Daniel Paul Schreber
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Daniel Paul Schreber

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XXI. Seligkeit und Wollust in ihrer gegenseitigen Beziehung. Folgerungen aus diesem Verhältnisse für das persönliche Verhalten

Eine eigentliche Beweisführung für die Wirklichkeit der von mir behaupteten Wunder und die Wahrheit meiner religiösen Vorstellungen habe ich bisher kaum versucht. Immerhin liegt eine Fülle von Beweisgründen, abgesehen von den mehrfach erwähnten Brüllzuständen,Diese Brüllzustände gestalten sich jetzt (Februar 1901, wo diese Anmerkung nachträglich hinzugefügt ist) alltäglich früh, wenn ich beim Aufstehen das Bett verlasse, mich anziehe und wasche oder sonst (auch im Bade) den Körper entblöße, zu so tollen Szenen, daß nach meinem Dafürhalten jeder gebildete Mann, der dabei in meiner Nähe wäre, die Überzeugung gewinnen müßte, es könne bei mir nicht mit natürlichen Dingen zugehen. Leider sind zu den betreffenden Tageszeiten immer nur ungebildete Pfleger oder geisteskranke Personen in meiner Umgebung. Eine im Laufe der Zeit wiederkehrende Veränderung dieser Erscheinungen halte ich für nicht unwahrscheinlich. in meiner körperlichen Verfassung, so daß, wie ich annehme, eine Untersuchung meines Körpers auf die an demselben erkennbaren Weiblichkeitsmerkmale schon jetzt auch für andere Menschen überzeugend wirken müßte. Ich werde daher diesem Gegenstand in dem gegenwärtigen Kapitel eine besondere Besprechung widmen, der ich die der hiesigen Anstaltsdirektion hierüber bereits gemachten Mitteilungen teils auszugsweise, teils ihrem vollständigen Inhalt nach vorausschicken will.

Nachdem das Königl. Amtsgericht Dresden unter dem 13. März d.J. (1900) meine Entmündigung beschlossen hatte, habe ich unter dem 24. desselben Monats eine Vorstellung an die hiesige Anstaltsdirektion gerichtet, in welcher ich derselben einige der wesentlicheren Gesichtspunkte dargelegt habe auf welche ich die von mir zu erhebende – inzwischen wirklich erhobene – Anfechtungsklage zu stützen beabsichtige. Als Grund für die Darlegung habe ich dabei angegeben, daß die Königl. Anstaltsdirektion in dem künftigen Prozesse doch wohl noch zu einer gutachtlichen Äußerung veranlaßt werden würde und mir daher daran liegen müsse, ihr meine eigene Auffassung in betreff der Natur meiner Krankheit mitzuteilen, damit schon vor Erstattung eines neuen Gutachtens die ärztlichen Beobachtungen auf gewisse speziell von mir bezeichneten Punkte gerichtet werden könnten. Aus der erwähnten Vorstellung vom 24. März d.J. kommt hier der folgende Passus in Betracht:

»Die Absicht, andere Menschen im Wege verstandesmäßiger Darlegung von der Wahrheit meiner angeblichen »Wahnideen« und »Sinnestäuschungen« zu überzeugen, liegt mir an und für sich natürlich fern. Ich weiß wohl, daß dies wenigstens vorläufig nur in sehr beschränktem Maße möglich sein würde. Ob eine spätere, außerhalb des Bereichs aller menschlichen Erfahrung liegende Veränderung meiner körperlichen Verfassung einmal von selbst die Bestätigung bringen wird, habe ich der Zukunft überlassen. Nur das eine will ich schon jetzt erklären:

daß ich jeder Zeit bereit sein würde, meinen Körper einer beliebigen ärztlichen Untersuchung unterwerfen zu lassen, um zu konstatieren, ob nicht meine Behauptung zutrifft, daß mein ganzer Körper vom Scheitel bis zur Sohle mit Wollustnerven durchsetzt ist, wie dies sonst nur beim erwachsenen weiblichen Körper der Fall ist, während beim Mann, soviel mir wenigstens bekannt ist, Wollustnerven nur am Geschlechtsteile und in unmittelbarer Nähe desselben sich befinden.

