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Neues Licht durchflutete den Saal. Lautloses Schweigen herrschte, nur die Stricknadeln trieben noch immer ihr emsig klapperndes Wesen. Erika sah sich um, wo das Geräusch herkäme, und erblickte eine ältere Dame mit anständig über die Schläfen gekämmten grauen Scheiteln, klugem, etwas viereckigem, fast männlichem Gesicht, sehr gerader Haltung und sympathisch altmodischem Anzug. Inmitten dieser überhitzten Atmosphäre machte sie den erfrischenden Eindruck eines reinlichen Eisblocks.
»Wer ist denn das?« fragte Erika die kleine Gräfin Mühlberg, die sich ihr zugesellt hatte.
»Fräulein Agathe von Horn,« antwortete die Mühwerg. »Soll ich Sie vorstellen?«
Erika dankte bejahend. Die Gräfin führte sie zu der in Rede stehenden Dame, die mit drei sehr jungen, schüchternen Künstlern, noch immer eifrig strickend, auf einem Kanapee saß, auf das eine Fächerpalme ihren Schatten warf.
Die kleine Gräfin stellte Erika vor, die Künstler erhoben sich, und die beiden Damen nahmen neben Fräulein von Horn Platz.
Das Fräulein seufzte – und die Konversation war eingeleitet.
»Wenn ich nicht irre, sind Sie eine gute Freundin der begabten Dame, welcher wir heute so große Genüsse verdanken,« sagte Konstanze Mühlberg.
»Wir reisen miteinander, weil es billiger kommt,« erwiderte phlegmatisch Fräulein von Horn; »aber wie bei gewissen Ehepaaren ist alles bei uns getrennt außer der Kasse.«
»So,« meinte die kleine Gräfin, »das ist mir sehr erfreulich, da können wir also ungeniert unsere Ansichten über die Dichterin austauschen.«
»Ganz ungeniert,« versicherte Fräulein von Horn.
Indem trat Graf Treurenberg zu den Damen, mit einem von lustiger Bosheit ganz schief gezogenen Gesicht, und teilte ihnen mit, er sei soeben bei der Minona gewesen, um ihr zu ihrem großartigen Erfolg zu gratulieren.
»Was haben Sie ihr denn gesagt?« rief beinahe entrüstet das wahrheitsliebende Fräulein Agathe.
»›Ich begrüße die moderne Sappho in Ihnen!‹ habe ich gesagt,« erklärte der Graf.
»Und sie hat geantwortet?« frug Konstanze Mühlberg.
Der Graf fächelte sich schmachtend mit seinem Claque und lispelte: »Ah oui Sappho – c'est bien Sappho, toujours la méme histoire nach mehr als zweitausend Jahren!«
»Diese arme Minona! Wenn man bedenkt, daß sie das alles aus dem Stegreif erfindet,« bemerkte mit ironischem Mitleid Fräulein Agathe. »Wirkliche Erfahrung hat sie nicht mehr als ... nun, als ich!«
»Still, nicht zu laut,« flüsterte lachend Konstanze, »sie würde es Ihnen nie verzeihen, daß Sie uns dies verraten haben.«
»Ich kenne sie von klein auf,« fuhr Fräulein von Horn gelassen fort. »Sie unterhielt einmal ein Liebesverhältnis in Briefen mit dem Hauslehrer ihrer Brüder, und seither spielt sie die Partie mit dem Strohmann.«
Die trockene Art, mit der sie das sagte, war an und für sich so unvergleichlich komisch, daß sowohl die beiden Damen als Graf Treurenberg in lautes Lachen ausbrachen.
Dann erzählte der Graf etwas Humoristisches über die Fürstin Gregoriewitsch und etwas Erstaunliches über die Freundschaft der prüden Frau von Geroldstein mit dieser berüchtigten Schönheit und problematischen Fürstlichkeit.
»Der Streberstein ist jede Fürstin recht,« sagte Gräfin Mühlberg. »Es ist merkwürdig, wie sich diese Art Damen trotz alles sozialen Ehrgeizes nie auf die feineren sozialen Schattierungen verstehen.«
Da bemerkten sie, daß sich im entgegengesetzten Ende des Saales die Stimmung bedeutend belebt hatte. Inmitten eines großen Kreises von Zuhörern stand ein schwarzbärtiges Individuum mit einem Mephistophelesgesicht und auffallend prätentiösen Lackstiefeln und hielt einen Vortrag über irgend etwas.
»Wer ist denn das?« fragte Konstanze Mühlberg.
»Ja, ich kenn' den Kerl nicht,« rief Graf Treurenberg, » not in my line!« »Ein Schriftsteller aus Wien,« erklärte Fräulein von Horn. »Ist eingeladen worden, um einen Artikel über die Minona zu schreiben.«
»Über was predigt er denn?« fragte der Graf.
Gräfin Mühlberg streckte ihr feines Köpfchen vor: »Über die Liebe!« rief sie.
»So!« – Graf Treurenberg sprang pfeilgerade aus seinem Sessel heraus – »über die Liebe – da muß ich dabei sein.« Und sich mutwillig mit der Zungenspitze über die Lippen fahrend, gesellte er sich zu der Gemeinde des schwarzbärtigen Propheten. Kurz darauf folgte Gräfin Mühlberg seinem Beispiel.
Erika blieb mit Fräulein von Horn auf dem Kanapee unter der Palme allein. Bis zu ihr herüber tönte die Stimme des Propheten anspruchsvoll, gedehnt: »Liebe ist die instinktive Erkenntnis eines Wesens, daß es mit einem bestimmten Wesen anderen Geschlechts ein Paar bilden müsse!«
Fräulein von Horn kraute sich mit einer ihrer langen Stricknadeln in den glatten grauen Scheiteln. »Ich kenne diese Definition der Liebe, sie stammt von Max Nordau,« sagte sie gleichmütig. Kurz darauf verließ sie ihren Platz neben Erika, um sich ihrer drei Schützlinge, der bereits erwähnten drei Künstler, anzunehmen.
