Ossip Schubin
Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre
Ossip Schubin

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Zweites Buch

In einem großen geschmackvollen, aber im Gegensatz zu der alles verdüsternden Moderichtung sehr hell gehaltenen Wohnzimmer, das auf ein kleines Vorgärtchen in der Bellevuestraße hinaussah, ging am Abend desselben Tages eine alte Frau auf und ab mit leicht gerunzelten Brauen und der Unruhe, mit der man dem Abschluß eines bestimmten Lebensabschnittes entgegensieht.

Es war, wie man es auf den ersten Blick entnehmen konnte, eine ungewöhnliche alte Frau, sehr groß, gerade wie eine Tanne. Ihre Haltung charakterisierte die Würde einer Person, welche ihren Stolz hat nie beugen, der Gesellschaft nie die Steuer der geringfügigsten Heuchelei hat entrichten, nie die Augen hat niederschlagen müssen, weder vor einem Menschen noch vor einer Erinnerung, zugleich aber die unbewußte, hinter dem Worte Unabhängigkeitsliebe versteckte Selbstsucht eines Menschenkindes, dem nie etwas zwischen seine Bequemlichkeiten gefahren ist. Auf den breiten, ihre Lebensüberzeugungen würdig und kräftig tragenden Schultern der alten Dame saß ein Kopf von erstaunlicher Schönheit – der Kopf einer alten Frau, die nie den geringsten Versuch gemacht hat, um einen Tag jünger auszusehen, als sie ist, aber edel in jeder Linie. Seltsamerweise leuchteten aus diesem antiken Statuenantlitz ein Paar große moderne Augen, Philosophenaugen, die den Menschen in die heimlichsten Falten ihres Seelenlebens hineindrangen – Augen, denen nichts entging, denen wenig heilig war und nichts unverzeihlich, weil sie die menschliche Natur hinnahmen, wie sie eben ist, ohne Unmögliches von ihr zu verlangen.

Das war Erikas Großmutter, die Gräfin Anna Lenzdorff.

Nachdem sie eine lange Weile also auf und nieder geschritten, ließ sie sich mit einem kurzen, ungeduldigen Seufzer in einen Lehnstuhl nieder, der einladend neben einem mit Büchern und einer Leselampe besetzten Tischchen stand. Sie griff nach etwas leichter Lektüre; aber eine peinliche innere Unruhe, ein Gefühl, das ihr um so unerträglicher erschien, als sie es nicht im mindesten gewohnt war, quälte sie, und sie legte den Band weg. Verdrießlich irrten ihre hellen Augen über ihre Umgebung und hefteten sich endlich auf ein großes längliches Bild, das inmitten der Hauptwand des Zimmers hing.

Die Lichtung in einem Laubwald stellte es vor, taufrisch und von sattem, tief einfallendem Sonnenlicht durchdrungen, mitten in dem Goldglanz eine sonderbare Gruppe, zwei Nymphen, die mit einem zottigen, braunen Faun schäkern. Das Bild war von Böcklin, und der Wald, der Faun sowie die weißen Leiber der Nymphen mit unvergleichlicher Meisterschaft gemalt, aber eine gewisse Verfänglichkeit konnte man dem Vorwurf nicht absprechen.

Der Gräfin Lenzdorff war es noch nie eingefallen, sich über das Bild Gedanken zu machen, sie hatte es gekauft, weil sie es schön fand, und weil schließlich eine alte Frau das Recht hatte, an ihre Wände zu hängen, was ihr gefiel, solange es ein Kunstwerk war. Heute begann sie plötzlich allerhand Betrachtungen an das Bild zu knüpfen.

Indem trat ein alter Kammerdiener mit reglementsmäßig glattrasierter Oberlippe und kurzem, borstigem Backenbart ein und meldete: »Herr von Sydow.«

»Sehr angenehm,« erwiderte die alte Dame, offenbar aufrichtig erfreut, worauf ein sehr großer, reckenhaft aussehender Dragoneroffizier mit kurzgestutztem blondem Haar und schönem, fest geschnittenem Gesicht eintrat.

