Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

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Den nächsten Vormittag wanderte Erika rastlos in der großen, niedrigen Putzstube auf und ab, über die gelblackierte Diele, von dem Glasschrank, in dessen Fächern zeitgeschwärzte, zuckerne Osterlämmer mit den silbernen Eßbestecken der Frau Bäckermeister Strümpfel einträchtig beisammen hausten, bis zu dem Gummibaum, welchen noch kürzlich die böse Fee als ihren Lieblingskammerherrn angegrinst hatte. Sie war allein zu Hause. Lord Langley hatte seinen Besuch für den Vormittag angekündigt, und die Gräfin Lenzdorff war ausgegangen, um dem Wiedersehen des Brautpaares nicht beiwohnen zu müssen. Jede Fingerspitze des jungen Mädchens pochte, und die Augen brannten ihr aus dem Kopfe heraus, ihr Körper war schwer und wund, als ob sie von einer großen Höhe herabgestürzt wäre. Mit atemloser Spannung horchte sie hinaus, seit einer Stunde schon. Würde Goswyn kommen, ehe Lord Langley eintraf? Würde sie einen Augenblick finden, sich mit ihm auszusprechen? Ach, wie ihr danach verlangte! Sie wollte ihm klarmachen ... Endlich schallte ein Schritt über die Treppe – am Ende war's Lord Langley. Nein – nein! Lord Langley ging weder so schnell und leicht, noch auch ächzte die Treppe so schwer unter seiner Last. Das war Goswyn – sie hörte, wie er draußen mit Lüdecke ein paar Worte wechselte. Lüdecke weihte ihn mit seiner wichtigtuerischen Redseligkeit, über die Erika sonst so oft gelacht und für die sie ihn heute hätte erwürgen mögen, in die Situation ein, teilte ihm mit, daß Ihre Exzellenz ausgegangen, die Komtesse aber zu Hause verblieben sei, um den Besuch Lord Langleys zu erwarten.

Erika horchte an der Tür, hörte Goswyns eiskalte, fremde Stimme sagen: »In dem Fall will ich nicht stören, melden Sie der Komtesse ...«

Da aber hielt sie's nicht länger aus, sie riß die Tür auf und rief:

»Goswyn!«

»Gräfin!« Er verbeugte sich sehr förmlich.

»Kommen Sie doch einen Augenblick zu mir herein, ich bitte Sie!« flehte sie, indem sie dabei unwillkürlich die Hände faltete. Darauf blieb ihm natürlich nichts übrig, als einzutreten.

Nun standen sie einander gegenüber, er und sie – sie an allen Gliedern zitternd, er steif und starr, wie sie ihn noch nie gesehen. Er hielt ein kleines Päckchen in der Hand.

»Da, Gräfin,« sagte er, »ich bin davon überzeugt, daß das alle Briefe sind, welche dieser Herr von Strachinsky von Ihrer Frau Mutter je empfangen hat – einige der Episteln, die er zur Auferbauung meiner liebenswürdigen Tante coram publico vorgelesen, waren freie Kompositionen aus seiner eigenen Feder. Doch können Sie beruhigt sein. Solange ich auf dieser Welt bin, wird er in gleicher Richtung keine Indiskretion mehr begehen.« Bei diesen Worten trat ein solcher Ausdruck heftiger Entschlossenheit auf sein Gesicht, daß Erika es erriet, welche Mittel er angewendet haben mußte, um den Strachinsky einzuschüchtern.

Ein Gefühl warmer, überwältigender Dankbarkeit überkam sie, aber es war etwas so Abweisendes in seiner Haltung, daß sie, weit davon, sich irgendeiner Überschwenglichkeit schuldig zu machen, zitternd vor ihm stand und nicht einmal den gewöhnlichen Dank über die Lippen brachte. Statt dessen drehte sie das Päckchen, das er ihr übergeben, verlegen zwischen den Händen – ein kleines, schmächtiges Päckchen, das in einem Bogen Papier eingeschlagen und mit einem großmächtigen Wappen versiegelt war. Aus Verlegenheit hefteten sich ihre Augen auf dieses Wappen.