Würde eine solche Untersuchung die Richtigkeit meiner Behauptung ergeben, und wäre gleichzeitig die ärztliche Wissenschaft zu dem Bekenntnisse genötigt, daß es ihr für eine derartige Erscheinung an einem männlichen Körper an jeder menschlich-natürlichen Erklärung mangele, so würde doch wohl meine »Wahnidee«, daß mein Körper in ausgedehntem Maße der Einwirkung göttlicher Wunder unterliege, auch weiteren Kreisen in einem wesentlich anderen Lichte erscheinen müssen.«

Dieser ersten Vorstellung habe ich unter dem 26. März d. J. eine zweite folgen lassen, die ich nachstehend im Wortlaut wiedergebe:

Im Anschlusse an meine ergebene Vorstellung vom 24. d. M. gestatte ich mir, der Königl. Anstaltsdirektion eine Bitte vorzutragen. Aus der erwähnten Vorstellung ist erkennbar, unter welchem Gesichtspunkte ich auf die Verbreitung von Wollustnerven an meinem Körper sowohl in betreff meiner religiösen Vorstellungen als in betreff meines Vorgehens gegenüber dem amtsgerichtlichen Entmündigungsbeschluß ein wesentliches Gewicht legen zu müssen glaube.

Demnach wäre es für mich von großem Interesse, in Erfahrung zubringen:

1) ob die wissenschaftliche Nervenlehre das Vorhandensein von Nerven (Wollustnerven oder sensitiven Nerven nach einem neulich aus dem Munde des Herrn Geh. Rat Dr. Weber von mir gehörten Ausdruck oder wie sonst die wissenschaftliche Bezeichnung lauten möge) anerkennt, deren besondere Funktion darin besteht, Träger des Wollustgefühls zu sein?

2) ob es richtig ist, was ich behaupte, daß derartige Wollustnerven beim Weibe am ganzen Körper, beim Manne nur am Geschlechtsteil und in dessen unmittelbarer Nähe sich befinden, ob ich also hierunter eine von der wissenschaftlichen Nervenlehre anerkannte Tatsache wiedergegeben oder etwas nach dem jetzigen Stande dieser Wissenschaft Unrichtiges behauptet habe?

Am dankbarsten würde ich für eine Form der Aufklärung sein, die entweder schriftlich oder durch leihweise Überlassung eines die Nervenlehre wissenschaftlich behandelnden Werkes, aus dem ich mir dann selbst die erforderlichen Exzerpte machen könnte, erfolgte.

In vorzüglicher Hochachtung (folgt die Unterschrift).

Auf die zweite Vorstellung ist endlich unter dem 30. März d. J. noch eine dritte gefolgt, deren Wortlaut der nachstehende ist:

Aus Anlaß meiner unter dem 26. d. M. an die Kgl. Anstaltsdirektion gerichteten Eingabe, die sog. Wollustnerven betreffend, hat Herr Geh. Rat Dr. Weber gestern abend die Güte gehabt, mir eine mündliche Unterhaltung über diesen Gegenstand zu gewähren und mir zwei der ärztlichen Bibliothek der Anstalt entnommene Bücher auf einige Zeit leihweise zu überlassen.

Ich komme auf die angeregten Fragen noch einmal zurück und zwar nicht nur um meiner persönlichen Interessen willen, sondern zugleich auch, weil ich annehme, daß die an meinem Körper zu machenden Beobachtungen vielleicht zu einer Bereicherung der Wissenschaft auf diesem Gebiete führen könnten.