»Sie kommen mir wie gerufen, Goswyn!« rief sie ihm herzlich entgegen, und dabei reichte sie ihm ihre noch immer sehr zarte Hand. Er streifte dieselbe mit den Lippen, worauf er, einer einladenden Bewegung ihrerseits Folge leistend, ihr gegenüber in dem Lichtkreis der Leselampe Platz nahm.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Gräfin?« frug er.

»Sie kennen meine kleine Galerie,« hub sie an, wobei sie sich nicht ohne Stolz in dem duftigen hellen Raume umsah.

»Ich habe mich oft an Ihren Kunstschätzen erfreut,« erwiderte der junge Offizier. Die Worte waren ein wenig schwerfällig – er war überhaupt schwerfällig, aber es lag so viel Warmherziges hinter seiner kalten, norddeutschen Steifheit, daß man ihm seine kleinen, rein äußerlichen Pedanterien leicht verzieh, ja dieselben bei näherer Bekanntschaft geradezu liebgewann.

»Wieder ein wenig Zopfstil,« gab ihm die alte Frau gutmütig zur Antwort. »Meine kleine Sammlung dankt Ihnen für die freundliche Anerkennung, aber darum handelt sich's momentan nicht. Sie kennen meinen Böcklin?«

»Ja, Gräfin.«

»Was halten Sie davon?«

Er heftete die Augen darauf. »Was soll ich davon halten – ein Meisterwerk.«

»Hm, darüber ist die Welt einig,« brummte die alte Frau verdrießlich, als nähme sie ihm den Mangel an Originalität des Ausspruchs übel; »aber ist es ein Bild, das man an der Hauptwand seines Boudoirs hängen läßt, wenn man im Begriff steht, eine siebzehnjährige Enkelin ins Haus zu nehmen? Ich bitte Sie, Goswyn, geben Sie Ihre Meinung ab.«

Von neuem heftete Goswyn von Sydow seine Augen auf das Bild. »Das kommt sehr auf die Beschaffenheit der Enkelin an,« sagte er, die Brauen ein wenig runzelnd; »wenn es sich um ein junges Mädchen handelt, das mitten in der Welt und von Jugend auf mit künstlerischen Dingen vertraut, aufgewachsen ist, würde ich sagen: ja. Wenn es sich um ein junges Mädchen handelt, das sehr einsam in einem Kloster oder auf dem Lande erzogen worden ist, so sage ich: nein!«

Die alte Frau seufzte humoristisch. »Ich hab's ja gewußt, mein Böcklin muß fort, ach ...!« Sie rang in komischer Verzweiflung die Hände. »Ich bitte Sie, Goswyn« – sie behandelte den jungen Offizier mit der herzlichen Vertraulichkeit, die eine alte Frau einem jungen Mann entgegenbringt, den sie von Kindesbeinen an neben sich hat aufwachsen sehen –, »drücken Sie auf den Knopf dort.«

Der junge Offizier, der gut im Hause bekannt zu sein schien, streckte seinen sehr langen Arm aus und drückte auf den Knopf.

Sofort erschien der Kammerdiener. »Lüdecke, rufen Sie den Friedrich und nehmen Sie mit ihm das Bild herunter von der Wand.«

»Der Friedrich ist auf die Bahn gefahren, Exzellenz,« erlaubte sich Lüdecke zu bemerken.

»Ja, richtig – es steht ja alles auf dem Kopfe, nichts im alten Geleise! Coming events cast their shadows before. Es wird jetzt immer so sein!« klagte die Gräfin.

»Ich will Ihnen helfen das Bild herunterheben, Lüdecke,« sagte Herr von Sydow ruhig, indem er aufstand und auf den Böcklin zuging.

Ehe die Gräfin Lenzdorff es sich versah, war anstatt des Böcklin nichts an der Wand als ein kahles Stück helle Cretonne mit zwei Haken darin.

Lüdeckes Kräfte genügten, das Bild aus dem Zimmer zu schaffen.

»Bringen Sie den Tee!« rief ihm die Gräfin nach. »Sie nehmen doch eine Tasse Tee mit mir, Goswyn?«

»Erwarten Sie nicht Ihre Enkelin?« fragte etwas schüchtern Sydow.