»Das Wappen des Herrn von Strachinsky,« erklärte ihr Goswyn; »bitte, bemerken Sie die Zartheit – dieselben Briefe, die er zur Auferbauung von ich weiß nicht wieviel schwatz- und klatschsüchtigen alten Damen vorgetragen, hat er mir nur versiegelt übergeben, aus Angst, ich könnte einen davon lesen.«

Erika lächelte schwach. »Es ist nicht zu verlangen, daß der Strachinsky Sie begreifen könnte,« murmelte sie. »Die Menschen beurteilen immer alles von ihrem Standpunkt aus. Sie haben mich auch nach sich beurteilt und haben mich infolgedessen höher gestellt als gut war. Setzen Sie sich doch einen Augenblick – ich bitte Sie.«

»Ich will nicht stören,« erwiderte er schroff, fast unhöflich.

»Wie sollten Sie mich denn stören, Sie stören mich nie.«

»Auch nicht, wenn Sie Ihren Verlobten erwarten?« Er blickte ihr gerade ins Gesicht.

Sie wurde feuerrot; das dringende Bedürfnis, seine Achtung wiederzuerringen, quälte sie.

»Sie fassen die Situation falsch auf,« rief sie, »es handelt sich ja nicht um eine sentimentale Backfischverlobung! Ich... ich ...« und dabei stieß sie eine kurze, nervöse Lache aus, vor der sie selbst erschrak – »ich heirate ja Lord Langley nicht aus Liebe.«

Eine Pause folgte – Goswyn hielt den Kopf gesenkt; dann, ihn plötzlich hebend und Erika in einer geraden, kein Wegblicken zulassenden Weise in die Augen schauend, die ihr sehr unbequem war, sagte er: »Das erriet ich – aber weshalb heiraten Sie ihn denn? Sie, ein junges, hochbegabtes reines Mädchen einen alten Mann, der eine Vergangenheit hinter sich hat wie Lord Langley? Ich weiß, daß kein Mann eines Mädchens wie Sie würdig ist – aber mein Gott, es gibt ja doch noch einen Unterschied! Warum heiraten Sie ihn – warum gerade den?«

»Warum ... warum ...?« Sie suchte sich zu sammeln und ihm eine wahrheitsgetreue Antwort zu geben – »ich heirate ihn, weil mir seine Stellung paßt, weil man verurteilt ist, in einem gewissen Alter zu heiraten, wenn man nicht seiner Umgebung zum Gespött dienen will – ich heirate ihn, weil er ein alter Mann ist, der kein wärmeres Gefühl von mir fordern wird, und weil ich mir fest vorgenommen habe, ohne Romantik in die Ehe zu gehen. Ach!« – mit einem Blick auf das arme, dünne Päckchen in ihrer Hand – »nach dem, was Sie von meinen trüben Erfahrungen wissen, sollten Sie doch begreifen, warum gerade ich nicht aus Liebe heiraten will!«

Eine lange Pause folgte – er sah sie an, wie er sie noch nie angesehen hatte, forschend, fragend. Plötzlich wurde sein Blick weicher – ein grenzenloses Mitleid sprach daraus.

»Ich begreife, daß Sie von der Liebe und der Ehe reden wie der Blinde von der Farbe,« sagte er langsam, »ich begreife, daß Sie im Begriff sind, ahnungslos ein Verbrechen an sich zu begehen, an dem man Sie verhindern sollte!«

Plötzlich brach er ab, grub die Zähne in die Lippen. Aus dem Flur tönte eine eigentümliche runde Stimme, die spezifische Stimme eines auf dem Kontinent perfektionierten alten englischen Lebemannes: »Ist die Komtesse zu Hause?«

»Was tu' ich länger hier!« rief Goswyn. Dann, ohne nur die Hand, die sie ihm entgegengestreckt, in die seine genommen zu haben, drehte er sich um und ging.

Draußen stand ein alter Herr mit grauem Zylinder und dunkelblauer, weißgetupfter Krawatte. Einen einzigen neugierigen, wütenden Blick schoß Goswyn an dem korrekten, etwas stark geröteten Profil und weißen Backenbart vorbei, dann eilte er wie besessen die Treppe hinab.

Er hatte sich nicht geirrt. Das war derselbe Engländer, den er in Monaco getroffen. Damals reiste er unter einem anderen Namen, als Mr. Steyne – natürlich mit Begleitung. Sein englisches Anstandsgefühl verbot ihm, bei solchen Anlässen seinen Titel und seine soziale Würde zu profanieren.

Das Blut tobte Goswyn in den Adern. Im Torweg begegnete er der alten Gräfin Lenzdorff. »Goswyn!" rief sie ihm entgegen, »welch unerwartetes Vergnügen! Waren Sie bei der Erika? Kehren Sie doch mit mir um! Wir pilgern dann mitsammen in die Sonne zum Mittagessen!«

»Ich danke ... bin leider verhindert!« grollte Goswyn.

