen Wagen bei mir, der draußen auf Ordre wartet – ich muß sie ihm jetzt hinausbringen …

Du bleibst die Nacht über hier, ich mache dir ein reizendes Stübchen zurecht, Papa! fiel Helene ein. Ludwig wird hinausgehen und den Wagen fortsenden!

Die Nacht bleiben? Ich könnte nicht sagen, daß es mir behaglich wäre, die Nacht zu bleiben, Kind …

O, denk nicht daran, daß wir dich fortlassen, Papa! Und bist du denn nicht gekommen, mich mit dir zu nehmen, und glaubst du, solch eine Respectsperson wie deine Tochter Helene, die sich bei ihrem Kommen und Gehen einige Feierlichkeiten und Umstände ausbittet, werde in Nacht und Nebel von hier fortlaufen – so auf und davon?

Nun, meinte Herr Böhmer ein wenig kaustisch, was das Auf- und Davongehen anbetrifft, so haben wir leider Beispiele, schlimme Beispiele davon erlebt, und zusammen noch darüber ein Hühnchen zu rupfen, du böses verwogenes Ding … Du Fräulein Wetterhexe … Schweigen wir heute lieber davon, und denken an meinen Wagen! Hier bleiben, die Nacht bleiben soll ich, hier in Schloß Dornegge, das jetzt Fräulein von Chevaudun gehört – Kind, denk' nicht daran!

Und weshalb nicht, Papa? fiel Helene ein.

Herr Böhmer antwortete nicht, da ein Dienstmädchen eintrat, dem Gundobald den Auftrag gab, Erfrischungen zu bringen – erst als sie wieder gegangen, fiel er ein:

Wahrhaftig, Ihr müßt mir nicht zumuthen, hier zu bleiben oder etwas zu genießen hier – Papa Böhmer ist eine gutmüthige, versöhnliche Seele, nicht wahr, Herr von Burghaus, das Zeugniß geben Sie mir – alle Dinge aber haben ihr Maß, und wenn ich diesem Fräulein von Chevaudun jemals vergeben könnte …

Fräulein von Chevaudun? Und was hat sie dir gethan, Vater? unterbrach ihn Helene.

Was sie mir gethan hat? I, das fragst du noch? Ist das ein Betragen von einer vornehmen Dame, daß sie leichtsinnigen Töchtern vor ihren armen bekümmerten Papas Schutz gewährt und bei sich versteckt hält … ist das ein nobles Betragen? … nehmen Sie's nicht übel, Herr von Burghaus, wenn ich damit nicht hinter dem Berge halte, aber hübsch, nein, hübsch war es nicht, weder von Fräulein von Chevaudun noch von Fräulein von Gohr …

Herr Böhmer, Sie thun beiden Damen unrecht, fiel Gundobald ein, wenn Sie glauben, diese hätten geahnt, was sie erst ganz vor kurzem durch meinen Vetter Ludwig erfuhren …

So ist es, Papa, so ist es, fuhr Helene lebhaft dazwischen; glaubst du denn, ich wäre so thöricht gewesen, mich Fräulein von Chevaudun vorzustellen als Helene Böhmer, die ihrem garstigen, grausamen, tyrannischen Papa davongelaufen sei …?

Ah, unterbrach sie Herr Böhmer du willst mir doch nicht einreden, sie wäre nicht mit in dem boshaften kleinen Complot wider mich gewesen …?

Sicherlich nicht, sie hielt mich ja für eine richtige gediente Zofe …

Herr Böhmer schüttelte den Kopf.

Kind, Kind, sagte er, du thust deinem Papa die Ehre an, ihn für dümmer zu halten als er ist! Fräulein von Chevaudun hatte dich ja damals, als sie bei uns übernachtete, in meinem Hause gesehen …

Nur den Abend, nur auf einen Augenblick … und ich glaube, sie hat mich da kaum angeschaut, sie hat mich damals wol als eine viel zu unbedeutende Person betrachtet, um sich ihr Gedächtniß mit meinen Gesichtszügen zu beschweren – ich war erschrocken genug, als ich hier in Dornegge zu ihr kam und die Gouvernante, die du nach Ederns gebracht hattest, in ihr erkannte – aber ich sah auch gleich darauf, daß sie mich nicht wiedererkannte …

Ist das die Wahrheit? fragte Herr Böhmer überrascht … ein wenig herablassend behandelte sie uns freilich damals, und daß sie viel mit dir gesprochen, erinnere ich mich allerdings nicht …

Es ist die reine Wahrheit, Väterchen, rief Helene lebhaft aus.

Und darum, sagte jetzt Gundobald, während Ludwig die Gläser füllte, die das zurückgekehrte Mädchen eben gebracht hatte, darum dürfen Sie keinen Anstand nehmen, sich die Gastlichkeit von Schloß Dornegge für diese Nacht gefallen zu lassen – trinken wir auf das Wohl der Schloßherrin und das Ihre, Herr Böhmer.