»Ach, die kommt nicht vor Mitternacht – ich weiß nicht, warum der Friedrich jetzt schon auf die Bahn hinausgerast ist, er hat vielleicht eine Liebschaft mit der Dame vom Büfett, sonst kann ich mir seine Eile nicht erklären. Übrigens danke ich Ihnen für die mir erteilte Rüge.«

»Aber, gnädigste Gräfin!« rief der junge Mann.

»Ersparen Sie sich die Entschuldigungen,« schnitt sie ihm die Rede ab; »ich nehme Ihnen nichts übel und werde Ihnen nie etwas übelnehmen, mit Ausnahme dessen, daß Sie sich's nun einmal nicht eingerichtet haben, als mein Sohn auf die Welt gekommen zu sein. Nebenbei wäre es mir ernstlich unangenehm, Ihre gute Meinung einzubüßen. Verurteilen Sie mich wirklich dafür, daß ich meiner Enkelin nicht auf den Anhalter Bahnhof entgegengefahren bin, um dort vor sämtlichen Packern und Lohnbediensteten eine effektvolle Rührszene aufzuführen? Bedenken Sie, daß das mein letzter gemütlicher Abend ist.«

»Ihr letzter gemütlicher Abend ...!« wiederholte nachdenklich Goswyn von Sydow.

»Jetzt sind Sie schon wieder unzufrieden mit mir,« klagte spöttelnd die alte Frau.

»Unzufrieden!« wiederholte er mit einem mißglückten Versuch, über das Wort zu lachen; »aufrichtig gesagt, wenn ich nicht wüßte, wie gutherzig Sie eigentlich sind, Gräfin, so wäre mir um Ihre Enkelin leid.«

Er räusperte sich ein paarmal nach diesen Worten, er wurde immer ein wenig heiser, wenn er etwas sagte, was ihm aus dem Herzen kam.

»Gutherzig – gutherzig,« murmelte die alte Frau verdrießlich; »speisen Sie mich nur nicht mit Komplimenten ab. Was ist das für ein Wort, gutherzig? Man hat schwache Nerven, wie man hohle Zähne hat, und räumt ihnen, so viel man kann, jede Gelegenheit aus dem Wege, weh zu tun. Das kleine Elend, das man sieht, lindert man, wenn es irgend angeht – natürlich, es ist einem zu unangenehm, es nicht zu lindern, aber das große Elend, von dem die Welt voll ist, das vergißt man und befindet sich wohl dabei. Sie wissen, es ist nicht meine Art, mich Illusionen betreffs der Schönheit meines Charakters hinzugeben. Ihnen ist leid um meine Enkelin ...«

Er wollte einspringen, um sie zu erinnern, daß er im Konditional gesprochen, sie aber kam ihm zuvor. »Ja, Ihnen ist leid um meine Enkelin,« entschied sie, »aber ist Ihnen denn gar nicht leid um mich?«

»Darüber müssen Sie mir erlauben mich auszusprechen, wenn ich die junge Dame kennengelernt habe.«

»Ach, das macht nicht viel dabei aus,« entgegnete ihm Gräfin Lenzdorff; »nehmen wir an, daß sie reizend ist – Doktor Herbegg sagt, sie sei reizend, ein Edelstein reinsten Wassers, braucht nichts als ein wenig Schliff, behauptet der Doktor – unter uns gesagt, glaub' ich ihm nicht recht. Er übertreibt die anziehenden Eigenschaften meiner Enkelin ein wenig, damit es mir nicht allzu schwer fallen möchte, sie zu mir zu nehmen. Er ist ein guter Mensch, aber wie zwei Drittel der Menschen, die etwas taugen« – mit einem humoristischen Seitenblick auf Sydow –, »ein wenig Pedant. Nehmen wir an, daß meine Enkelin wirklich der Phönix ist, als welchen er sie beschreibt, deswegen muß ich doch auf meine alten Tage mein angenehmes Leben umstoßen und mir die laufend läppischen Unbequemlichkeiten gefallen lassen, welche die Anwesenheit eines jungen Mädchens in meinem Hause mit sich bringen wird. Wissen Sie, wie mir zumute war, als mein unentbehrliches altes Schaf« – so pflegte die Gräfin Lenzdorff ihren Kammerdiener Lüdecke mit Vorliebe zu nennen – »den Böcklin hinausschleppte?« – sie heftete die Augen schwermütig auf die kahle Stelle an der Wand – »mir war zumute, als ob er mit dem Böcklin alle meine bequemen Lebensgewohnheiten hinaustrüge! ... Ah, der Tee ist da!«