Heute von Fräulein Agathe in den Salon Neerwinden neu eingeführt, saßen sie alle drei wie die frierenden Spatzen in einer Dachrinne auf einer rotbezogenen Bank zusammengekauert, verlegen, hungrig und offenbar weidlich erstaunt über die Aussprüche, die aus der Ferne zu ihnen herüberschwirrten. Fräulein von Horn führte sie ans Büfett. Erika blieb unter der Palme gottverlassen allein. Ein zorniger Mißmut bemächtigte sich ihrer. Noch nie hatte man ihr, wo sie auch immer erschienen sein mochte, so wenig gehuldigt wie heute hier. In diesem Salon spielte sie keine größere Rolle als Fräulein Agathe, ja kaum eine so große. Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, daß es unter Umständen doch recht unbequem ist, nicht verheiratet zu sein.
Zugleich plagte sie uneingestandenermaßen eine große Enttäuschung; sie war nicht gekommen, um die Eigentümlichkeiten der Baronin Neerwinden zu studieren, und auch nicht, um sich an den grotesken Liebesklagen Minonas von Rattenfels zu ergötzen, sie war gekommen ... ja, weshalb war sie eigentlich gekommen?
Am anderen Ende des Salons gestaltete sich die Stimmung animierter. Man hörte Ahs und Ohs, kleine Ausrufe des Beifalls, des Entsetzens. Dazwischen erklang's: » Qu'est-ce qu'il dit, expliquez-moi donc!« von Damen, die nicht Deutsch verstanden und sich die gewichtigen Aussprüche Rosenbergs verdolmetschen ließen.
»Die einzige sittliche Verbindung ist die auf Wahlverwandtschaft gegründete,« predigte jetzt Rosenberg.
»Sehr wahr!« rief Frau von Neerwinden.
Eine kurze Pause trat ein. Konstanze Mühlberg hielt sich ihr Taschentuch vor den Mund. Die Gemeinde Rosenbergs hatte jetzt zum größten Teil in den Empiremöbeln, welche die Einrichtung des Palazzo Lugani ausmachten, Platz genommen, die Gondoliere des Hauses präsentierten Erfrischungen. Der schwarzbärtige Prophet stand noch immer, wobei er seinen Claque effektvoll gegen sein Bein stemmte.
Ein französischer Schriftsteller, der gerade genug von dem Ganzen verstanden hatte, um auf das Interesse, welches sein deutscher Kollege erregte, eifersüchtig zu sein, begann seinerseits einen Vortrag zu halten: »L'amour est une illusion, qui ... que ...« Er blieb stecken.
Da rief irgend jemand, den Erika nicht kannte: »Wo ist Lozoncyi? Der weiß mehr von der Sache als wir, er könnte uns helfen!«
»Ich glaube, er verhält sich der Frage gegenüber mehr praktisch als theoretisch!« erwiderte Graf Treurenberg.
Nicht lange nachher brachen ein paar Gäste auf, nicht aus Prüderie, sondern weil es bereits spät war. Der Kreis verringerte sich. Erika bemerkte auf einem Sofa, das früher ihrem Auge verdeckt gewesen, Lozoncyi. Er saß zwischen zwei Damen. Die Schleppe der einen lag quer über seinen Knien. Sie war eine prachtvolle Erscheinung in ihrer Art: groß, üppig, tief dekolletiert und mit langen, schmachtenden Augen. Lozoncyi neigte sich gerade zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Mit einer Regung unüberwindlichen Widerwillens erhob sich Erika und trat hinaus auf einen Balkon.
Sie hatte kaum den Blick auf die nachtumschleierte Pracht der Paläste vor sich geheftet, als sich ihr jemand genähert hatte – Lozoncyi. »Guten Abend, Gräfin! Ich hatte keine Ahnung, daß Sie hier sind, soeben erst habe ich Sie erblickt!« rief er.
Ärgerlich, wie sie war, reichte sie ihm nicht einmal die Hand.
»Sie wundern sich, daß mich meine Großmutter hergeführt hat?« fragte sie.
»Warum?« fragte er, die Achseln zuckend. »Wegen der Antezedenzien der Hausfrau? Die gehen längst niemand mehr etwas an, und es ist unbedingt der animierteste Salon von Venedig.«
»Nun, an Animo hat die Stimmung heute allerdings nichts zu wünschen übrig gelassen,« bemerkte Erika herb.
Sie hielt sich mit beiden Händen an die Brustwehr des Balkons und warf ihm, sich etwas zurückbeugend, die Worte über ihre Schulter hinüber zu. Was sie sprach, war ihm verhältnismäßig gleichgültig, aber ihr Anblick berauschte ihn. Immer stark von seiner Umgebung beeinflußt, waren es heute gerade die unedlen Seiten seiner Natur, die in den Vordergrund traten. Er konnte die Augen nicht von ihr wenden. Wie wundervoll war doch die Linie des von der Hüfte ein wenig zurückgebogenen Oberkörpers! »Rosenberg hat sich sehr um die Unterhaltung der versammelten Herrschaften bemüht,« sagte er leichthin.
»Und seine Anstrengungen sind von großem Erfolg gekrönt gewesen,« erwiderte ihm Erika spöttisch; dann mit noch um eine Schattierung mehr Hochmut in Haltung und Stimme als früher warf sie hin: »Wird hier ... hm! ... immer so viel von Liebe gesprochen?«
»Sehr häufig,« gab er ihr zur Antwort. »Was wollen Sie, es ist auch das Wichtigste auf der Welt!« Und etwas leiser, mit einem seiner indiskret deutlich bewundernden Malerblicke, setzte er hinzu: »Sie werden das auch an sich erfahren!«
Sie runzelte die Stirn, wendete sich von ihm ab und trat in das Innere des Salons zurück.