Herr Böhmer schien seinen Sinn unter diesen Umständen zu ändern – er nickte ein paarmal, er strich sich nachdenklich das Kinn, er trank ein paarmal – aber es schien ihm noch etwas auf dem Herzen zu liegen, das er nicht aussprechen wollte, bis er plötzlich wie von einem Gedanken erleuchtet aufstand und sagte:

Nun meinethalb denn, meinethalb – ich will bleiben … werde auch bitten mich morgen Fräulein von Chevaudun vorstellen zu dürfen – ist mir auch gar nicht unlieb das – man weiß ja nicht, wozu es gut sein könnte; am Ende wäre dabei vielleicht wieder eine Anknüpfung zu finden wegen – nun weshalb damit hinter dem Berge halten – Sie wissen ohnehin was ich sagen will, Herr von Burghaus – wegen unsers gescheiterten Grundbankenprojects – wenn Sie mich ein klein wenig dabei unterstützen wollten, und Fräulein von Chevaudun dazu gestimmt würde, einen Schritt bei ihrem Papa, dem Baron Chevaudun, zu thun, – nun, lächeln Sie nicht, man muß das Eisen schmieden, solang es heiß ist, und ein Geschäftsmann, Herr von Burghaus, darf keine Gelegenheit vorübergehen lassen … offen gesagt, ich habe Fräulein von Chevaudun sehr stark im Verdacht gehabt, daß sie es gewesen ist, die … nun Sie verstehen mich, Herr von Burghaus, ich will niemand etwas schuld geben, wovon ich keine Beweise in Händen habe – Böhmer thut das nicht, es ist gegen meine Grundsätze, es zu thun; aber ich denke, es wäre billig und honnet von Fräulein von Chevaudun gehandelt, wenn sie sich entschlösse, eine andere Ansicht, als sie ihr beigebracht sein mag, von der Sache zu fassen, und ich denke ferner, – aber das alles können wir ja noch besprechen und ich muß jetzt zu meinem Wagen zurück!

Herr Böhmer wollte davoneilen – bei der neuen Strömung, welche seine Gedanken genommen, war ihm die vortreffliche Ausrede eingefallen, die bei dem seiner draußen harrenden Grafen Boto gebrauchen konnte. Er brauchte ja Boto nichts von der so raschen Umwandlung seiner Vorsätze in Bezug auf Helene und Ludwig zu sagen; er brauchte dessen Verwunderung, dessen Einwürfe wider eine so schnelle Sinnesänderung, dessen Spott darüber gar nicht über sich ergehen zu lassen – er konnte ihm sagen, er habe Helene sehr nachgiebig, sehr unterwürfig gefunden, und er wolle die Nacht bleiben, um morgen mit Eugenie von Chevaudun zu reden und zu versuchen, was sich durch sie für die Wiederaufnahme jenes Bankprojects thun lasse. Wer konnte mehr damit einverstanden sein als Boto?

So griff er nach seinem Hute, während Helene sagte.

Aber lieber Papa – weshalb willst du selbst gehen? wir können das Mädchen senden, oder Ludwig wird dir den Weg gern ersparen!

Herr Böhmer ließ sich jedoch nicht halten; er wollte durchaus selbst mit dem Kutscher sprechen und ging, während Helene eins der Lichter ergriff, um ihm zu leuchten.

Du brauchst nicht über die Laufbrücke zurückzugehen, sagte sie auf dem Gange draußen; du hast weit näher über den Hof, dein Wagen wird doch an der Mühle halten?

Das war nun zwar nicht der Fall, aber der Weg quer über den Hof war dennoch näher, das war richtig – Herr Böhmer schlug deshalb den Weg nach dem Hofe hinunter ein – den Corridor und dann eine Treppe hinab – Vater und Tochter standen bald im innern Hofe von Schloß Dornegge.

Macht sich doch imposant, ganz imposant, dies Schloß Dornegge, bemerkte Herr Böhmer auf- und sich umschauend … Ihr habt doch keine Hunde hier, Helene, die nachts losgelassen werden? Wie?

Nein, Väterchen, versetzte Helene, ihr Licht auf die Schwelle der Hofthür setzend – die Nacht war so mild und still, daß es kaum flackerte – wir haben keine Hunde – du kannst ruhig sein.

Die Mondsichel war jetzt kräftiger angeglüht; ihr Licht lag gelbblau auf dem schönen Renaissanceflügel rechts, während der vordere Flügel mit der Durchfahrt und dem Säulengange darüber tief in Schatten geborgen lag.

Großartig – sagte Herr Böhmer – wirklich großartig! Man sieht so bei Mondschein nichts von Verfall, und so meint man, man hat ein Schloß aus einem Märchen vor sich – ein schönes altes Königsschloß; man würde sich nicht wundern, wenn da plötzlich alle Fenster aufleuchteten und Musik herauserschölle und Herren in spanischen Mänteln und schöne Frauen in Perlenhauben und Halskrausen und Pagen in rothem Sammt auf den Treppensöller herausträten …

Helene lachte.

Woher kommen dir solche poetische Anwandlungen, Papa? sagte sie – so habe ich dich ja nie reden hören …

Ist das ein Wunder hier – wenn man dies Dornegge im Mondschein sieht und die alten Geschichten und die Erinnerungen aus den Tagen der Knabenzeit einem einfallen? Sieh einmal da – da vor uns …

Was ist da?

Da unter dem Bogengang über dem Thorgewölbe … mir war, als schritte da jemand hinter den Säulen her – wie ein Schatten. Der dunkle Bogengang ist unheimlich so bei Nacht. Wer da oben steht, kann den ganzen Hof beobachten und niemand sieht ihn. Es soll da spuken in dem Vorbau. Ein alter grauer Mönch, der Unheil verkündet, wenn … aber geh' jetzt zurück und hinein, Kind, ich werde in zehn Minuten wieder da sein!

