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Gegen Ende Februar, kurz nach Schluß des Karnevals, erklärte Erika ihrer Großmutter verdrießlich, sie habe Rom satt und wolle Italien von einem anderen Standpunkt aus kennenlernen. Nach langem Überlegen wählte die Großmutter Venedig zu ihrem nächsten Aufenthalt.
Da die Jahreszeit schon vorgeschritten war, so mieteten die Lenzdorffs nicht wie so viele Fremde einen Palazzo, was immerhin umständlich gewesen wäre, sondern ließen sich im Hotel Britannia nieder, das gegen die anderen venezianischen Gasthöfe außer seiner schönen Lage noch eine große allgemeine Behaglichkeit voraushat.
Die alte Gräfin fühlte sich bei dieser Anordnung der Dinge so wohl, daß sie nicht müde wurde, ihrer Enkelin zu versichern, in einem Hotel zu leben, sich nicht über die Dienerschaft ärgern, sich um nichts kümmern zu müssen, bedeute für sie den Höhepunkt menschenmöglicher Annehmlichkeit. Sie bewohnten vier geräumige Stuben im ersten Stock, die vor ihnen ein gekröntes Haupt innegehabt, und von denen zwei auf die Kirche Santa Maria della Salute hinaussahen, während die anderen zwei die Aussicht auf den kleinen Hotelgarten und über die niedrige Brustwehr desselben ebenfalls auf den Canal Grande hatten.
Natürlich hielten sie eine Gondel zu ihrem Privatgebrauch, doch benutzte Erika dieselbe verhältnismäßig selten. Die eintönige schaukelnde Bewegung auf dem Wasser stimmte ihre ohnehin kranken Nerven noch mehr herab. Zu ihrer ausgesprochenen Vorliebe gehörte es, lange Fußtouren zu machen. Stundenlang wanderte sie aus einem der malerischen Gäßchen oder Campi in das andere. Anfangs hatte sie, sich dem Wunsche ihrer Großmutter fügend, Marianne mitgenommen; bald aber wurde ihr die wenig kunstsinnige Begleitung der Zofe lästig. Sie nahm die Gewohnheit an, allein zu gehen, emanzipierte sich überhaupt nach verschiedentlichen Richtungen, wobei sie sich mit Vorliebe auf ihre Mündigkeit berief.
Bald kannte sie nicht nur alle großen, sondern sehr viel kleine Altertumströdler, hielt sich oft lange in ihren niedrigen und verräucherten Höhlen auf und freute sich, träge mit den Augen genießend, an dem malerischen Farbenakzent, den der gelbe Glanz einer altväterischen römischen Messinglampe, die satte Pracht eines Lappens golddurchwirkter Kirchenstickerei in die braune Eintönigkeit des Ladenwirrwarrs hineinzeichnete. Sie machte die wunderbarsten »Funde«, entdeckte zwischen dem künstlich altgemachten Plunder, den lächerlichen Scherben, die den Hauptbestandteil solcher Warenlager bilden, oft eine Kunstreliquie von wirklichem Wert, die sie selbstverständlich an sich brachte – natürlich rasend billig (sie redete es sich zum wenigsten ein), um damit die Ausschmückung ihres kleines Salons zu vervollständigen, der sich nach und nach nicht nur zu einem Raritätenkabinett ausgestaltete, sondern auch zu einem wirklich stimmungsvollen Nest. Zwischen dem düsteren Raritätenkram war alles bunt oder saftig grün von Topfpflanzen und geschnittenen Blumen, die sie täglich erneuern ließ, auch hatte sie einen Flügel hineinstellen lassen, aus dessen Tasten sie in den Pausen ihrer Spaziergänge alles herausspielte, was es in der Musik Schönes und Schmerzliches gibt.
Die alte Gräfin ließ den verschiedentlichen Liebhabereien ihrer Enkelin ruhig ihren Lauf und ging indessen ihre eigenen, sie in durchaus andere Regionen führenden Wege.
Trotz ihrer originellen und selbständigen Lebensauffassung sowie ihres nicht zu beirrenden persönlichen Urteilsmutes, den sie ebensogut jedem Kunstwerk wie auch dem verwickeltsten Sittenproblem gegenüber betätigte, liebte sie » les chemins battus«.