Er blieb draußen stehen – sein Kopf war plötzlich sehr heiß geworden. Er fühlte es, daß er sich ihr gegenüber einer Geschmacklosigkeit schuldig gemacht, aber er hatte keine Lust, sich die Schuld zu geben, er war es nicht gewohnt. Sie mußte schuld sein. »Schade, daß sie eine so launenhafte Person ist,« murmelte er zwischen den Zähnen in seiner Wiener Manier, »und dabei ein so bildhübsches Geschöpf – schade!« Aber trotzdem er die ganze Schuld des Mißklangs, der sein Gespräch mit ihr entzweigeschnitten, auf ihre Prüderie abwälzte, ärgerte er sich über sich selbst und war fest entschlossen, sollte ihm je wieder Gelegenheit geboten werden, sich ihr zu nähern, dieselbe besser und geschickter auszunützen als diesmal.
Um weniges später verließ Gräfin Lenzdorff mit Erika und Gräfin Mühlberg die Gesellschaft. Sie befand sich in vortrefflicher Laune und wechselte mit Konstanze unermüdlich scherzhafte Aperçus über den Abend, den sie hinter sich hatten.
»Und wie hast du dich unterhalten?« wendete sie sich an Erika, nachdem sie die kleine Gräfin heimgebracht und nun mit ihrer Enkelin allein dem Britannia zugondelte.
»Ich?« fragte Erika und zog die Mundwinkel herunter. »Wie soll ich mich unterhalten in einer Gesellschaft, in der man von Anfang bis zu Ende von nichts zu reden gewußt hat als von ›der Liebe‹!«
Die Großmutter lachte herzlich. »Ja, das war in der Tat ein etwas törichter Zeitvertreib,« gestand sie ihrer Enkelin zu. »Ich begreife auch gar nicht, wie man so viele Worte verlieren kann über etwas, was so auf der Hand liegt, was jeder, der die Augen aufmacht, sieht. Sie tappten alle da- und dorthin, und schließlich hat's keiner herausgebracht, was die Liebe ist. Liebe...« Sie schob das Kinn ein wenig in die Höhe, und ohne daß das gutmütige Spottlächeln von ihren Lippen gewichen wäre, sagte sie: »Liebe ist eine durch gewisse Naturbedingungen erzeugte Überreizung der Phantasie, die sich, solange sie währt, in der ausschließlichen Verherrlichung eines einzigen Wesens ausspricht und den von ihr Befallenen jeder Zurechnungsfähigkeit beraubt. Alles in allem sind die Menschen sehr glücklich zu preisen, die, wenn sie den Gegenstand ihrer Begeisterung wiedersehen, nachdem die Fackel der Leidenschaft verlöscht ist, die Erinnerung an ihre Liebe nicht als eine Erniedrigung empfinden.«
Die Großmutter war sehr stolz auf ihre Definition und sah sich, als sie damit fertig geworden, unbefangen nach Erika um, als ob sie etwas ganz Selbstverständliches und recht Erheiterndes in treffende Worte gekleidet habe. Aber Erikas Gesicht hatte einen finsteren, gequälten Ausdruck angenommen. Die Worte der Großmutter hatten den alten Schmerz in ihr geweckt – den Schmerz um ihre Mutter, aus dem ihr ganzes Wesen herausgewachsen war. Es ließ sich nicht leugnen, in vielen Fällen war die Anschauung der Großmutter die richtige. Sollte sie immer die richtige sein? – Etwas in Erikas Wesen bäumte sich dagegen auf. Nein – tausendmal nein!
»Das, von dem du sprichst, Großmutter, ist ja nur die falsche Liebe – der Wahn,« sagte sie mit verschleierter, leise zitternder Stimme; »aber es gibt ja doch noch eine andere, eine echte, heilige, eine veredelnde Liebe!«
»Mag sein,« sagte die Großmutter, »das Traurige dabei ist nur, daß man die unedle von der edlen nicht früher unterscheiden lernt, als wenn sie vorüber ist.«
Erika sagte nichts mehr.
Die Luft war lind, ein süßer Rosenduft wehte über den faulen Ausdünstungen der Lagune, die lockende Gespenstermusik tönte aus der Ferne. Erika aber kroch ein eisiger Schauer durch die Glieder, und zu gleicher Zeit regte sich halb unbewußt in ihrem Herzen eine große, nagende Sehnsucht.
Acht Tage, vierzehn Tage waren verstrichen, seitdem Minona von Rattenfels so effektvoll ihren ins Leere hinausschmachtenden Liebesschmerz zum besten gegeben hatte.
An Erika hatte sich eine auffallende Veränderung vollzogen. Sie zeigte sich jetzt heiterer, oder wenigstens zugänglicher, schloß sich nicht mehr in ungesunder Menschenscheu von der Welt ab, sondern ging in Gesellschaft, sooft die Großmutter sie dazu aufforderte.