Erzähle mir erst die Geschichte von deinem Mönch, Vater, versetzte Helene lachend.

Sprechen die Leute hier in Dornegge nie mehr davon? Der alte Nesselbrook glaubte daran … woran glaubte der Mann nicht, bis er …

Herr Böhmer wurde hier plötzlich unterbrochen. Man hörte einen Schrei, einen lauten Ruf, der wie aus dem entferntesten Theile des Schlosses klang, und dann hörte man den Ruf noch einmal, und zugleich wurde ein durch die Entfernung gedämpfter Lärm wie von Thürenaufreißen und Zuschlagen und Hin- und Herrennen vernehmbar.

Was mag das sein? rief Helene aus.

Das lautete ja ganz wie ein Jammer- und Weheschrei, flüsterte Herr Böhmer erschrocken.

 

Um diesen unheimlichen Ruf zu erklären, haben wir uns nach Boto umzusehen, den wir auf dem kürzesten Wege über eine schmale, grasbewachsene Halde auf Schloß Dornegge zuschreiten sahen. Nach etwa zweihundert Schritten hatte er die nächste Gartenhecke erreicht; eine kurze Strecke ging er an dieser bergabwärts entlang; dann gelangte er an ein kleines, niederes, verschlossenes Staketthor. Es bot ihm kein Hemmniß dar; er setzte den Fuß auf den untern Querbalken, stand gleich darauf auf dem obern und sprang gewandt in die Gartenanlagen von Schloß Dornegge hinab.

Es lag ein eigenthümlicher Zug von zorniger Entschlossenheit in seinen zusammengezogenen Brauen, und in dem Spiele seiner Mienen lag mehr leidenschaftliche Erregung, als das Vorhaben, eine kleine Streiferei durch diese menschenleeren, ganz stillen Anlagen zu machen, rechtfertigen konnte.

Nur wer gewußt, was in Boto's Seele gestürmt, welcher Stachel sich dieser Seele eingedrückt hatte seit dem Tage, an welchem er seinen Versuch, ein Weib wie Eugenie im Sturmlaufe zu erobern, so gründlich scheitern gesehen; nur wer die hundert Plane und Anschläge gekannt, die ihn seitdem unablässig beschäftigt und deren Unausführbarkeit ihm den Einen Gedanken, um den sich alle drehten, nur noch bohrender und zu peinigenderer Rastlosigkeit in Brust und Hirn gedrückt – nur der würde die leidenschaftliche Bewegung ermessen haben, worin Boto war, als er mit raschen, sichern, wie zornigen Schritten jetzt geradeswegs zum Schlosse hinaneilte.

Schon war er der Terrasse vor Eugeniens dunkeln Zimmern nahe. Rechts von dieser Terrasse, zwischen ihr und einer Taxushecke, an welcher einige graue Steinfiguren entlang standen, ging der Weg aus dem Garten nach dem Schloßhofe; Boto wollte sich eben dahin wenden, als er hinter den Fenstern, welche auf die Terrasse hinausgingen, Licht aufleuchten sah. Er hielt an und dann, rasch entschlossen, stieg er die Treppe, welche auf die Terrasse und unter den Rebengang darüber führte, hinauf. Er sah durch die erleuchteten Fensterscheiben die Gestalt Eugeniens sich durch die Zimmer bewegen. Ein Diener, der ein Tuch über dem Arme und einen Armleuchter trug, schritt ihr voran; er stellte im letzten Zimmer den Leuchter auf einen runden Tisch und wandte sich dann der auf die Terrasse hinausführenden, noch offen stehenden Thür zu, um diese zu schließen.

Laß die Thür offen und leg' das Tuch nur dort auf den Tisch; ich mache vielleicht noch einen Gang durch den Garten! hörte Boto Eugenie sagen.

Boto hustete, um sie aufmerksam zu machen. In der That stand im nächsten Augenblicke der Diener, nach ihm ausschauend, auf der Schwelle der Thür.

Boto trat an ihn heran.

Haben Sie die Güte, mich Fräulein von Chevaudun anzumelden! Ich bin Graf Boto Edern. Das Fräulein möge den späten Besuch entschuldigen; ich habe ihr augenblicklich eine höchst dringende Mittheilung zu machen.

Graf Boto sprach so laut, daß Eugenie jede Silbe hören mußte. Als der Diener, betroffen über den Besuch, der sich so spät in so seltsamer Weise ankündigte, sich ins Zimmer zurückwenden wollte, um seinen Auftrag auszurichten, wies sie ihn mit einer Handbewegung zur Seite und sagte, auf die Schwelle tretend, mit einer von der Ueberraschung gedämpften Stimme:

Sie, Graf Boto? Um diese Stunde? Treten Sie ein! Welche Mittheilung haben Sie mir zu machen? Sie wies auf einen Stuhl und setzte sich, mit Spannung in seine Züge blickend, ihm gegenüber.

Eine Mittheilung, versetzte Boto, von der ich hoffe, daß Sie mir als Dank Ihre Verzeihung für dieses späte Eindringen bei Ihnen eintragen wird. Ich komme, um ein großes Aergerniß von Ihnen abzuwehren.

Ein Aergerniß? Von mir? Und welches?