»Schon seit einiger Zeit,« erklärte Sydow lächelnd; »ich wollte mir soeben erlauben, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß der Kessel überläuft.«

Sie bereitete den Tee mit großer Präzision. Es sah hübsch aus, wie die schöne alte Frau mit dem reizenden Silberkessel und der Teekanne aus der Rokokozeit herummanipulierte. Sie trug für diesen Abend keine Trauerschnebbe, sondern ein weißes Tüllhäubchen, unter dem Kinn zusammengeknüpft, und eine schwarze Spitzenschärpe darübergeschlungen. Welch feine Epikuräernatur verriet sich in jeder ihrer Bewegungen, in der leichten Art, wie sie die durchsichtigen chinesischen Tassen berührte, den Tee aus der mit einem silbernen Deckel versehenen geschliffenen Glasbüchse in die Kannen löffelte, wie sie leise den Duft dieses ganz besonderen Tees einatmete.

»So,« sagte sie, als sie dem jungen Offizier eine Tasse reichte, »mit meinen Lebensanschauungen mögen Sie nicht einverstanden sein, aber meinen Tee müssen Sie mir loben, er ist eigentlich viel zu gut für Sie, der Sie an der deutschen Unart leiden, ihn mit Zucker zu verderben!«

Sie hatte ihm selbst den Zucker hineingetan, wobei sie sich das genaue Quantum, das er liebte, gemerkt; sie schob ihm einen Teller mit von ihm bevorzugtem Teegebäck hin; – sie war außerordentlich liebenswürdig zu ihm, und er schätzte sie, fühlte entschieden eine herzliche Anhänglichkeit zu ihr; sie war die älteste Freundin seiner Mutter gewesen, sie hatte ihn von Jugend an verwöhnt und, wie sie es nannte, »Stücke auf ihn gehalten«, was jeden Menschen freut; er kannte ihre phrasenlose Gutmütigkeit und Wohltätigkeit genau, so daß ihn die Selbstsucht, die sie zur Schau trug und aus der sie sich eine Lebensregel gemacht, bis dahin nicht anders angemutet hatte als eine amüsante Pose. Heute aber verletzte ihn die Haltung, die sie der Ankunft ihrer Enkelin gegenüber annahm. Nicht, daß er sich von der Enkelin selbst irgendeine besondere romantische Vorstellung gemacht hätte. Er war kein unpraktischer Träumer und auch nicht das, was man sonst einen Idealisten zu nennen pflegt und was auf deutsch eigentlich nichts weiter bedeutet als einen Menschen, der es für unanständig hält, sich über irgend etwas klar zu werden oder irgendeiner Wahrheit mutig ins Auge zu schauen. Er hatte im Gegenteil eine sehr ruhige und vernünftige Art, die Dinge zu betrachten. Infolgedessen fand er es wahrscheinlich, daß das arme vernachlässigte, seit drei Jahren der zärtlichen Fürsorge eines verbauerten Stiefvaters überlassene junge Mädchen linkisch, schwerfällig und täppisch, wie es den Umständen nach ausgefallen sein mußte, nicht gut in den Hausstand der Gräfin Lenzdorff passen konnte; aber, mein Gott, das Mädchen gehörte immerhin zum Fleisch und Blut der alten Frau, ein armes Ding war's, das vor drei Jahren seine Mutter verloren und das seit der Zeit von niemand ein freundliches Wort bekommen hatte, und wenn die arme Närrin vernachlässigt und unerzogen war, wer trug denn die Schuld daran? Daß die alte Frau nichts als die Unbequemlichkeit der Situation empfand, daß nicht eine Regung des Mitleids in ihr auflebte, das überstieg sein Fassungsvermögen.

Vielleicht erriet sie, was in ihm vorging – gewöhnlich blickte sie sehr tief in die Menschen hinein, aber ihr kam es nicht darauf an, das Entsetzen derselben zu erregen. Im Gegenteil hatte gerade das einen großen Reiz für sie.