Wo sie erschien, begegnete sie Lozoncyi – Lozoncyi, der sie kaum eine Minute aus den Augen ließ, zugleich aber keinen Versuch mehr machte, sich ihr in irgendeiner auffälligen Weise zu nähern. Seine Haltung ihr gegenüber war jetzt nicht nur musterhaft, sondern geradezu rührend. Immer zur Hand, wenn es hieß, ihr einen kleinen Dienst zu erweisen – sei es, ihr ein Eisschälchen oder eine Teetasse abzunehmen oder einen verlegten Fächer, ein Paar Handschuhe zu suchen –, trat er sofort wieder zurück, um ihren anderen Verehrern Platz zu machen, deren Zahl sich jetzt täglich mehrte. Unter diesen stand Prinz Helmy Nimbsch, der sich zeitweilig in Venedig aufhielt, in der ersten Reihe; die ganze internationale Gesellschaft von Venedig erwartete von einem Tag zum anderen eine Verlobung; und heute, das ließ sich nicht leugnen, bei einer Lawn-tennis-Partie bei Lady Stair, hatte der Prinz Erika sehr deutliche Beweise seiner Absichten gegeben. Sie war ein wenig erschrocken; während sie den jungen Mann nicht ohne Übereilung von seinen sentimentalen Gesprächsbahnen auf ein neutrales Gebiet gelenkt, waren ihre Augen zufällig dem Blick Lozoncyis begegnet.
Um weniges später hatte sie sich von dem Prinzen losgemacht.
Man hatte von neuem angefangen, Lawn-tennis zu spielen. Erika hatte bei diesem Sport eine Lebhaftigkeit, Anmut und Energie entwickelt wie nie zuvor. Als sie sich dann, ein Bild stolzen jungen Lebens, mit leuchtendem Haar und glänzenden Augen von dem Spielplatz zurückzog, trat Lozoncyi an sie heran, um ihr die Rakette abzunehmen. »Sie sehen, wie recht der arme Maler gehabt, als er es nicht mehr wagte, sich seiner kleinen Fee wieder zu nähern,« murmelte er. Bescheiden und liebkosend, zugleich Mitleid und Sympathie erregend, schwebten die Worte an ihrem Ohr vorüber. Ehe sie ihm noch etwas hatte erwidern können, war er verschwunden. Den Rest des Nachmittags näherte er sich ihr nicht mehr, doch merkte sie deutlich, wie seine Blicke abwechselnd von ihr zu Prinz Nimbsch hinüberschweiften – erst fragend, dann – erleichtert.
Jetzt ist es um wenige Stunden später und nach dem Diner. Draußen glänzen die Lämpchen bereits rot den Canal Grande entlang, und ihr tausendfältig gebrochener Widerschein schaukelt sich in langgestreckten goldenen Streifen auf den kleinen Wellen der Lagune. Ein wenig elektrisches Licht beleuchtet allein das Wohnzimmer, in dem Erika an dem Flügel sitzt und Reminiszenzen aus Parsifal spielt – immer wieder gleitet ihr das Motiv sündiger Weltlust aus den Fingern.
Da tritt die alte Gräfin ein. Ihrer gewöhnlichen, direkt auf ihr Ziel lossteuernden Art ganz entgegen, fängt sie an, planlos zwischen den von Erika in dem kleinen Gemach aufgestapelten Merkwürdigkeiten herumzuspazieren, bald dies, bald jenes zu betasten. Plötzlich bleibt sie neben dem jungen Mädchen stehen und bemerkt: »Prinz Nimbsch scheint dir sehr den Hof zu machen – man spricht bereits darüber!«
»Unsinn!« erwidert Erika ausweichend und führt von neuem ihre Hände über die Tasten. »Zeitvertreib!«
»Hm! ... hm! Er scheint mir die Sache doch etwas ernster aufzufassen,« murmelt die alte Frau, »auch ist nicht zu leugnen, daß es eine glänzende Partie wäre.«
Erika läßt die Hände von den Tasten heruntergleiten. »Aber Großmutter!« ruft sie fast lachend, »was fällt dir denn ein – er ist ja ein Kind!«
»Ein Kind? Er ist volle vier Jahre älter als du, und ich brauche dich wohl nicht daran zu erinnern, daß du kein Kind mehr bist!« Der Ton der alten Frau klingt etwas unruhig: »Jedenfalls mußt du dir's gut überlegen ...«
»Ehe ich mich von neuem in eine Verlobung einlasse,« fällt ihr Erika ziemlich schroff ins Wort. »Ich verspreche es dir, ja, mehr als das, ich verspreche dir feierlich, daß ich mich nicht mit Prinz Nimbsch verloben werde!«
»Eigentlich ... muß ich selbst sagen ... ich glaube nicht, daß er dir gewachsen wäre!« murmelt die alte Frau. Dann setzt sie etwas unsicher hinzu: »Freilich, die Stellung ist sehr lockend – sehr lockend!«
»Aber Großmutter!« ruft Erika, und noch einmal gedehnt, vorwurfsvoll: »Aber Großmutter!« Dann, auf die alte Frau zugehend, legt sie ihr den Arm um die Schultern und küßt sie auf den noch immer vollen grauen Scheitel: »Kennst du mich wirklich so wenig?«
Die Großmutter erwidert die Liebkosung des jungen Mädchens gerührt, worauf sie leise, wie zu sich selbst sprechend, murmelt: »Als ob du dich selber kenntest, mein armes, liebes Kind!«
»So weit kenn' ich mich,« versichert Erika, »daß ich nämlich seit meinem ersten Verlobungsirrtum gründlich von allem weltlichen Ehrgeiz geheilt bin.«
»Ach, das war etwas ganz anderes!« seufzt die Großmutter. »Deine Verbindung mit Lord Langley wäre etwas geradezu Unnatürliches gewesen – aber Helmy Nimbsch ist ein ritterlicher, hübscher junger Mensch.«
»Es läuft auf eins hinaus,« spricht halblaut Erika. »Alt oder jung, ist er immerhin ein Mann, den ich nicht liebe und den ich nicht lieben könnte.«
Die alte Frau schüttelt ungeduldig den Kopf. »Fängst auch du damit an? Liebe – ich hatte dich doch für zu vernünftig gehalten dazu – Liebe – Liebe! Gott beschütze dich vor der Krankheit! Die einzigen gesunden Grundbedingungen einer glücklichen Ehe sind unbegrenzte Achtung und warme Sympathie – alles, was darüber hinausgeht, ist vom Übel!«
Erika bleibt stumm.