Das einer gewaltsamen Entführung, welche in dieser Nacht in Dornegge stattfinden soll. Es handelt sich um ein junges Mädchen, welches seinem Vater entflohen ist und das bei Ihnen Schuß gefunden hat …

Um Wilhelmine oder Helene? Und die soll entführt werden? In dieser Nacht? Aber von wem? Weshalb?

Von ihrem Vater.

Von ihrem Vater entführt werden? rief Eugenie aus. Aber welch thörichtes Beginnen! Wozu eine Entführung?

Um sie wiederzubekommen, glaubt Herr Böhmer eben, daß es solcher Mittel bedürfe; er glaubt, Sie, Fräulein von Chevaudun, würden das junge Mädchen vor ihm in Schutz nehmen, sie verbergen, ihre Anwesenheit in Ihrem Hause ableugnen, oder das junge Mädchen würde mit ihrem Liebhaber entfliehen, wenn er nicht sofort und unversehens so energische Mittel brauche, um sie von ihrer Verirrung zurückzubringen.

Welche Voraussetzungen! Ich würde das junge Mädchen gewiß nicht in Schutz nehmen, denn es hat mich getäuscht, belogen. Sobald dies mir kund geworden ist, habe ich Fräulein Hermine von Gohr meine Absicht, sie fortzusenden, erklärt, und habe sie nur hier behalten, weil Fräulein Hermine mir sagte, daß sie sich mit ihrem Vater in Correspondenz gesetzt, um mit ihm Frieden zu schließen. Das scheint mir nach dem, was Sie mir mittheilen, nicht gelungen, und Herr Böhmer mag jetzt zu jeder Tagesstunde kommen, sie abzuholen; aber nächtliche Einfälle in mein Haus werde ich mir verbitten …

Ich wußte es voraus, Fräulein von Chevaudun, daß Sie nur durchaus loyal handeln könnten, wie in jeder Angelegenheit, so auch in dieser, sagte Boto. Und als Böhmer mich bat, ihn auf dem Wege zu begleiten und ihm bei seinem Vorhaben beizustehen, war es sofort mein Gedanke, mit ihm zu gehen, um ihm dann eine solche Selbsthülfe, die für Sie so äußerst unangenehm wäre, unmöglich zu machen. Die ganze Sache würde dann nicht verborgen bleiben können, und Sie würden aufs ärgerlichste verstrickt worden sein in all das Gerede, welches sich darüber erheben würde. Es würde Ihre Stellung hier im Lande höchst unbehaglich gemacht haben; Böhmer ist ein bekannter, angesehener Mann, die Liebschaft seiner Tochter mit einem vermögens- und aussichtslosen jungen Menschen würde von aller Welt verdammt werden, und wenn es hieße, Fräulein von Chevaudun habe die beiden jungen Leute bei sich aufgenommen …

So würde man auch Fräulein von Chevaudun allgemein verdammen – Sie haben ganz recht, Graf Boto! fiel Eugenie ein.

Und so, fuhr Boto fort, glaubte ich Ihnen schuldig zu sein, Böhmer's Gewaltstreich nicht zu dulden. Deshalb sehen Sie mich hier. Ich habe nicht den Versuch gemacht, ihm sein Vorhaben auszureden, das wäre vergeblich gewesen, aber ich bin zu Ihnen geeilt, Ihnen alles zu sagen.

Ich danke Ihnen dafür, versetzte Eugenie, und um so mehr, je weniger ich eine so große Rücksichtnahme gegen mich von Ihnen erwarten konnte! Wollen Sie jetzt übernehmen, mit dem Herrn Böhmer zu reden und ihm mitzutheilen, daß er im Irrthum ist, wenn er voraussetzt, ich habe mich zu einem Complot mit seiner Tochter wider ihn hergegeben; daß ihm morgen während des ganzen Tages, aber auch nur am hellen Tage, Schloß Dornegge offen stehe, um seine Tochter abzuholen? Während der Nacht aber würden meine Leute gegen einen Einbruch auf ihrer Hut sein …

Gewiß will ich das! antwortete Boto eifrig. Sie wissen, Fräulein von Chevaudun, von welchem Eifer ich beseelt bin, Ihnen zu dienen; dieser Eifer hat sich Ihnen gegenüber nie verleugnet, aber eine tiefe Trauer hat sich zu ihm gesellt, daß Verhältnisse eingetreten sind, welche mir alle und jede Aussicht nahmen, ihn je so bethätigen zu können, wie ich es möchte. Darum habe ich mit so großer Erregung diese Gelegenheit ergriffen, Ihnen sagen zu können, wie sehr ich jene Verhältnisse bedauere, und Ihnen die Frage vorzulegen: Sehen Sie darin einen zwingenden Grund, daß sich Haus Dornegge und Haus Edern wie zwei feindliche Heerlager gegenüberstehen, daß wir die Montecchi und Capuleti in diesem Lande spielen und jede persönliche Berührung mehr als alles andere scheuen?

Ich? entgegnete Eugenie. Wer sagt Ihnen, daß ich das thue?