»Welcher Ton und welches Gesicht! Liebes Kind« – die alte Frau legte ihm die Hand auf den Arm – »haben Sie die Absicht, jemand umzubringen? In diesem Falle würde ich Ihnen raten, wenigstens etwas mehr äußere Beherrschung an den Tag zu legen. Sie kommen sonst zu bald mit der Polizei in Konflikt.«

»Wenn ich einmal Lust haben sollte, einen Menschen umzubringen, so wird mir die Polizei dabei sehr gleichgültig sein,« schnaubte Goswyn.

»Hm! Sie sind Lord Langley begegnet!« bemerkte die alte Frau.

Er zögerte einen Augenblick, dann gestand er: »Ja«, und da ihn die alte Dame eigentümlich prüfend musterte, setzte er eilig hinzu: »Denken Sie nicht, daß mich die alte Geschichte etwa noch beeinflußt« – zornig die Stirn runzelnd – ; »mein Gott, ewig kann so etwas nicht währen, und ich habe meine Vermessenheit längst bedauert... das heißt, ich habe. eingesehen, daß ich keine Partie für Gräfin Erika bin! Ich stelle mich der Verlobung Ihrer Enkelin ganz objektiv entgegen. Aber ... ich ... ich begreife nicht, wie Sie diese Heirat zugeben können!«

»Ich begreife nicht, wie sich Erika dazu entschließen konnte,« entgegnete sehr ernst die alte Frau.

»Erika,« rief der junge Mann heftig, »Gräfin Erika! Die weiß ja nicht, was sie tut! Gott gnade ihr!«

Die alte Gräfin lächelte unwillkürlich. »Nun ja,« sagte sie, »ich sehe schon, das ganze Odium der Sache fällt auf mich. Erika ist ganz unschuldig – ganz!«

Als sie aber zu dem jungen Manne aufblickte, war sein Gesicht so bitter, so anklagend ernst, daß sie erschrak.

Um weniges später stieg sie in tiefes Nachdenken versunken die Treppe hinauf.

Als sie den Salon betrat, saß Lord Langley, kupferiger als gewöhnlich und mit etwas blödem, verdutztem Gesichtsausdruck, in einem Lehnstuhl; Erika blaß, mit aufgeregt glänzenden Augen, sehr roten Lippen und offenbar an allen Nerven vibrierend, in einem anderen; zwischen beiden auf dem Tisch lag ein Etui mit kostbar funkelndem Geschmeide. Die Gräfin merkte, daß es etwas zwischen den beiden gegeben habe, und fragte, kaum daß sie Lord Langley begrüßt, was es gewesen sei.

» Oh, nothing to speak of!« erklärte Lord Langley rasch. »Meine Königin war nur ein wenig ungnädig – auch das hat seinen Reiz. Eine zu zahme Frau ist ebenso langweilig wie ein zu frommes Pferd – beides freut einen nicht, wenn man nicht ein paar Kaprizen dabei zu überwinden hat.«

Erikas Großmutter blickte erst ihn, dann ihre Enkelin an, scharf blinzelnd, aufmerksam beobachtend, dann sagte sie trocken: »Wenn wir noch etwas zu essen bekommen wollen, müssen wir uns wohl entschließen, zur Sonne zu gehen.«

 

Aus der verschlafenen Nachmittagsstille des Städtchens regt sich hastiges, drängendes Leben.

Es ist Zeit, an das Theater zu denken. In demselben schwerfälligen, blau ausgeschlagenen Viersitzer, der sie gestern in die Ermitage befördert hat, treten die Lenzdorffs ihre Wallfahrt an; quer durch das Städtchen, wo die Käufer sich so eng aneinanderdrängen, hinüber über einen schmalen, matt hinmurmelnden Fluß.

Welche endlose Reihe von Wagen! Allerhand Wagen – vom besten Hotelwagen, der die Saison lang in Baireuth gastiert, bis zur elendesten einheimischen Droschke, deren Kutscher, sobald es bergauf geht, absteigt und mit schweißbeperltem Antlitz neben seinem Gefährt hinmarschiert.