Indessen fährt die alte Frau fort: »Die Leidenschaft taugt nichts für eine anständige Frau. Die Leidenschaft ist ein Rausch, und auf jeden Rausch folgt ein Katzenjammer. Daraus ergibt sich, daß sich für die anständige Frau, die sich den Rausch bekanntermaßen höchstens einmal gönnen darf, der Katzenjammer nach flüchtiger Wonnezeit über den ganzen Rest ihres Lebens hinzieht. Nur die pflichtlose Frau, die sich erlaubt, jeden Katzenjammer mit einem neuen Rausch zu kurieren, darf sich die Leidenschaft erlauben. Für unsereinen ist das alles dummes Zeug.«
Um diese lange Rede zu halten, hat sich die Gräfin in einen Sessel niedergesetzt, auf den Knien hält sie einen Band Taine: Les Origines de la France, den sie in Erikas Wohnzimmer mitgebracht hat und auf den sie von Zeit zu Zeit, wie um ihre Aussprüche besonders zu betonen, energisch mit einem großen japanischen Papiermesser klopft. Erika steht unweit von ihr an den Klavierdeckel gelehnt, hoch und biegsam in ihrem langen weißen Kleid, in dem ihre schlanke Gestalt eine unnachahmliche Wellenlinie beschreibt. »Und was ergibt sich denn aus deiner schönen Predigt? Daß ich Helmy Nimbsch heiraten soll auch ohne Liebe?« fragt sie.
»Helmy Nimbsch?« Das schwere schwarze Brokatkleid der alten Dame raschelt aufgeregt, was davon herrührt, daß sie bei diesem letzten Ausruf fast aus ihrem Lehnsessel, dessen beide Vorderecken sie energisch mit ihren Händen erfaßt hat, herausgesprungen wäre, »Helmy Nimbsch? Wer spricht von dem?«
»Du, dachte ich, Großmutter,« meint etwas boshaft lächelnd Erika. »Wenn ich nicht irre, war er der Ausgangspunkt unseres Gesprächs.«
»Ach was, Helmy Nimbsch – ce n'est pas sérieux!« Die alte Frau wischt sich mit ihrem weichen Batisttuch die Lippen.
»Und von wem sprichst du denn sonst?« fragt Erika und sieht ihr gerade und etwas unzufrieden in die Augen.
»Ach, von niemand, ich redete im allgemeinen!« erwidert etwas gereizt die alte Dame. Dann nach einer Pause seht sie noch gereizter hinzu: »Wenn du übrigens für den jungen Nimbsch unbegrenzte Achtung und warme Sympathie empfindest, so heirate ihn by all means.«
Statt aller Antwort macht sich Erika mit den Noten aus dem Flügel zu schaffen.
Eine lange Pause folgt – von unten tönt das Gemurmel, Gerumpel und Glockengeläute herauf, das in einem Hotel mit der Ankunft neuer Gäste verbunden ist. Das Herumschieben von Koffern, das Knarren schwerer Tritte – mehrere Stimmen tönen durcheinander. Gräfin Lenzdorff benutzt die Gelegenheit, sich über den Lärm zu beklagen und Erika zu erklären: »Eigentlich habe ich dieses Herumvagieren in der Fremde satt!«
»Du, Großmutter? Aber du warst ja stets so entzückt davon! Noch gestern hast du mir dein venezianisches Leben als besonders »erholend« gepriesen!«
»Ja – ja, aber es dauert mir zu lange. Während du mit Konstanze Mühlberg bei Stair Lawn-tennis gespielt hast, war ich bei Hedwig Norbin. Sie ist gestern angekommen und wohnt knapp neben uns im Europe. Nur auf der Durchreise hält sie sich hier auf. Schade!«
»Hm! Und die hat dir eine so verlockende Beschreibung von Berlin gemacht, daß du infolgedessen Lust bekamst, sofort deine Zelte abzubrechen und nach der Bellevuestraße hinüberzufliegen?« fragt Erika kalt. »Jetzt, mitten aus diesem wundervollen südlichen Frühling heraus?«
»Ach was, der Frühling ist überall schön! In Berlin ist er schöner als in Venedig – es gibt nichts Schöneres als den Tiergarten im Mai, und dann, ich finde dort meine alten Gewohnheiten wieder, meine alten Freunde.« »Ich habe eben keine Freunde in Berlin,« sagt Erika mit eigentümlicher Betonung, »und dies ist der Grund, weshalb ich dich bitte, mir zulieb noch eine Weile von Berlin fernzubleiben. Nächsten Herbst mach' mit mir, was du willst. Vorläufig hab' ein wenig Geduld mit mir!«
»Geduld – Geduld!« Wieder klopft die alte Gräfin einen kleinen Marschrhythmus mit ihrem japanischen Papiermesser auf den grauen Umschlag von Taines Origines de la France.
Nach einem Weilchen beginnt Erika: »Hat dir Frau von Norbin nichts Näheres über Dorothee von Sydow erzählt. Wie faßt die Welt ihre Lage auf?«
»Wie die Welt ihre Lage auffaßt?« ruft die alte Gräfin. »Wie soll die Welt die kritische Lage einer Frau auffassen, die nie die geringste Rücksicht für irgend jemand gezeigt, nie jemand eine Wohltat, ja kaum eine Gefälligkeit erwiesen und nur ihrer eignen leichtfertigen Selbstsucht gelebt hat! Die Welt hält eine Persönlichkeit nur dann, wenn sie durch das Fallenlassen derselben etwas verliert. Wer verliert etwas dadurch, daß Dorothee von der Liste gestrichen wird? Ein paar junge Herren vielleicht, und die nicht, denn denen steht es frei, ihr außerhalb der Gesellschaft den Hof zu machen. Die Welt dreht ihr den Rücken; nach dem, was mir Hedwig erzählte, ist sie absolut gemieden!«
»Und wie findet sie sich in ihr Schicksal?« fragt Erika. »So schlecht als möglich. Ein jeder hätte geglaubt, sie würde den Moment geeignet finden, Berlin zu verlassen. Ich für meinen Teil hätte niemals angenommen, daß ihr so viel an ihrer gesellschaftlichen Stellung liegt. Wie es scheint, klammert sie sich daran.