Sie haben uns Ihren Namen, Ihre Stellung in der Welt verborgen, Fräulein Eugenie, fuhr Boto eifrig fort – müssen Sie uns nicht verzeihen, daß wir Sie miskannten? Und was Burghaus angeht, so leben wir allerdings in einem Gerichtsstreite mit ihm; aber er ist nichtsdestoweniger unser nächster Verwandter, und ich denke, den Hader und Zank über das Mein und Dein überläßt ein Edelmann seinem Advocaten, ohne dadurch seine Gefühle für seine Verwandten und Freunde beeinflussen zu lassen. Fräulein Hermine von Gohr ist uns stets eine liebe Freundin gewesen – meine Schwester Edwine entbehrt den Umgang mit ihr unendlich schmerzlich – und dies alles, meine ich, müßte so naturgemäß dahin führen, das alte Band freundlichen Verkehrs wiederherzustellen, daß ich nicht anstehe, in der Meinigen Namen wie in meinem eigenen Sie um diese Herstellung zu bitten, denn sie würde uns sehr, sehr glücklich machen!

Eugenie von Chevaudun war ein wenig bestürzt bei diesen so warm und eindringlich gesprochenen Worten Boto's. Kamen diese Worte wirklich aus einem so versöhnlichen, aufrichtigen Herzen, wie der Ton, mit dem sie gesprochen wurden, bezeugte? Lag nicht noch ein anderes Verhältniß trennend und erkältend zwischen Boto und Eugenie? Freilich; aber sie durfte nicht die sein, die daran erinnerte; sie hatte nichts zu verschmerzen, zu vergessen – nur er!

Eugenie hätte immerhin gern Boto die Hand der Versöhnung entgegengestreckt, um die er bat, wenn nicht aus seinen Augen ein Etwas sie angeblickt hätte, das sie abstieß, obwol sie es nicht verstand. Eine mistrauischere Natur als die ihrige hätte aus diesem Blicke die verzehrende Gier nach dem Besitze des schönen Weibes gelesen, das mit seiner Hand Millionen verschenkte; den feurigen Stachel des Gedankens, der seit Monaten keinen Augenblick aufgehört hatte, Boto zu quälen, daß ein anderer als er kommen könne, die reichste Erbin im Lande zu entführen; den flammenden Willen, sie aufs neue mit seinen Werbungen zu umstricken, sie zu erobern mit Güte, List, Gewalt, wie immer es sei, aber Tod und Leben daranzusetzen – das alles hätte eine mistrauischere Natur aus diesem dunkeln Augenglühen gelesen, welches auf Eugenie nur einen unbestimmt widrigen, unheimlichen Eindruck machte.

Und deshalb stockte sie mit der Antwort und schwieg. Sie dachte an jene Scene auf der Kapelleninsel und den geheimen Zusammenhang derselben, und darüber wußte sie noch weniger die Worte zu finden, um eine Erwiderung zu geben.

Boto aber sprang auf, und indem er dicht vor Eugenie trat und die Rechte nach ihrer auf dem Tische vor ihr liegenden Hand ausstreckte, rief er lauter:

Bei Gott, Sie können nicht so hartherzig sein und mir eine kalte, abweisende Antwort geben – Sie können mir nicht auch hierauf verachtungsvoll einen Korb geben! Stoßen Sie nicht die von sich, die von den aufrichtigsten Gesinnungen für Sie erfüllt sind, richten Sie nicht zwischen sich und ihnen eine ewige Scheidewand auf, seien Sie versöhnlich, dulden Sie nicht, daß Hader und Streit ewig werden zwischen uns und alten Freunden! Sie, Sie allein können die Vermittlerin sein und die Brücke bauen zwischen uns und denen, welche uns wie Bruder und Schwester waren, bis Sie, Sie kamen, Eugenie, und uns das Zerwürfniß brachten …

Ich, ich hätte Ihnen das Zerwürfniß gebracht? rief Eugenie, verletzt durch diesen Vorwurf, halb zornig und halb ängstlich bei der steigenden Heftigkeit Boto's.

Nun ja, wer anders als Sie brachte in unsern friedlichen Kreis das Unheil, das tiefe Zerwürfniß? fuhr Boto, von seinem Eifer hingerissen, laut fort. Und wenn nicht das Zerwürfniß, doch mir die Qual, die innere Rastlosigkeit, die mich umherpeitscht, den brennenden Stachel, die Verzweiflung, von Ihnen verschmäht, verkannt, o, so entsetzlich verkannt zu sein! Und nur das will ich ja, nichts, nichts anderes, als Ihnen zeigen dürfen, wie sehr, wie so ganz und völlig ich von Ihnen verkannt wurde – und dazu mir die Gelegenheit zu bieten, sind Sie mir schuldig, Fräulein Eugenie – das können, das dürfen Sie mir nicht weigern, und ich fordere Ihr Versprechen, Ihr Wort, Ihren Handschlag darauf, daß Sie es wollen, daß ich Sie wiedersehen werde …

Boto hatte, von allem dem, was in ihm kochte und ihn stachelte und verwirrte, hingerissen und von dem halb kühlen, halb ängstlichen Widerstande, den sein Friedensantrag fand, erhitzt, ein wenig den Kopf verloren. Er verrieth seine innersten Gedanken, die geheime Absicht seines stürmischen Drängens viel zu sehr, als daß Eugenie nicht, doppelt erschrocken und geängstigt, aufgesprungen wäre und, zurückweichend, die Hand, welche er fest ergriffen hatte, zu befreien gesucht hätte.

Lassen Sie mich, lassen Sie mich, gehen Sie jetzt, Graf Boto! Sie müssen fühlen, daß Sie die Voraussetzung überschreiten, unter der ich Ihnen so spät den Eintritt in mein Haus verstattet habe! Ich gebiete Ihnen, zu gehen!