»Warum,« pflegte sie zu sagen, »anstatt einen bequemen Weg zu gehen, den ich fix und fertig finde, mir einen unbequemen im Schweiße meines Angesichts selber aushauen, um aller Wahrscheinlichkeit nach schließlich doch einzusehen, daß er genau zu demselben Ziel führt wie der andere?«
So ging sie denn gleichmütig die ausgefahrenen Gleise entlang im Gefolge der Menge von einer interessanten Merkwürdigkeit zur anderen, ohne jegliche Müdigkeit, mit immer gleich regem Interesse. »Ich muß mich beeilen, ich habe nicht viel Zeit vor mir. Das Leben war für mich immer nur ein großes Bilderbuch, ich muß noch ein paar Blätter aufschlagen, eh' ich scheide!« pflegte sie zu sagen.
Häufig erblickte Erika sie bei ihren Pilgerschaften bequem hinstapfend in ihrem großen Zobelpelz und mit ihrer Pariser Kapotte, um welche sie, wenn es kalt war, eine dicke schwarze Spitzenschärpe zu knüpfen pflegte. Wo sie irgendein interessantes Monument aufragen sah, blieb sie stehen, schlug im Gsell-Fels nach, orientierte sich genau und hob schließlich ihr kurzstieliges, goldgefaßtes Lorgnon an die Augen, um sich mit geradezu bewunderungswürdiger Aufmerksamkeit in die Betrachtung jedes fein ausgehauenen Ornaments zu vertiefen. Und doch – trotzdem ihre Gesundheit so robust erschien als je, sie mehr Strapazen aushielt als ihre Enkelin und ihr Appetit nichts zu wünschen übrigließ, hatte sich eine Veränderung an ihr vollzogen.
Ihr ausgezeichnetes Gedächtnis wurde lückenhaft, und ihre sonst ausschließlich auf die höchsten und ernstesten Dinge gerichteten Interessen wendeten sich jetzt mitunter den kleinlichsten Dingen zu. Sie hatte Vergnügen am Klatsch, ließ sich von Marianne die ganze venezianische Chronique scandaleuse berichten, wie dieselbe an der Kuriertafel zur Sprache kam, und – traurigstes sowie untrüglichstes Zeichen des Verfalls – die feineren Schattierungen des Anstandsgefühls waren ihr verlorengegangen.
Sie erzählte jetzt Erika mit unbeschreiblichem Gleichmut die haarsträubendsten Dinge, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie sehr derartige Enthüllungen der menschlichen Schwäche oder Lasterhaftigkeit das junge Mädchen, überreizt, wie es damals war, quälen mußten.
Ihr graute vor nichts mehr. Menschenhaß und Menschenliebe waren bei ihr gleichermaßen abgestumpft unter dem Einfluß einer die ganze Menschheit erniedrigenden Nachsicht, die sie ihre philosophische Weltanschauung nannte.
Daß Erika die Wangen brannten, wenn sie ihr plötzlich die vor der Welt oberflächlich versteckte heimliche Sünde einer Frau aufdeckte, mit der sie den Tag zuvor in Gesellschaft beisammen gewesen war; daß Erika, während sie ihr ruhig eine Reihe von Entschuldigungsgründen für den Fehltritt der jungen Frau aufzählte, das Fieber schüttelte, merkte sie einfach nicht, begriff überhaupt nicht, daß ihre Berichte dem jungen Mädchen unangenehm sein könnten. Aber Erika ließ sich ihre Plaudereien nicht immer ruhig gefallen und schnitt ihr bisweilen schroff die Rede ab, behauptete, dem, was sie ihr mitgeteilt hatte, keinen Glauben zu schenken.
Hierauf aber erwiderte die alte Frau ganz unbefangen: »Ich begreife wahrlich nicht, warum du dich so ereiferst. Bereitest du dich auch vor, das Kapilawastusystem der großen Welt durchzuführen und die Wahrheit vor die Tür zu sperren? Die Menschen sind einmal so – du wirst sie nicht anders machen dadurch, daß du zu ihren Fehlern die Augen schließest.«
Hierauf Erika mit düster verzogenen Brauen und vernichtender Betonung: »Und wenn sie wirklich so sind, dann begreife ich nicht, wie du so viel und gern mit einer Menschheit verkehrst, die du so namenlos verachtest!«
»Verachtest ...! erwiderte die alte Frau, den Kopf schüttelnd. »Ich verachte niemanden. Wer das von seiner tierischen Natur so stark belastete Wesen der Menschheit genau kennt, der wird sich darüber nicht verwundern, daß sie oft unter der Bürde zusammensinkt – nein, staunen wird er darüber, wie oft sich die Menschheit aus dem Schlamm von neuem aufrafft, und staunend wird er sie achten trotz allem!«
Erika wiederholte nur zornig das Wort: »Achten ... achten!«
Es wollte sie bedünken, als ob ihrer Großmutter Art, die Menschheit zu achten, eine sehr eigentümliche sei.