»Wie angenehm für ... für den Bruder des Verstorbenen!« sagt Erika. Mehrere Monate sind verstrichen, seitdem ihre Lippen den Namen Goswyn zum letztenmal ausgesprochen haben – es scheint, als ob sie verlernt hätte, ihn zu sagen.
»Für Goswyn!« ruft die alte Frau aufrichtig und herzlich bekümmert aus. »Gräßlich! Er soll aussehen nicht zum Erkennen, abgemagert, menschenscheu. Ich hätte gar nicht gedacht, daß er so an Otto hing. Freilich, die Umstände, die den Tod des Armen begleiteten, waren fürchterlich! Er hat zwar immer allerhand an mir auszusetzen, aber schließlich bin ich seit dem Tode seiner Mutter doch die Person, die ihm auf dieser Welt am nächsten steht. Ich weiß, daß er sich freuen würde, sich einmal ordentlich mit mir aussprechen zu können.«
Erika holt tief Atem, ihre großen, hellen, dunkelumsäumten Augen blitzen. »So!« ruft sie aus, »also deswegen willst du nach Berlin, um Herrn Goswyn von Sydow zu trösten? Ich wußte immer, daß du ihn sehr lieb hast – daß du ihn lieber hast als mich, erfuhr ich erst jetzt!«
»Erika! – Lieber als dich...!« Die alte Frau hat sich erhoben und fährt Erika zärtlich von der Schulter abwärts über den Arm. »Es tut mir nur manchmal leid, daß ich euch nicht beide zusammen liebhaben kann!« setzt sie halblaut und fast schüchtern hinzu.
Aber Erika wehrt die ihr sonst so teure Liebkosung der Großmutter diesmal zornig von sich ab. »Ich begreife dich nicht!« ruft sie aus, »es ist ja eine reine Manie von dir! Immer wirfst du mir vor, daß ich Goswyn nicht geheiratet habe, oder machst Anspielung darauf, daß ich ihn noch heiraten sollte – einen Menschen, der sich seit Jahren nicht mehr um mich kümmert!«
»Erika, wie kannst du nur so reden; denke an Baireuth!« ermahnt die Großmutter.
»Und ob ich an Baireuth denke!« fährt Erika fort. »Nun ja, in Baireuth interessierte er sich noch für mich, das heißt, er hatte die Erinnerung an das junge Mädchen, mit dem er in den Tiergarten ausgeritten war, noch nach Baireuth mitgebracht; aber die Erinnerung paßte nicht mehr auf das, was er in Baireuth fand. Das war der Schluß von allem!« Ein paarmal schreitet sie stumm in dem Zimmer auf und ab, dann plötzlich vor der Großmutter stehenbleibend, ruft sie aus: »Es wurmt mich schon lange: jedesmal, wenn du von Goswyn sprichst und dich in die Betrachtung seines maßlosen Edelmuts vertiefst, sticht's mich ins Herz. Edelmut! ... mag sein – aber es ist ein kalter, unfruchtbarer Edelmut! Nun ja, er ist ein durch und durch rechtlicher Mensch, aber er ist ein Mensch, der keine Schwäche verzeiht, weil er selbst keine hat. Er... o ja ...!« Erikas Stimme wird heiser, sie schöpft tief Atem, dann fährt sie mit schwindelnder Geläufigkeit fort: »Ich zweifle nicht daran, daß er jeden Augenblick bereit wäre, ins Wasser zu springen, um mit Lebensgefahr den ersten besten Taugenichts herauszuziehen, aber sobald er ihn aufs Trockene gebracht hätte, würde er ihm den Rücken kehren und mit seiner unerträglich geraden Haltung und sehr großen Schritten davonstolzieren, ohne sich auch nur einmal nach dem Geretteten umzusehen, geschweige, denn ihm ein gutes Wort zu geben. Nimm sein Benehmen gegen mich! Ich komme ausdrücklich darauf zurück, damit wir mit dieser peinlichen und demütigenden Einbildung von dir ein für allemal aufräumen. Er hat mir, wie du weißt, damals in Baireuth einen Dienst geleistet, den mir so leicht kein anderer erwiesen hätte – zugegeben. Aber er hat mir's nie verziehen, daß ich sechs Wochen oder acht Wochen lang – was weiß ich! – die Braut von Lord Langley gewesen bin. Mein Gott, es war ein Mißgriff meinerseits, eine Dummheit, die ich aus Eitelkeit, aus Ehrgeiz begangen habe. Gut, aber mehr war's nicht – und doch war's genug für ... für Herrn von Sydow, mich ein für allemal aus seiner Gnade zu streichen. Da hast du deinen wundervollen Goswyn, so ist er und nicht anders. Mir ist das ja ganz gleichgültig – ich interessiere mich nicht im mindesten für ihn – Gott sei's gedankt! Wenn ich mich für ihn interessiert hätte, so hätte ich mich ja halb tot kränken können – so aber ... Ich ärgere mich höchstens darüber, daß ich ihn überschätzt habe – das ist alles!«
Staunend hat ihr die Großmutter zugehört. Sie hat sie noch nie so aufgeregt gesehen, sie hat nicht gewußt, daß ihre Stimme solcher Modulationen fähig ist. Bisweilen ist es die Stimme eines trotzig zornigen Kindes, und dann wieder die eines leidenschaftlich erregten stolzen Weibes.