Aber Boto ließ ihre Hand nicht. Ich soll gehen, jetzt, ohne ein versöhnendes Wort von Ihnen, mit dem Bewußtsein, daß Ihr Zorn mir folgt, daß ich Sie niemals wiedersehen werde – o, fordern Sie das nicht, fordern Sie das nicht von mir, Eugenie …

Eugenie faßte, immer erschrockener werdend, mit der frei gebliebenen linken Hand nach der auf der Mitte des runden Tisches stehenden Klingel. Boto aber merkte die Bewegung, und, schneller als sie, ergriff er die Klingel und schob sie aus Eugeniens Bereiche fort.

Nur noch ein einziges Wort, Eugenie … rief er aus.

Aber dieses Wort zu sprechen, erhielt er nicht Zeit.

Eine hohe Männergestalt stand wie aus dem Boden aufgewachsen auf der Schwelle der Terrassenthür, und fast im selben Augenblicke, wo Boto sie wahrnahm, fühlte dieser auch seinen Arm, der die Hand Eugeniens hielt, an den Knöcheln wie von einem eisernen Ringe umklammert, fortgerissen und sich einige Schritte weit zurückgeschleudert.

Es war der Baron Jauffroi von Montenglaut, der, bleich vor Zorn und Wuth über die Scene, deren Zeuge er geworden, einen Fluch murmelte und dann mit seiner zornerstickten Stimme hinzusetzte:

Elender! Dieser Bube will Sie entführen, Eugenie, gewaltsam entführen – wissen Sie das? Weshalb rufen Sie Ihre Leute nicht, ihn zum Hause hinauswerfen zu lassen …

Entführen?! keuchte Boto aus der schwer arbeitenden Brust. Sind Sie toll?!

Hält Ihr Wagen nicht heimlich wenige hundert Schritte von hier – habe ich Ihre Spießgesellen nicht belauscht, elender Wicht! schrie Jauffroi dagegen.

Boto gerieth völlig außer sich. Die falsche Beschuldigung steigerte den Zorn, in den ihn der plötzliche Angriff Jauffroi's versetzt, zur blinden Raserei. Diese Anklage, die ihn verderben konnte für ewig in Eugeniens Augen, war zu viel in diesem Augenblicke. Er trat vor, er trat dicht an den Baron heran und hob die geballte Faust zu einem Schlage, der einen Löwen hätte tödten können.

Jauffroi sah die drohende Bewegung rasch genug, um ihr ausweichen zu können. Er fuhr zurück, Eugenie sah seinen Arm auffahren, sah ein blitzendes Etwas zucken – sie schrie auf, wollte nach der Klingel greifen, aber ihre zitternde Hand stieß an den Armleuchter, der umfiel und vom Tische auf den Boden stürzte; die Lichter erloschen; ein schweres Niedersinken eines Körpers folgte – Eugenie stand wie betäubt, von einem furchtbaren Schwindel ergriffen; ihr war, als schaute sie ein schreckliches Traumbild vor sich: neben ihr lag eine Gestalt am Boden, mit der Rechten sich an eine Stuhllehne klammernd, die linke Hand auf die Brust pressend; und vor dieser Gestalt stand eine andere, eine höhere, breitere Gestalt, aus deren Hand eben etwas klirrend zu Boden fiel.

Als dieses Klirren verzittert war, hörte man nichts als ein leises Aufstöhnen – es war ein grausiger Ton, ein wimmerndes Nachluftringen, ein schwaches Röcheln – und dann nichts mehr.

Eugenie schlug beide Hände vors Gesicht. O, barmherziger Gott! stieß sie athemlos hervor.

Ich glaube, flüsterte die Stimme Jauffroi's, ich habe diesen Elenden getödtet! Er wollte sich Ihrer gewaltsam bemächtigen, Eugenie, er hat seinen Frevel gebüßt – aber ich, ich werde jetzt fliehen müssen, augenblicklich fliehen – man darf nicht kommen und mich hier finden – fassen Sie sich, Eugenie, kommen Sie, fliehen wir – die Nacht liegt vor uns, sie ist unser – und der Wagen dieses Elenden steht harrend bereit – kommen Sie!

Ich, ich soll fliehen? Mit Ihnen, dem – Mörder?!

Sie werden mit mir fliehen – fliehen auf der Stelle! Ich bin kein Mörder, habe ich auch den Frevel bestraft, der an Ihnen begangen werden sollte! Das ist mein Recht! Denn Sie, Sie gehören von nun an mir, Eugenie, ich habe Sie mir mit diesem Blute erobert – oder wollen Sie fortleben wie bisjetzt, sollen noch mehr solcher Scenen sich in Ihr Leben flechten, haben Sie noch nicht begriffen, daß das Weib zu seinem Schutze des Mannes bedarf – ich aber bin der Mann, Sie zu schützen!

Er ergriff heftig ihren Oberarm und zog sie der offenen Fensterthür zu. Als sie widerstrebend sich zurückwarf, fuhr er fort:

Wollen Sie bleiben, nun wohl! Mich von Ihnen hinausstoßen lasse ich nicht! Ohne Sie einsam durch die Welt irren, als Mörder verfolgt, als Verbrecher gehegt, das werde ich nicht! Ich bleibe dann! Ich hefte mich an Sie wie Ihr Schatten! Mögen die Schergen dann kommen – sie sollen mich nicht von Ihnen losreißen – sie sollen mich niederstechen müssen zu Ihren Füßen! Ich schwöre es Ihnen beim lebendigen Gott!