Neben den Lenzdorffs gab es noch verschiedentliche Leute, die sich's bequem machten und gleich ihnen den Winter im Hotel verlebten.
Eine österreichische Familie: Vater, Mutter und Tochter. Der Vater ein zurückgetretener Diplomat, schwer krankend an einem Verbesserungsplan der österreichischen Politik, den er seit zwanzig Jahren in sich trug und nicht hatte anbringen können – alle drei sehr bigott und sich etwas fernhaltend von Erika und ihrer Großmutter; dann ein Graf Hans Treurenberg, ebenfalls ein österreichischer Kavalier, aber von ganz anderer Eigenart als der bigotte und verbitterte Graf Rhödern, vornehm, leichtsinnig, selbstsüchtig und voll heiterer Liebenswürdigkeit; dazu ein brustkranker Pole, der hoch spielte, und ein Wiener Bankier mit aristokratischen Velleitäten, der nach Venedig übergesiedelt war, weil die erste Gesellschaft dort für zugänglicher gilt als anderen Orts; schließlich noch verschiedentliche Lungensüchtige, die sich von einem unermüdlich hoffnungsreichen Arzt Heilung versprechen ließen.
Mit sehr vielen der Fremden standen die Lenzdorffs auf dem Grüßfuß, in direktem Verkehr standen sie nur mit dem alten Grafen Treurenberg, den die Gräfin Lenzdorff vielleicht nur deshalb sofort innig ins Herz geschlossen hatte, weil er ihr geistreiche Randglossen machen half zu den ihr von Marianne gelieferten skandalösen Mitteilungen.
Später machten sie noch eine Bekanntschaft im Hotel.
Da es ihnen zu umständlich war, sich auf ihrem Zimmer servieren zu lassen, so speisten sie zumeist nach der Table d'hote in dem großen Speisesaal an einem kleinen Tisch. Lange Zeit waren sie um die Stunde die einzigen in dem öden Raum.
Eines Abends aber merkten sie, daß ein zweiter Tisch unweit des ihren gedeckt worden war.
Sie hatten kaum die Suppe genossen, als ein ziemlich auffälliges Ehepaar eintrat: ein kahlköpfiger, kurzer, breiter Mann mit einer sehr roten Nase, dicken, glattrasierten Lippen zwischen einem rötlich grauen Vollbart – neben ihm eine Frau, blond, blaß, schlank wie eine Lilie und mit etwas schwermütig Anziehendem in ihrem schmalen, zartgeschnittenen Gesichtchen.
Sie erweckte bei Erika das lebhafteste Interesse. Nach Verlauf des Diners trat sie sofort neugierig an den Kasten, der, in dem Vorsaal hängend, das Namenverzeichnis der Hotelgäste enthielt. Zwischen verschiedenen anderen neuen Kärtchen erblickte sie eines mit den Namen Graf und Gräfin Rheinsberg.
Den nächsten Tag, als Großmutter und Enkelin, jede aus einer anderen Richtung, von ihren Spaziergängen nach Hause kamen, erzählte Erika mit einer erfreuten Lebhaftigkeit, die jetzt recht selten an ihr zu bemerken war, daß sie soeben die Bekanntschaft der Gräfin Rheinsberg gemacht. »Sie will uns heute ihren Besuch abstatten,« fügte sie hinzu; »ich freue mich sehr, mir ist's, als ob ich eine Freundin an ihr gewinnen sollte.«
Die alte Gräfin sah ihr bei diesen Worten aufmerksam ins Gesicht und blieb ein Weilchen stumm; endlich bemerkte sie: »Ich glaube kaum, daß das ein Verkehr für dich wäre.«
»Warum?«
Die Großmutter zuckte die Achseln, dann setzte sie hinzu: »Ich traue dem Landfrieden nicht.«
Wütend biß sich Erika in die Lippen und kehrte sich von der Großmutter ab.