Da er eines der Bücher in die Hand genommen, die auf ihrem Lesetischchen lagen, sagte sie: »Keine Komtessenlektüre, Goswyn, aber ein gescheites, witziges Buch. Sagen Sie mir, werde ich vielleicht gezwungen sein, meiner Enkelin zu Ehren alle meine gescheiten Bücher einzuschließen und mich auf die »Kinderlaube« zu abonnieren?«

»Wollen wir annehmen, daß Ihre Enkelin nicht an der traurigen Gewohnheit leiden wird, ihr Näschen in jedes herumliegende Buch zu stecken,« bemerkte Goswyn.

»Hoffen wir,« lachte phlegmatisch die Gräfin; »übrigens, wer weiß, vielleicht mache ich mir den Kopf voll. Drei Jahre lang war sie ohne Aufsicht, da hat sie wohl bereits die ganze Bibliothek ihres gebenedeiten Stiefvaters verschlungen!«

»Aber Gräfin!«

»Was wollen Sie – solche Sachen kommen vor – denken Sie an Ihre Schwägerin Dorothee. Die erzählte mir mit der größten Selbstgefälligkeit, sie habe bereits vor ihrer Verheiratung den ganzen Zola gelesen,« warf sie hin.

»Sie hat mir dasselbe Geständnis gemacht, gleich als sie mit meinem Bruder von der Hochzeitsreise zurückkehrte, sie schien es sehr witzig zu finden,« sagte Goswyn heiser.

»Hm, hm! Die böse Fee behauptet noch immer, daß Sie in Ihre Schwägerin verliebt waren,« rief die alte Frau lustig, und sie drohte ihm mit dem Finger.

»So, ich möchte nur wissen, auf was meine Tante Brock diese Behauptung stützt,« erwiderte der junge Mann kalt.

»Nun, auf die große Abneigung, die Sie Ihrer hübschen Schwägerin gegenüber zur Schau tragen,« lachte Gräfin Lenzdorff.

»Ich trage sie durchaus nicht zur Schau,« verteidigte sich der junge Offizier.

»Aber Sie fühlen sie,« neckte ihn die alte Frau.

Goswyn von Sydow hatte sich erhoben. »Es ist schon sehr spät,« bemerkte er und griff nach seiner Mütze.

»Ich hab' Sie doch nicht verscheucht mit meinen schlechten Witzen?« rief die alte Frau.

»Nein,« erwiderte er, »wenigstens nicht auf lange; »wenn Sie erlauben, so spreche ich nächsten Herbst wieder bei Ihnen vor, gnädigste Gräfin.«

»Und bis dahin ...?«

»Werd' ich leider nicht das Vergnügen haben, ich reise morgen zu einem Vetter nach Ostpreußen zur Auerhahnjagd, bin heute nur zu Ihnen gekommen, um Abschied von Ihnen zu nehmen. Bei meiner Rückkehr dürften Sie sich kaum mehr in Berlin aufhalten.«

»So! Das tut mir leid,« sagte die alte Frau; »erstens seh' ich Sie wirklich gern von Zeit zu Zeit, obgleich Sie vorweltliche Lebensanschauungen haben und immer mit mir unzufrieden sind, und zweitens hatte ich auch gehofft, Sie würden mir ein wenig helfen, meine Enkelin zu erziehen. Freilich, wenn Sie den ganzen Zola bereits gelesen haben sollte – «

»Das wäre Ihnen ja sehr bequem, Gräfin,« neckte er die alte Frau, »dann könnten Sie ... hm! Ihren Böcklin wieder hinhängen, von wo Sie ihn soeben fortschaffen ließen.«

»Was Sie sich alles herausnehmen,« rief die Gräfin, ihm mit dem Finger drohend; »übrigens irren Sie sich – ich wäre unglücklich, wenn meine Enkelin bereits die sämtlichen Werke Zolas gelesen hätte.«

»So?«

»Natürlich – schon weil dann alle Hoffnung geschwunden wäre, daß Sie mich von dem Kind befreien.«

Er zog die Brauen in die Stirn.

»Haben Sie mich verstanden?« fragte die alte Frau munter.