Eugenie hatte mit innerm Entsetzen, mit keuchendem Wogen ihrer Brust diese Worte angehört; sie fühlte sich von einer Ohnmacht angewandelt, und außer sich, wie entschlossen, sich selbst dem Tode entgegenzustürzen, um nur der furchtbaren Lage des Augenblicks zu entgehen, rief sie:

O, nur nicht das, nur nicht neue Greuel! Nur fort, dann nur fort!

Sie stürzte hinaus, auf die Terrasse, in den Garten hinab. Jauffroi hatte die Besonnenheit, nach dem Tuche und dem Hute zu greifen, die er auf Eugeniens Schreibtisch geworfen erblickt hatte. Dann eilte er ihr nach, hüllte sie in das Tuch, zog ihren Arm in den seinen und führte sie durch die Gartenanlagen. Sie hing halb ohnmächtig in seinen Armen. Als er an dem niedern Gitterthore angekommen war, über das vorher Boto gesprungen, hob er sie wie ein Kind hinüber. Dann zog er sie über die Grashalde fort. Ein paar hundert Schritte noch, und der am Saume des Gehölzes im tiefen Dunkel haltende Wagen war erreicht.

Der Kutscher ging, leise pfeifend, die Hände auf dem Rücken, auf dem vor den Köpfen der Pferde liegenden Wegestücke auf und ab. Als er die nahenden Schritte hörte, eilte er zu seinem Bocke. Durch den offen stehenden Schlag sah er eine weibliche Gestalt in den Wagen gehoben, einen Mann nach ihr sich hineinschwingen und den Schlag zuziehen und hörte den Ruf: Fort, fort!

Soll ich nicht auf Böhmer warten? fragte er von seinem Bocke herunter.

Fort zur nächsten Eisenbahnstation! rief es hinter ihm … nur fort!

Der Kutscher hieb auf seine Pferde, dem ersten Impulse, zu gehorchen, folgend; der Wagen rollte davon. Gleich darauf aber sagte er sich: Teufel, es ist etwas doch nicht richtig! Das war eine ganz andere Stimme als die von Graf Boto! – Er wandte sich, um, so gut es das tiefe Dunkel unter den Buchen erlaubte, zu erspähen, wen er eigentlich fahre. In diesem Augenblicke streckte sich ihm aus dem Wagen heraus eine Hand entgegen, die ihm eine Anzahl schwerer Geldstücke in die seine drückte, und der Mann im Wagen sagte dabei:

Das ist für Euch, wenn Ihr so rasch, wie Eure Pferde laufen können, an die nächste Eisenbahnstation fahrt!

Danke! sagte Christian, und sich wieder zu seinen Pferden wendend, flüsterte er vor sich hin:

Das ist eine curiose Geschichte! Nach der Eisenbahn? Das muß meiner Seel' der Bildhauer sein! Während Herr Böhmer seine Tochter hat hinten aus dem Schlosse entführen wollen, entführt der sie ihm zur Vorderthür hinaus – eine spaßhaftere Geschichte ist noch nicht vorgekommen! Die sind schlau – aber der Christian ist auch schlau! Zur Eisenbahn? Damit ich morgen im Tage sofort aus dem Dienste gejagt würde? Ich danke – ich werde mich hüten! Ich thue, was Böhmer und Graf Boto mir befohlen haben: sobald wir das junge Mädchen bringen, fährst du so rasch wie möglich nach Edern zurück! – Also hopp, Fuchs, wir kennen den Weg!

Damit ließ Christian die Peitsche schwirren, und die beiden stattlichen, wohlgenährten Füchse, die er führte, trabten aus, so rasch es der Weg im Holze erlaubte, bis der Wagen mit einem heftigen Rucke die Straße unten im Thale erreicht hatte und nun pfeilschnell dahinrasselte.

Der Graf Boto und Herr Böhmer haben eine hübsche Strecke hinterdrein zu laufen, sagte sich Christian dabei, still vor sich hinlächelnd. Aber es geht nicht anders. Hät ich gesagt, ich wollte auf sie warten, dann wären mir die beiden leichten Passagiere ganz gewiß fortgelaufen. Also vorwärts! Hopp, Fuchs! – Aber verwundern werden sie sich, der Graf und der Böhmer; sie werden glauben, die jungen Leutchen seien ihnen richtig durchgebrannt; und die Augen, die sie machen werden, wenn sie morgen sehen, der Christian hat sie in Haus Edern pünktlich abgeliefert! Wahrhaftig, der Spaß wird gut sein! Nur vorwärts!

Das rasend schnelle Fahren war eine Wohlthat für Eugenie. Diese rasche, gewaltsam sie fortreißende Bewegung hinderte sie, zum vollen Bewußtsein ihrer Lage zu kommen; es hielt sie aufrecht; es war ihr, als werde sie von einer wohlthätigen Gewalt über einen Abgrund fortgerissen, der sie in seine Tiefe niederziehen wollte, aus dem eine bleischwere Todtenhand sich nach ihr ausstreckte, sich, das Herz ihr zusammenkrampfend, auf sie legte, um sie in alle Schauer und Grauen von Nacht, Schuld und Elend zu werfen. Nur Fliehen, nur Fliehen – darin lag die einzige Rettung vor dem grausen Gefühle in ihr, das fortwährend mit ihrem Bewußtsein rang; denn sie fühlte fortwährend die Ohnmacht wie einen Schleier über sich gebreitet, der sich hob und sich senkte, der bald ihre Brust, bald ihre Stirn berührte und dann, wenn sie mit einem leisen Aufstöhnen sich wieder Luft gemacht, sich, auf Augenblicke erleichternd, wieder hob und von ihr entfernte.