Wie viele Koryphäen unter den Pilgern! Immer wieder macht Lord Langley, der den beiden Damen gegenübersitzt, dieselben auf einen von dem oder jenem Standpunkt aus interessanten Fremden aufmerksam, auf ein gekröntes Haupt, einen berühmten Künstler oder eine weltbekannte Schönheit; um diese Hervorragenden herum wimmelt's von ganz gewöhnlichen Menschen – Menschen aus aller Herren Ländern: elegante Amerikanerinnen in kleidsam exzentrischen Toiletten und mit irgendeinem männlichen Begleiter, der den Schick der allgemeinen Erscheinung stört und die Dienste eines Lohndieners besorgt; andere bescheidene Amerikaner, die mit kleinen Ersparnissen von einer entlegenen Farm » abroad« gereist sind, um die Merkwürdigkeiten der Alten Welt zu bestaunen; Engländer und Franzosen jeder sozialen Schattierung, kleine, halb verhungert aussehende ausländische Musiker, Gruppen von alten Jungfern zu zweien und dreien, die sich zusammengetan haben, um sich einmal im Leben Baireuth zu gönnen; sehr viele Neugierige, sehr viele Enthusiasten, alle wie von einer Magnetnadel angezogen, alle demselben Punkt zustreben.

Bergauf krümmt sich jetzt der Zug eine sich abwechselnd zwischen Wiesen und Gestrüpp schlängelnde Straße empor, rechts und links von dem Fahrweg ein Fußpfad, ebenfalls mit Menschen besät, viele davon nur müßige Bummler, die aus der Stadt herausgezogen sind, um die Fremden anzugaffen – und dort gegen den schwärzlichen Hintergrund der Fichtenwälder, aus einer sehr grünen Wiese emporragend, etwas Rotes, häßliches, etwas, das wie ein Gasometer mit einem rätselhaften Auswuchs aussieht – der Tempel der neuen Kunst!

Die Lenzdorffs gehören zu den letzten Ankömmlingen; was nach ihnen erscheint, ist bereits gehetzt und verängstigt; denn Unpünktlichkeit duldet man in Baireuth nicht.

Trompetenfanfaren rufen das Publikum ins Theater. Über eine steile, kurze Treppe treten sie in einen großen, kahlen, schmucklosen, spärlich erleuchteten Raum.

Auf ein gegebenes Zeichen nehmen alle Damen die Hüte ab. Es wird plötzlich finster – so finster, daß es eine Weile dauert, ehe man, sich an das Dunkel gewöhnend, irgend etwas unterscheidet. Dann aus dem alles verwischenden Tiefgrau taucht eine Reihe überlebensgroß aussehender Menschenköpfe vor ihnen auf, dann in rasch verkleinernder Perspektive andere Menschenköpfe, kleiner und kleiner werdend, ganz winzig in der Ferne verschwimmend, ein Meer von Menschenköpfen aus einer grauschwarzen Wolke ragend – das ist der Zuschauerraum im Wagnertheater zu Baireuth.

Toilettenglanz und dürftige Armseligkeit gleichermaßen verschleiert, jeglicher das Publikum von dem gebotenen Kunstgenuß ablenkenden Neugier und Zerstreutheit die Handhabe benommen.

Aufgeregt, wie Erika es ohnehin war, und dadurch zu besonderer Empfänglichkeit gestimmt, ging ihr schon bei dem ersten Motiv ein seltsames Zittern durch alle Nerven, und ehe der letzte Ton des Parsifal-Vorspiels verklungen war, hatte sie ein derartiger Zustand von hart an Schmerz grenzender Ekstase erfaßt, daß sie mit Mühe die Tränen zurückzuhalten vermochte.

Das ganze Leid der sündigen Menschheit klagt aus diesen Tönen – das Leid der Menschheit, deren Sehnsucht nach dem Unendlichen, Überirdischen sich immer wieder an den ihr gesteckten Grenzen wundstößt.

An der Stelle, wo die Musik am schmerzlichsten ausschrie, bei dem Motiv sündiger Weltlust, fuhr sie plötzlich zusammen; aus der Reihe vor ihr wendete sich jemand um – ein schöner, südländisch aussehender Mensch mit scharfgeschnittenen Zügen, kurzgestutztem Haar und spitz zulaufendem dunklem Vollbart; durch das graue Halblicht traf sie sein Blick, ein sonderbarer Blick, der, sozusagen an ihrem Gesicht festgewachsen, aufgeregt darin etwas zu suchen schien – ein Blick, der auf sie fast dieselbe Wirkung übte wie die Wagnersche Musik. Mit einemmal wendete eine große blonde Frau neben ihm ebenfalls den Kopf: » Voyons qu'est ce qu'il-y-a« fragte sie unzufrieden. – » Ce n'est rien – une ressemblance qui me frappe,« erwiderte er verdrießlich.