»Aber Erika!« ruft sie jetzt, da das junge Mädchen innehält, »das ist ja alles Blödsinn – sehr scharfsinnig ausgeklügelter Blödsinn, der ärgste von allen! Nicht ein Wort ist wahr davon! Ich bin überzeugt, daß er dich noch geradeso verehrt wie früher!«
»Du hast eine reiche Phantasie,« spöttelt Erika. »Merkwürdig, daß Goswyn die ganze Zeit über seine Verehrung nie kundgegeben hat!«
»Liebes Kind,« entgegnet ihr die Großmutter, »das ist etwas anderes. In gewisser Beziehung ist Goswyn kleinlich – das habe ich dir selber gesagt. Ihm ist seine Armut viel zu wichtig gewesen und deine Wohlhabenheit auch. Das ist eine Kinderei, die ihn vielleicht um das Glück seines Lebens gebracht hat. Aber sag', was du willst, ich bin überzeugt, daß seine Armut allein ihn davon abgehalten hat, sich dir, nachdem du ihm den Korb gegeben hattest, wieder zu nähern.«
»So!« Erika wirft trotzig den Kopf zurück. »Nun, mit der Armut ist's vorbei!« ruft sie aus.
»Aber Erika! Zartfühlend, wie du's bist, solltest du doch begreifen, daß ein Mensch wie Goswyn es nicht schnell über sich gewinnen kann, Nutzen aus dem Tode seines Bruders zu ziehen, und noch obendrein aus einem Tode, der unter solchen Umständen erfolgt ist!«
Erika schweigt einen Augenblick, ihr blasses Gesicht zuckt, dann sagt sie gedämpft: »Gewiß, Großmutter! Daß er jetzt schon um mich anhielte, wäre einfach häßlich – aber siehst du ... wenn mich ein so großes Unglück getroffen hätte wie ihn, so hätte ich die Empfindung, als wollte ich meinen Schmerz zu den Menschen tragen, die meinem Herzen am nächsten stehen. Du konntest daran denken, nach Berlin zurückzukehren um seinetwillen. Wenn irgend etwas von all dem, was du dir in den Kopf gesetzt hast, wahr wäre, so wäre er nach Venedig gekommen – einen Urlaub hätte er erreicht. Und nun haben wir uns darüber ausgesprochen ein für allemal. Zum Glück ist er mir ganz gleichgültig – vollständig gleichgültig. Ich habe dir dies alles nur gesagt, damit du mir nicht ein zweitesmal zumutest, Knall und Fall mit dir nach Berlin zurückzureisen, damit die ganze Welt, die mir so überaus wohlgesinnte Welt, sagt: Sie läuft Goswyn von Sydow nach, seitdem er Majoratsherr geworden ist!«
Die Großmutter legt ihre beiden Hände auf Erikas Schultern, zieht dann ihren stolzen, jungen Kopf zu sich nieder und küßt sie auf die Stirn. Indem öffnet sich leise, behutsam die große, einflügelige Tür von rotbraunem Mahagoni. Der unentbehrliche Lüdecke tritt ein und präsentiert eine Visitenkarte.
»Paul von Lozoncyi,« sagt Gräfin Lenzdorff, die Karte auf den Präsentierteller fallen lassend. »Bist du gelaunt, Fremde zu sehen?«
»Ja, warum nicht?« fragt Erika.
Kurz darauf trat Lozoncyi in das hübsche Boudoir Erikas.
Erika empfing ihn mit auffallender Freundlichkeit, die alte Gräfin schien sich im Gegenteil offenbar vorgenommen zu haben, steif gegen ihn zu sein. Sie war es nicht gewöhnt, daß junge Männer, wenn sie selbe aufgefordert hatte, sie zu besuchen, es so lange aufschoben, ihre Aufwartung zu machen. Kaum aber war sie fünf Minuten mit Lozoncyi beisammengewesen, so schmolz ihr Mißmut wie Schnee in der Sonne. Ohne auch nur Miene zu machen, sich wegen seines langen Fernbleibens zu entschuldigen, befleißigte der Maler sich einfach, seinen liebenswürdigen Wirtinnen zu beweisen, wie außerordentlich wohl es ihm bei ihnen gefiel, nachdem er endlich den Weg zu ihnen gefunden hatte. »Wie reizend!« sagte er, sich umsehend, »man hat keine Ahnung davon, daß man in einem Hotel ist!« Und dabei rieb er sich in seiner fröstelnden Art die schlanken Hände.
»Sie befinden sich in dem Sanktuarium meiner Enkelin,« erklärte ihm Gräfin Lenzdorff, »mein eigenes Empfangszimmer ist um einige Schattierungen kahler.«
»So! Ich mache Ihnen mein Kompliment, Gräfin Erika! Ich weiß, daß es mir eigentlich nicht zukommt, das erstemal, daß ich die Ehre habe. Ihr Heiligtum zu betreten, mich nach allen Ihren Raritäten umzusehen, wie der geheime Agent eines Modeantiquars, aber unsereins freut sich immer, wenn sich ihm irgendeine Augenweide bietet. Merkwürdig, wie gut Sie sich den Rahmen zu Ihrer Persönlichkeit geschnitzt haben. Sehen Sie nur, Exzellenz, das Bild!«
Er lenkte die Aufmerksamkeit der alten Frau auf die Erscheinung Erikas, die jetzt lässig in einem hochlehnigen Großvaterstuhl saß, gegen dessen mit goldenen Arabesken geschmückten Überzug von altem Leder sich ihr rotbraunes Haar eigentümlich abhob.