Die Gräfin Rheinsberg hatte ihren Besuch gemacht, die Lenzdorffs hatten ihn erwidert, aber das große Vergnügen, das sich Erika von dieser Bekanntschaft versprochen hatte, war im Keime erstickt worden.
Am vierten Tag lag ein drittes Kuvert auf dem Tisch der Rheinsbergs.
Ein junger Mann trat mit ihnen ein, groß, etwas engbrüstig, mit weichen, hübschen Zügen und sehr glänzenden dunklen Augen. Rheinsberg stellte ihn den Lenzdorffs vor: »Baron Gladnjk, ein Vetter meiner Frau.«
Den Tag wendete sich Rheinsberg mehrmals zu Erika und ihrer Großmutter herüber, die Gräfin nicht. Sie war besser gefärbt als sonst, sah ungemein belebt aus, redete schnell, wobei es schien, als ob ihre Stimme zugleich weicher und voller geworden sei. Was sie sagte, war nicht von besonderer oder gar bedenklicher Art, dennoch beschlich Erika ein Gefühl unabweisbaren Mißbehagens.
Im Laufe des nächsten Tages, während Großmutter und Enkelin, ihren Nachmittagstee trinkend, jede ein Buch auf den Knien, in ihrem Salon saßen, erzählte die alte Frau: »Treurenberg war heute bei mir, während du bei deinen Antiquaren herumstöbertest. Er hat mich über die Situation der Rheinsbergs aufgeklärt. Die arme Frau hat den alten Rheinsberg dringender Familienrücksichten halber, natürlich ohne alle Neigung, geheiratet. Anfangs soll sie sich sehr tapfer gehalten haben trotz der berüchtigten Brutalität ihres Herrn Gemahls – aber sie ist doch ein schwacher Charakter mit einem ausgesprochenen Anschmiegungsbedürfnis. Jetzt hat sie ein Verhältnis mit dem jungen Gladnjk, in den sie schon vor ihrer Ehe verliebt gewesen sein soll.«
Die Worte waren kaum aus ihrem Munde, als Lüdecke eintrat mit der Meldung: »Frau Gräfin Rheinsberg läßt fragen, ob Exzellenz empfängt?« »Ich lasse bitten,« erwiderte die Großmutter.
Erika biß sich in die Lippen und staunte, als sie bemerkte, wie ihre Großmutter die junge Frau genau mit derselben Freundlichkeit behandelte wie immer, während sie selber sich verdrießlich im Hintergrund hielt, und zwar so auffällig, daß Gräfin Rheinsberg sich offenbar durch ihr Benehmen veranlaßt sah, ihren Besuch abzukürzen.
Als sie sich entfernt, rief die alte Gräfin, nicht ohne Verdruß zu verraten: »Ja, erkläre mir doch, Erika, was dir eingefallen ist, so bocksteif gegen die arme Person zu sein – so etwas ist doch wirklich nicht erlaubt. Ich begreife dich nicht.«
»Und ich begreife nicht, wie du eine Frau mit Freundlichkeiten überschütten kannst, nachdem du zuvor von ihr gesagt hast, was du weißt ...«
»Ach, ich bitte dich – eine Messalina ist sie darum noch lange nicht!« rief die alte Frau. »Ich kann nicht sagen, daß die Kenntnis ihrer falschen Lage meine Achtung für sie gerade erhöht, aber du lieber Gott – was geht mich das alles an, solange es ihrem Manne recht ist!«
»Nun freilich, wenn du die Moral für nichts zählst!« rief Erika sehr erregt.
»Moral...!« gab die alte Frau ungeduldig werdend zurück. »Laß mich zufrieden mit den großen Worten – es gibt keine absolute Moral; es gibt nur ein Recht des Stärkeren: das Recht der Gesellschaft!«
»So!« murmelte das junge Mädchen bitter; »so!« »Nun freilich,« fuhr die alte Gräfin gleichmütig zu philosophieren fort, »selbst die Natur ist der Gesellschaft gegenüber nur eine tributpflichtige Vasallin – zahlt sie ihren Tribut, so ist alles in der Ordnung, die Gesellschaft drückt ein Auge zu; – besteht die Natur der Gesellschaft gegenüber auf ihrem Recht, ohne den Tribut zu zahlen, nun, dann sagt die Gesellschaft: Geh in die Wildnis und genieße deine selbstgeschaffenen Freuden, ich habe ja schließlich nichts dagegen, aber zu tun haben will ich mit dir nichts mehr! Gräfin Rheinsberg hat keine Lust, in die Wildnis zu gehen. Sie heuchelt ein wenig, damit wir uns the benefits of the doubts gönnen können, d. h. sie zahlt ihren Tribut, mehr kann man eigentlich nicht verlangen.«
»Nun, jedenfalls beweist du mir, daß ein Fehltritt weiter keine Bedeutung hat, solang man sich nicht ertappen läßt!« schrie Erika fast.