Ein paar junge italienische Musiker, die sich indessen mit großem Heroismus in dem Halbdunkel blind studierten an einer klein gedruckten Partitur, riefen ärgerlich: »St!« Und der Fremde richtete seine Augen auf die Bühne, wo der Vorhang soeben auseinander- ging.

In Erika aber erschauerte etwas schmerzlich, fast sehnsüchtig, als habe man plötzlich eine geheime Saite in ihrer Seele berührt – eine Saite, von der sie selber nie etwas geahnt bis heute. Woher kannte sie denn diese dunklen, forschenden Augen?

Das Musikdrama nahm seinen Fortgang.

Anfänglich war's fast, als ob Erikas durch das Vorspiel heraufbeschworene Begeisterung sich völlig abkühlen solle. Die Kulissen waren wie alle anderen Kulissen, sie hatte zu viel von ihnen gehört, um nicht enttäuscht zu sein; die Musik klang ihren unwissenden Ohren an vielen Stellen unzusammenhängend und verworren, ein Dickicht von schrill durcheinandertönenden Dissonanzen, aus denen freilich immer wieder musikalische Sentenzen von edler und poetischer Schönheit auftauchten.

Mit dem Eindruck, welchen das Vorspiel auf sie geübt, war die Wirkung nicht zu vergleichen. Bis endlich die Gralsszene kam. Wie großartig war das, wie edel, und mitten durch diesen heiligen Ernst hindurchklingend immer wieder derselbe seufzende, schaudernde, lockende Wehruf, und dann endlich, als die Nerven, auf das äußerste angespannt, die Intensivität der ihnen abgerungenen Empfindung kaum mehr auszuhalten vermochten, von oben niederschwebend wie kühlender Tau auf vom Sonnenbrand verdorrte Blumen, Erlösung und Läuterung versprechend, die mystische Reinheit des Knabenchors:

Durch Mitleid wissend
Der reine Tor –

»Ein zweites Mal bringt mich kein Mensch hinein – ich habe das Wundfieber in allen Nerven – man hat nicht das Recht, einen unter dem Vorwand der Kunst derartig auf die Folter zu spannen! Und dann, der Parsifal ist viel zu dick; einen Parsifal, der seiner Idee gerecht würde, hätte sich Wagner von Donatello aushauen lassen müssen!« ruft die alte Gräfin Lenzdorff, als sie nach dem Schluß des ersten Aktes das Theater verläßt.

»Mir ist die Handlung nicht recht verständlich,« gesteht Lord Langley, »die leitende Idee scheint mir unpraktisch. I must say I feel rather confused.« Dann bezeichnet er die Kundry als » a very unpleasant young woman« und fragt Erika, ob sie seiner Meinung ist – aber Erika zuckt nur mit den Achseln und antwortet nicht.

»Sie ist heute sehr ungnädig,« bemerkte Lord Langley verlegen lachend. »Soll ich ihr das übelnehmen, Gräfin? Dies zu der Großmutter. »Nein, sie ist zu schön, als daß man ihr irgend etwas übelnehmen könnte! Sehen Sie nur – why she is creating quite a sensation – die Leute starren sich blind nach Ihnen, Erika!«

Das Theater ist leer, alles eilt über den vertretenen Rasenplatz dem Restaurant zu, um sich von den überstandenen Strapazen zu erholen.

Knapp hinter den Lenzdorffs geht die russische Fürstin B..., die einen ganzen Trakt in einem Hotel für jede Saison mietet und jede Vorstellung am Arme ihres Arztes besucht. Sie ist in gestickten weißen Musselin gekleidet mit Schmachtlocken über den Schultern, von der breiten Krempe ihres weißen Strohhutes weht ein Brüsseler Spitzenschleier über ihrem schön gewesenen Gesicht.

Sie begrüßt die Gräfin mit der Frage: Êtes- vous touchée de la grâce, ma chère Anna Die alte Gräfin schüttelt energisch den Kopf. »Nein,« sagt sie, »die Musik war mir zu sehr gewürzt und gepfeffert. Ich bin ganz durstig davon, ich sehne mich nach einem Trunk prosaischen Bieres und einer Portion Mozart.«

Die Russin lächelt und beginnt sofort zu erzählen, wie sie den Mut gehabt habe, Gounod zurechtzuweisen, als er es einmal gewagt, etwas Abfälliges über Wagner zu äußern.