Jauffroi flüsterte ihr von Zeit zu Zeit ein ermuthigendes Wort zu, ohne daß sie je nur einen Laut der Erwiderung gegeben hätte. Auch in ihm stürmte es; es war ein zorniges Gefühl der Befriedigung in ihm, womit er sich endlich am Ziele seiner Leidenschaft sah; dabei Reue über seine That, Sorge um ihre Folgen und eine Art bitterer Empörung gegen Eugenie, daß es so weit hatte kommen müssen, bis sie sich dem Rechte seiner Leidenschaft, von dem er so durchdrungen und überzeugt war, gefügt hatte.

Aber dieser innere Sturm nahm ihm seine Geistesgegenwart nicht. Er war sich klar bewußt, daß seine Flucht mit Schwierigkeiten umgeben war. Er überlegte die Chancen des Entkommens, die er hatte, er arbeitete den Plan der Flucht bei sich aus; er wollte die Eisenbahn nur einige Stationen weit benutzen, dann sie verlassen, um quer durchs Land eine andere zu erreichen und so zur nächsten größern Stadt zu kommen. Bis dahin reichten seine Geldmittel. Dann aber mußte Eugenie an ihren Vater telegraphiren, um auf diesem Wege sich rasch beim nächsten Bankier Geld anweisen zu lassen, damit er einen eigenen Wagen erstehen und darin ungefährdet über die Grenze und zum nächsten Hafen kommen könne. Eugenie selbst mußte unverdächtig erscheinen und er wollte als ihr Diener sie begleiten. War man auf dem Meere, so war es nicht schwer, in irgendeinen französischen oder spanischen Hafen zu gelangen, wohin man die Miranda rief. Auf der Miranda trotzte man allem!

So schwanden die Augenblicke und die Meilensteine hinter dem rollenden Wagen; in unnachlassendem Laufe trabten und dampften Christian's Füchse dahin; an phantastischen Gestalten vorüber, welche die Nacht schuf; an Hügeln mit Hütten darauf neben Strohschobern, die von weitem ausgesehen wie Schlösser und Kuppeln. Pappeln, die von weitem wie Thürme, Gehölze, die mit ihren dunkeln Umrissen von fern wie riesige Grabhügel, Obstbäume, die mit ihren Windstützen wie ein Paar zusammenstehender Männer ausgesehen hatten, waren vorübergeflogen als das, was sie waren, als Pappeln, Gehölze, Obstbäume; und endlich fuhr man zwischen Hecken, auf weichem, kiesigem Grunde, und dann auf ein hartes Steinpflaster, auf welchem der Wagen in der nächtlichen Stille ein entsetzliches Gerassel veranlaßte, das von einem dumpfen Echo verdoppelt wurde. Und dann hielt der Wagen vor einem hohen Gebäude, das rechts und links dunkle, graue Flügel vorschob.

Ist das die Station? rief Jauffroi auffahrend aus.

Eugenie blickte hinaus. Sie starrte das Gebäude an und stieß einen leisen Schrei aus. Sie kannte es. Sie richtete mit einem Blicke des Entsetzens ihr Auge auf die offen stehende Portalthür; auf der Schwelle dieser Thür stand eine Frau, in ihrer Hand einen flammenden Leuchter, den sie in diesem Augenblicke hoch erhob, um die Ankommenden zu sehen. Eugenie kannte die Frau!

Was ist? Sie erschrecken, Eugenie! rief Jauffroi aus. Wo sind wir?

Im Hause der Frau, deren einzigen Sohn Sie erschlagen haben! stammelte Eugenie und sank wie leblos zurück. Der schwarze Schleier, der über ihr geschwebt, der flatternd sich auf ihre Brust gesenkt und wieder gehoben hatte, fiel bleischwer, erstickend auf ihr Haupt, ihr Herz. Sie verlor den Athem und die Besinnung. Sie sah nur noch Nacht vor ihren Augen, sie war bewußtlos.

Jauffroi starrte die Frau mit dem Leuchter an. Die Frau, deren einzigen Sohn er erschlagen! Das Wort hatte ihn getroffen wie ein Donnerschlag. Diener kamen und rissen die Wagenthür auf und sprachen Worte hinein und riefen sich an und hoben die Ohnmächtige aus dem Wagen und trugen sie fort.

Auch er stieg hinaus und stand da, stumm bald auf Eugenie, bald auf die Frau unter dem Portal starrend. Er sah, wie man Eugenie ins Haus trug; er sah, wie die Frau mit dem Leuchter sich über sie niederbeugte und betroffen zurückfuhr ein Grauen, ein namenloses Gefühl von Angst durchzuckte ihn, eine kalte Feuchtigkeit trat auf seine Stirn, es peitschte ihn etwas fort von dieser Stelle, und während alles drinnen sich um die Ohnmächtige drängte, trat er auf die andere Seite des Wagens, sah das nahe Gehölz, und in stürmischer Hast trugen ihn seine Schritte davon in das verbergende Dunkel hinein.


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