»Für die Gesellschaft allerdings nicht, für das Individuum unter Umständen eine sehr große,« erklärte die Großmutter. »Ich für meinen Teil hätte es nie ertragen, darauf angewiesen zu sein, die Achtung meines Nächsten zu stehlen; etwas in meiner Erinnerung zu haben, das ich nicht öffentlich eingestehen könnte, wäre mir vorgekommen, als ob ich unter einem schönen Kleide unsaubere Wäsche trüge. Brr!« Sie schüttelte sich mit einer kleinen Gebärde des Ekels. »Aber mein Gott, das ist mir angeboren, Verdienst ist keines dabei, man ist tugendhaft zu seinem Privatpläsier, sonst ist man immer betrogen.« »Verdienst ist keines bei der Tugend,« wiederholte Erika langsam.
»Nein,« entschied die alte Gräfin, »es ist auch kein Verdienst dabei, sehr schön zu sein oder Genie zu haben – aber hübsch ist's, nur zu viel einbilden soll man sich nicht darauf, sondern die Gnade, die einem zuteil geworden ist, dankbar hinnehmen. Die Tugend ist der vornehmste sittliche Luxus, der einen wie jeder andere Luxus um so besser kleidet, je weniger man seinen Wert betont.«
»Das ist ja alles recht schön,« murmelte Erika, »aber so, wie du mir die Tugend darstellst, ist sie in vielen Fällen nichts als eine Art Quintessenz der Selbstsucht – etwas, das sich zwischen uns und die höchste, hingebendste Nächstenliebe stellt!«
»Ach, laß mich zufrieden mit deiner höchsten hingebenden Nächstenliebe!« rief die alte Gräfin. »Das ist nur ein Wort, hinter dem sich gewöhnlich Schmutz oder Verrücktheit versteckt. Du bist heute in einem so aufgeregten Zustand, daß man dir gar nichts begreiflich machen kann. Wenn du ein bißchen vernünftig wärst, so würdest du einsehen, daß – Moral hin oder her – wir vor allem anderen uns in die unserer Existenz gesteckten Grenzen fügen müssen. Die menschliche Gesellschaft ist wie ein Uhrwerk, sie geht jetzt so ziemlich gut – sie könnte gewiß besser gehen, aber endlich – sie geht. Ein Rädchen muß sich dem anderen unterordnen. Will es seine eigenen Wege einschlagen, so bringt es das ganze Uhrwerk in Unordnung. So abscheulich es klingt, wird doch die kleinliche Sünderin, die ihre Fehler vor der Welt einfach verbirgt, weniger Unheil anrichten als die heroische Sünderin, die »irgendeinem hyperidealen Zweck zu Ehren« ihre Tugend preisgibt und ihren Fehltritt vor aller Welt bekennt. Man kann einmal nicht mit dem Kopf durch die Wand rennen! Ich glaube, ich sollte dir endlich die Sache klargemacht haben!«
»Ja,« murmelte Erika, »du hast mir bewiesen, daß die Tugend manches Mal kleidsam und häufig praktisch ist; aber« – mit steigendem Affekt – »daß sie heilig ist, edel, wirklich bewunderungswürdig – das hast du mir entschieden wegbewiesen!«
»Dummheiten!« rief jetzt die Großmutter und verlor völlig die Geduld. »Laß mich zufrieden! Kremple dir die Welt um, wenn du's zustande bringst und sie dir so, wie sie ist, nicht recht ist. Ich kann's nicht für dich besorgen. Du bist seit einiger Zeit unausstehlich. Ach, wenn du nur mit Goswyn verheiratet wärst, da würdest du dir gar keine solche Spinnen in den Kopf setzen!«
Bald nachher stand Erika auf und verließ das Zimmer. Als sich die Großmutter etwas später an die Tür des Schlafstübchens ihrer Enkelin heranschlich, war ihr's, als höre sie dieselbe schluchzen.