Wagnerschwärmerinnen zählen einander gegenseitig vor, der wievielten Aufführung von Parsifal eine jede von ihnen heute beiwohnt, dann tauschen sie ihre gegenseitigen Meinungen aus über den Grundgedanken der Dichtung, jede fest davon überzeugt, daß sie allein die innersten Absichten des Tondichters erfaßt hat. Die Engländerinnen mit den Matrosenhüten und zerknitterten weißen Kalikokleidern sagen: » Interesting – ver!« – und die Franzosen machen ihrer merkwürdigerweise ehrlichen, wenn auch im Dunkeln tappenden Begeisterung mit dem Worte Luft, das bei ihnen den höchsten Grad künstlerischen Entzückens kennzeichnet: » Mais c'est une révélation!« Und zugleich drängt alles nach der Erfrischungshalle wie eine frisch losgebundene Viehherde zur Weide.

Die Lenzdorffs und Lord Langley setzen sich an einen Tisch in der luftigen Galerie des Restaurants, um Tee zu trinken. Tisch und Tee sind, dank Lüdeckes Vorsicht, im voraus reserviert worden, weshalb sie weiter keine Schwierigkeiten haben, einen Platz zum Ausruhen zu finden. Den minder Vorsichtigen geht es in dieser Richtung schlimm – kaum einen Stuhl, kaum ein Glas Limonade, das nicht von vornherein bestellt wäre, können sie auftreiben. Unheimlich aufgeregt und mit durch die Erschütterung ihrer Nerven merkwürdig gesteigerter Eßhast sieht man sie im Inneren des Restaurants auf das Büfett zustürzen, um ein Glas Bier und ein Schinkenbrot wie die Wilden ringen.

Erika ißt nichts. Lord Langley beklagt sich über die schlechte Kost, und die alte Gräfin Lenzdorff beklagt sich über die schrille Musik.

Indem segelt ein großes, auffallendes Frauenzimmer auf den Tisch zu, an dem die drei sitzen und ein vierter Stuhl leersteht. » Vous pardonnez!« ruft sie aus, » je tombe de fatigue

Erika heftet die Augen auf sie, es ist die Begleiterin des brünetten Mannes, der sie während des Vorspiels so eigentümlich gemustert hat. Ein kaum erklärlicher Ekel bemächtigt sich ihrer, eine Aufregung, als ob etwas Unreines, Widerliches sich ihr genähert hätte, und doch wüßte sie, grenzenlos lebensunkundig wie sie ist, nicht zu sagen, was sich in ihr gegen die Fremde sträubt. Diese ist unbedingt eine schöne Erscheinung, wundervoll gewachsen und mit einem regelmäßig geschnittenen, von sorgfältig gepflegtem blondem Haar umrahmten Gesicht, das unter ihrem großen Florentiner Hut vom Nacken hinaufgedreht ist. Ein blutroter Schleier ist quer über das Gesicht gebunden. Unerfahrene Menschenkinder würden ihr kaum dreißig Jahre geben – man muß sehr vertraut mit Pariser Toilettenkünsten sein, um zu bemerken, daß ihr Gesicht bemalt ist und daß sie wenigstens vierzig zählt. Alles an ihr ist peinlich sauber, und ihre ganze Persönlichkeit strömt den spezifischen Duft jener Frauenzimmer aus, bei denen die Pflege ihres Körpers die Hauptbeschäftigung ihres Lebens bildet. Ihre Haltung ist anständig und etwas geziert.

Schon will Lord Langley ihr deutlich machen, daß ihm ihre ungebetene Annäherung im höchsten Maße mißliebig ist, als ihr Begleiter auf sie zukommt und, ihr etwas zuflüsternd, sie veranlaßt, ihren Platz zu verlassen. Sie tut es widerwillig, ärgerlich. Höflich den Hut ziehend, verlegen und mit einem rasch hingeworfenen »Sie entschuldigen!« tritt der junge Mann zurück. Man hört, wie sie ihn im Weggehen mit keifenden, häßlichen Vorwürfen überhäuft.