»Es ist entzückend – die weiße Figur gegen das goldschimmernde Leder und daneben der Delftkrug mit den Jonquillen – ein Bild, wer's nur festhalten dürfte!« seufzte er, und dann setzte er hinzu: »Wenn Sie wüßten, welche Not ich oft habe, wenn es gilt, bei einer Dame, die ihr Porträt bei mir bestellt, eine Pose zu finden – bei Gräfin Erika würde einem die Wahl schwer. Sehen Sie doch, Exzellenz, diese Linie!«
»Sie werden das Kind noch ganz befangen machen,« verwies ihm die im Grunde ihres Herzens geschmeichelte Großmutter. »Statt der Erika den Kopf zu verdrehen, sollten Sie mir lieber sagen, warum Sie so lange gebraucht haben, den Weg hierher zu finden?«
Er zuckte ein wenig zusammen, schlug die Augen voll zu ihr auf, schlug sie dann wieder nieder – und endlich beide Hände auf seine Knie stützend, sagte er halblaut: »Fragen Sie mich lieber, warum ich überhaupt gekommen bin.«
»Nein, ich frage ausdrücklich, warum Sie nicht früher gekommen sind?« lachte die alte Frau.
»Warum?« Er stockte einen Augenblick, dann erwiderte er ruhig: »Weil ich nicht Lust hatte, unter allen Verehrern Gräfin Erikas der letzte zu sein, der an ihrem Triumphkarren zieht. So, da haben Sie's – so deutliche Fragen zwingen zu deutlichen Antworten.« Dabei sah er die alte Dame beobachtend an, ob er nicht zu weit gegangen sei. Aber nein! Er gehörte zu jenen bevorzugten Menschenkindern, denen man dreimal mehr verzeiht als allen anderen; irgend etwas in dem singenden Tonfall seiner weichen, ungemein warmen und aufrichtig klingenden Stimme, sein treuherziger und zugleich etwas schwermütiger Blick und besonders sein Lächeln, sein hübsches, einschmeichelndes Lächeln, nahmen sofort für ihn ein. Es war noch immer dasselbe Lächeln, mit dem er sich als halbwüchsiger Junge in der kleinen Erika weiches Kinderherz hineingeschlichen, das liebenswürdige, nichtsnutzige Lächeln, das er von einer gutmütigen und leichtsinnigen Mutter geerbt haben mochte.
Die alte Frau lachte einfach zu dem Geständnis. Hierauf fragte sie etwas spöttisch: »Und jetzt zeigen Sie sich' bereit, geduldig als der allerletzte usw. usw?«
Er schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es mir eingefallen, daß ich Gräfin Erika vielleicht eine kleine Freude machen könnte, die ihr kein anderer unter ihren momentan um sie herumschmachtenden Verehrern zu bereiten vermöchte, und ich bin gekommen, sie zu fragen, ob sie mir dazu Gelegenheit bieten will?«
Erika blieb stumm, die alte Gräfin hingegen schüttelte ihren schönen Kopf und sagte: »Herr von Lozoncyi, Sie sprechen in Rätseln.«
Lozoncyi sah erst mit einem besonders zum Herzen sprechenden Blick von einer der Damen zur anderen; dann sich direkt an die jüngere wendend, sagte er: »Sie erinnern sich wohl noch dessen, daß ich in Ihrer Schuld stehe, Gräfin Erika?«
»Ja, ich hab' Ihnen einmal fünf Gulden geborgt,« erwiderte diese.
»Fünf Gulden ...!« wiederholte er. »Es ist nichts, nicht wahr – aber damals war's für mich viel. Ohne diese fünf Gulden hätte ich wahrscheinlich nie den Weg bis zu meiner Tante Illona in München gefunden, und vielleicht wär' ich in einem Straßengraben verhungert. Sie sehen, daß ich Ihnen zu Dank verpflichtet bin; in Anerkennung dieses Faktums bin ich hergekommen, Sie zu fragen, ob Sie mir erlauben würden, Ihr Porträt zu malen?«
Erika sah ihn starr an. »Um fünf Gulden?« rief die alte Gräfin mit einer urkomischen Betonung. Es war bekannt, wie schwer Lozoncyi dazu zu bringen war, die Ausführung irgendeines Porträts zu übernehmen, und welche fabelhaften Preise er sich dafür zahlen ließ.
»Ich bitte Sie, geben Sie mir keinen Korb, Gräfin Erika!« flehte er, indem er die Hände wie ein kleines Kind zusammenlegte, das um Kuchen bettelt.
»Ich würde dir raten, den Antrag anzunehmen,« meinte die Großmutter, »zweimal dürfte er dir kaum gemacht werden.«
»Sie setzen sich nicht der geringsten Unannehmlichkeit aus,« drang er in Erika, »es sei denn der, sich ein paar Stunden zu langweilen. Ich weiß, daß Sie meine Malerei nicht mögen, und darum gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, daß ich das Bild verbrenne, wenn es Ihnen nicht gefällt, selbst wenn ich's für ein Meisterwerk halten sollte. Aber wenn es mir gelingt, Ihren Geschmack zu befriedigen, wird Sie das Bild vielleicht manchmal an einen armen Teufel erinnern, der ...«
Seine Phrase wurde durch das Eintreffen eines Besuches unterbrochen. Mehrere Personen erschienen im Laufe des Abends. Es wurde viel geplaudert und gelacht.
Lozoncyi blieb, bis alle anderen gegangen waren.
»Und wann ist die erste Sitzung?« fragte er.
»Wann's Ihnen beliebt,« gab ihm Erika zur Antwort.
»Morgen?« »Morgen, wenn Sie wollen.«
Seine Augen leuchteten auf. »Gegen elf!« rief er.
Sie sagte zu.