»So halb und halb.«

»Leider scheinen Sie sehr wenig Heiratslust zu besitzen.«

»Ich muß gestehen, daß sie mir augenblicklich ausgegangen ist.«

»Hoffen wir, daß diese geheimnisvolle Erika nett genug sein wird, um – «

Sie stockte und wendete den Kopf – ein Wagen rollte durch die der vorgerückten Jahreszeit halber um diese Stunde bereits still gewordene Bellevuestraße – er hielt vor dem Hause. Die alte Frau zuckte zusammen, sie wurde sichtlich blaß, drückte die Lippen aufeinander.

Das Tor ging auf, die Bedienten rannten die Treppe hinab.

»Gute Nacht, Gräfin!« Dabei berührte Goswyn die Hand der alten Dame mit seinen Lippen und eilte fort. Auf der Treppe begegnete er einem hochaufgeschossenen Mädchen in dem unkleidsamsten Traueranzug, den er je an einem Menschenkind gesehen hatte, und mit zu kurzen Handschuhen, die ein Paar leicht gerötete Handgelenke bloß ließen. Er legte die Hand an die Mütze und grüßte tief.

Als er auf die Straße hinaustrat, trug er den Eindruck von etwas Blassem, Magerem, Unfertigem, Rührendem mit sich im Herzen fort, in dem der Keim einer großen Schönheit geborgen war.

Er konnte die Angst in den hellen, eigentümlichen Augen nicht vergessen, die aus dem schmalen, weißen Gesicht an ihm vorübergeblickt. Dann gedachte er der kaltspöttelnden, jedes Gefühl von sich abwehrenden alten Frau da oben. Er wußte, daß die roten Handgelenke und das entstellende Trauerkleid bei ihr Anstoß erregen würden. Armes Ding! dachte er bei sich.

In nachdenklicher Stimmung ging er am Rand des Tiergartens entlang. Es war überall still.

Das süße Ungestüm des Frühlings duftete aus dem Boden, aus den Bäumen, aus jedem zarten, weichen, noch nicht entfalteten Blatt. Im milden Glanz zahlloser blitzender Sterne schimmerte das dünne junge Laub gespenstisch blaß, hier und da malte eine Laterne in die Dämmerung einen gelben Lichtfleck, der das Gras und die Blätter arsenikgrün färbte.

Vernünftigen Menschen begegnete man nicht, nur Liebespaaren, die sich in den lauen Schatten der Frühlingsnacht versteckten.

Der herausfordernde Rhythmus einer Tingeltangelmusik klang mitten zwischen die sehnsüchtigen Frühlingslieder hinein, die das blasse, halbfertige Laub durchrauschten. Der grelle Lärm verstimmte ihn, erinnerte ihn unangenehm an den Zynismus, mit dem sich die armen Teufel dort über die Bitterkeiten ihrer Existenz hinübertobten.

Er war jetzt weitab von seinem eigentlichen Weg, mitten im Tiergarten drin.

Immer noch Liebespaare, noch eins und noch eins.

Im übrigen alles menschenleer, alles still, hoch oben am Himmel die flimmernden Sterne und auf der Erde unten die mächtigen Bäume voll sehnsüchtig ans Licht drängenden Lebens, ein Duft von neuem Keimen und Blühen überall und dazwischen der Geruch des vom Vorjahr übriggebliebenen, langsam verfaulenden Herbstlaubes, leise Wonneschauer in den Blättern, und in der Ferne immer noch das Schmettern und Dröhnen des häßlichen, rhythmischen Tanzlärms.

Er hätte nicht zu sagen gewußt, woran es lag, aber er fühlte die große Dissonanz, die seit Jahrtausenden vergeblich nach Auflösung ringend, die Schöpfung durchdringt, heute stärker als sonst.

Da, mitten aus seinem Mißbehagen heraus, tauchte die Erinnerung an die großen ängstlichen Augen des jungen Mädchens auf.

Eine warme, dringende Teilnahme mit dem armen, schäbigen Geschöpfchen, auf das sich niemand freute, übermannte ihn. Er hätte Lust gehabt, die Kleine in seine Arme zu nehmen, um ihr die quälende Ängstlichkeit wegzustreicheln wie einem aus dem Nest gefallenen Vögelchen.


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