» Disgusting!« murmelt Lord Langley. »Wissen Sie, wer's war?« fragt er, sich an die Gräfin wendend. »Die Geliebte Lozoncyis, des jungen Malers, der seit ein paar Jahren so immenses Aufsehen macht. Ich erinnere mich ihrer aus Rom...«

Obgleich er die Worte Erikas halber leise gesprochen, hat sie dieselben doch vernommen; das Blut steigt ihr ins Gesicht.

 

Jetzt ist der Parsifal vorüber; der zweite Akt mit seiner über den ernsten Grundzug der Dichtung anmutig hingaukelnden Blumenmädchenszene, seinen grellen, unharmonischen Dekorationen und seinem wundervoll dramatischen Schluß, vorüber der letzte gefräßigste Zwischenakt und auch der dritte Aufzug mit seiner traurigsüßen Sonnenaufgangmelodie, seinem sich in hehre Sphärenmusik auflösenden Karfreitagszauber.

Die Seele noch durchklungen von leise verschwebenden Harfenarpeggien, fahren sie in das Städtchen zurück. Erika, ihre Großmutter und ihr Bräutigam, hinter ihnen das Rauschen des Waldes, rings um sie Räderrollen, Peitschenknall und der Schall unregelmäßiger Schritte von Hunderten von Fußgängern.

Über ihnen der Mond in dem weiten, stummen, unerreichbaren Himmel, die tauschweren Wiesen wundervoll versilbernd. Bis an die platte Heerstraße reicht sein Zauber nicht. Grell flimmernde Laternen leuchten hier den Mondschein hinweg, werfen arsenikgrüne Lichtflecke über den kurzen, struppigen Rasen und in die Baumkronen hinein.

Das Leben pocht in Erikas Adern heißer als sonst – ein undeutliches Ahnen von Empfindungen, die sie nie gekannt, erfüllt sie. Ihr ist, als stünde sie vor der Lösung eines großen Geheimnisses, neben dem sie ihr Leben lang gedankenlos hingewandert ist, und um das sich die Welt dreht.

An der Haustür hatte Lord Langley sich von den Damen verabschiedet – mit verliebter Zärtlichkeit den Handschuh von der Rechten seiner Braut herunterzerrend, hatte er sie mit seinen heißen, durstigen Lippen zweimal auf das Handgelenk geküßt und ihr zugeflüstert: »Ich hoffe, daß meine entzückende Erika morgen gnädiger gegen mich gestimmt sein wird.«

Die unangenehme Empfindung seines ihre Wange streifenden heißen Atems war an ihr haftengeblieben, sie konnte sich davon nicht befreien.

Während sie sich, die Dienste der Kammerjungfer ablehnend, allein auskleidete, kam ihr das Päckchen Briefe in die Hände, welches Goswyn ihr heute übergeben. Sie hatte es den ganzen Tag über bei sich getragen, ohne einen Augenblick finden zu können, die Papiere zu vernichten. Jetzt löste sie den äußeren Umschlag des Päckchens – nur um festzustellen, daß es wirklich die Briefe ihrer Mutter waren, die sie in Händen hielt. Sie erkannte die Schrift – nicht die kräftige, fast männlich feste Schrift ihrer Mutter in deren letzter Lebensperiode – nein, langgestreckte, etwas unausgeglichene Schriftzüge, wie sie Erika in alten, bis in die Backfischzeit der Verstorbenen zurückdatierenden Exzerptenbüchern gefunden. Nichts in der Welt hätte Erika dazu bewegen können, einen dieser Briefe zu lesen; sie küßte die vergilbten Blätter ein-, zweimal traurig und andächtig, dann verbrannte sie dieselben an dem Licht einer Kerze.

Ihr Herz war sehr schwer. Ein ungeheurer Durst nach Zärtlichkeit, nach Teilnahme hatte sie überkommen, zugleich fühlte sie sich wund und mutlos. Das schaudernd lockende Motiv sündiger Weltlust war ihr in der Seele hängengeblieben, und der Blick des fremden Mannes, der ihr nicht fremd war. Es schnürte ihr die Kehle zu, wenn sie des blonden Frauenzimmers gedachte; noch nie hatte etwas Derartiges ihre Existenz gestreift.

Sie legte sich nieder, aber der Schlaf blieb ihr fern.

Wie schwül es war, zum Ersticken! Zwar hatte sie das Fenster der kleinen Stube offen gelassen, aber die Luft, die von draußen zu ihr drang, war schal, unerfrischend – eine beschmutzte Luft, die mit dem Geruch von dumpfigem feuchtem Holz und der Ausdünstung irgendeines säuerlichen Gärstoffs geschwängert war.

Der Schritt eines verspäteten Nachtwandlers tönte über die Straße, aus einer Kneipe schallte Gelächter und Gesang. Da öffnete sich die Tür, die alte Gräfin trat ein, hoch und gerade wie immer, in weißem Schlafrock und spitzenumsäumtem Nachthäubchen. Sie trug einen niedrigen Leuchter in der Hand. Nachdem sie denselben auf den Nachttisch gestellt, setzte sie sich auf den Rand des Bettes, neben das junge Mädchen, das sie aus klaren, leuchtenden Augen zu mustern begann.

»Drückt dich etwas, mein Kind?« fragte sie nach einem Weilchen.

Erika wollte nein sagen, brachte aber das Wort nicht über ihre Lippen. Statt aller Antwort kehrte sie ihr Gesicht gegen die Wand.

»Was hat sich denn heute abgespielt zwischen dir und Lord Langley?« fragte die Großmutter weiter.

Erika blieb stumm.

»Sag' mir ruhig die Wahrheit,« drang die alte Frau in sie. Wegen was habt ihr euch heute vormittag gezankt?«

»Ach, es war nichts,« erwiderte Erika ungeduldig – »nur – er wollte anfangen, zärtlich mit mir zu tun, und das fand ich unnötig – für einen Mann in seinen Jahren schicken sich solche läppischen Albernheiten nicht, und dann, ich kann dergleichen nun einmal nicht ausstehen!«

Ein seltsamer Ausdruck trat auf das Gesicht der alten Frau – derselbe Ausdruck, mit dem Goswyn das junge Mädchen angesehen, ganz zuletzt, als sein Groll gegen dasselbe sich plötzlich in kopfschüttelnde Teilnahme verwandelt hatte. Sie räusperte sich ein-, zweimal, dann bemerkte sie trocken: »Wie denkst du dir eigentlich dein Zusammenleben mit Lord Langley?«

Betroffen starrte Erika sie an. »Mein Gott, ich habe mir überhaupt nicht viel Gedanken darüber gemacht! Du weißt es ja längst, daß ich nicht aus Liebe heiraten will. Deswegen habe ich einen alten Mann gewählt anstatt eines jungen, weil ich hoffte, daß er mich mit all den lästigen Zärtlichkeiten unbehelligt lassen würde. Du sagst ja immer, daß du den Großvater geheiratet hast ohne Liebe und daß es ganz gut ausgefallen ist!«

Die Großmutter schwieg. »Das war etwas anderes,« sagte sie nach einer langen Pause. »Erstens möchte ich dir so, wie du bist, immerhin einen poetischeren Lebensgefährten wünschen, als es dein Großvater war, aber item – mit den Qualen, denen du dich bei dem übertriebenen Zartgefühl, das dir nun einmal anhaftet, aussetzest, wenn du Lord Langley heiratest, mit denen sind die nüchternen Lästigkeiten meiner Ehe nicht zu vergleichen. Wenn ich für ihn nichts als eine sehr kalte Dosis Achtung empfand, so verzehrte er sich seinerseits nicht vor Liebe zu mir, was mir natürlich unbequem gewesen wäre. Bei Lord Langley ist das anders. Er ist in dich verliebt wie ein alter Narr, bei dem die Leidenschaft um so heller brennt, da er weiß, daß ihm nicht viel Zeit mehr bleibt, ihr zu frönen.«

Etwas in dem zu Tode erschreckten Gesichtsausdruck des jungen, unerfahrenen Geschöpfes mußte das Mitleid der alten Frau vermehren.

»Mein armes Kind! Ja, ich hatte keine Ahnung, wie naiv du bist. Ich hatte nie Betrachtungen darüber angestellt. Man lebt von einem Tag in den anderen neben so einem jungen Geschöpf wie du...«

Noch einmal blickte sie ihr voll ins Gesicht, dann küßte sie Erika auf beide Augen und löschte das Licht aus – und dann ... dann sagte sie ihr noch etwas ...

Als sie das Zimmer verließ, lag Erika in Tränen aufgelöst, ihr glühendes Gesicht in das Kissen vergraben, ein Bild untröstlichen Jammers da. Ihr war's, als ob man etwas in ihr totgeschlagen hätte.

Den nächsten Tag brach sie die Verlobung mit Lord Langley ab.


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