Wenn ich Herrn Geh. Rat Dr. Weber richtig verstanden habe, so wird die Existenz von besonderen Nerven, die Träger des Wollustgefühls sind, von der wissenschaftlichen Nervenlehre eigentlich nicht anerkannt; ebenso trat derselbe der Auffassung entgegen, daß man derartige Nerven, wie überhaupt irgendwelche Nerven durch äußere Berührung fühlen könne. Auf der anderen Seite schien derselbe die Tatsache nicht bezweifeln zu wollen, daß die Wollustempfindung – gleichviel aus welchem physiologischen Grunde – beim Weibe in höherem Grad als beim Manne, eine den ganzen Körper ergreifende sei und daß insbesondere die Mammae in ganz besonders hervorragendem Grade an der Wollustempfindung teilnehmen. Nach meinem Dafürhalten würde diese Tatsache sich doch wohl nur in der Weise erklären lassen, daß irgendwelche Organe (mag man sie nun Sehnen, Nerven oder sonstwie nennen) vorhanden sind, die beim Weibe in höherem Grade als beim Manne den ganzen Körper bedecken. Für mich ist nun subjektiv gewiß, daß mein Körper – nach meiner wiederholt kundgegebenen Auffassung infolge göttlicher Wunder – derartige Organe in derselben Weise zeigt, wie dies sonst nur beim weiblichen Körper der Fall ist. Ich fühle, wenn ich einen leisen Druck mit der Hand an einer beliebigen Stelle meines Körpers ausübe, unter der Hautoberfläche Gebilde von faden- oder strangartiger Beschaffenheit; dieselben sind namentlich an meiner Brust, da wo beim Weibe der Busen ist, vorhanden, hier mit der Besonderheit, daß an ihren Enden zeitweise knotenartige Verdickungen wahrnehmbar werden. Durch einen auf diese Gebilde auszuübenden Druck vermag ich mir, namentlich wenn ich an etwas Weibliches denke, eine der weiblichen entsprechenden Wollustempfindungen zu verschaffen. Ich tue dies, nebenbei bemerkt, nicht etwa aus Lüsternheit, sondern bin zu gewissen Zeiten geradezu genötigt, wenn ich mir Schlaf oder Schutz vor sonst nahezu unerträglichen Schmerzen verschaffen will.

Genau dieselben faden- oder strangartigen Gebilde habe ich (nachdem meine Aufmerksamkeit einmal auf diesen Punkt gelenkt war) gelegentlich eines Besuchs am Arme meiner Schwägerin gefühlt und nehme danach an, daß sie an jedem weiblichen Körper in derselben Weise vorhanden sind.

Ich glaube auch annehmen zu dürfen, daß diese Gebilde es sind, die der weiblichen Haut die derselben eigentümliche Weichheit verschaffen, die auch an meinem Körper der Regel nach bemerkbar ist.

Hinzuzufügen habe ich noch, daß hinsichtlich der an meinem Körper hervortretenden Weiblichkeitsmerkmale eine gewisse Periodizität stattfindet und zwar neuerdings in immer mehr sich verkürzenden Zwischenräumen. Alles Weibliche wirkt nämlich anziehend auf die Gottesnerven; sobald man sich daher von mir zurückziehen will, macht man jedesmal den Versuch, die an meinem Körper hervortretenden Weiblichkeitssymptome durch Wunder zurückzudrängen; dies hat zur Folge, daß die von mir als »Wollustnerven« bezeichneten Gebilde etwas nach innen verschoben, an der Oberfläche der Haut also nicht mehr so deutlich fühlbar werden, mein Busen sich etwas verflacht usw. Wenn man dann aber nach kurzer Zeit genötigt ist, sich wieder zu nähern, so treten die »Wollustnerven« (um einmal diesen Ausdruck beizubehalten) wieder hervor, mein Busen wölbt sich wieder usw. Diese Periodizität pflegt jetzt meist schon nach Ablauf weniger Minuten hervorzutreten.

Daß ich mit der vorstehenden Darlegung neben meinen persönlichen zugleich ernste wissenschaftliche Interessen verfolge, wird die Kgl. Anstaltsdirektion nicht verkennen wollen; ich hoffe also auch gegen die Auffassung sichergestellt zu sein, daß ich mit der Aufdeckung der betreffenden, nach meiner Auffassung mit übersinnlichen Dingen zusammenhängenden Verhältnisse irgend etwas zur Sprache gebracht hätte, dessen ich mich als Mann zu schämen hätte.

In vorzüglicher Hochachtung (folgt die Unterschrift).

*

An den Inhalt der vorstehend wiedergegebenen Schriftstücke schließe ich noch einige weitere Bemerkungen an.

Ich bezweifle natürlich nicht, daß dasjenige, was mir von Herrn Geh. Rat Dr. Weber bei der im Eingang der Vorstellung vom 30. März d. J. erwähnten Unterredung mitgeteilt worden ist, dem jetzigen Stande der Wissenschaft auf dem Gebiete der Nervenkunde entspricht. Gleichwohl kann ich nicht umhin, mit derjenigen Bescheidenheit, die dem Laien in solchen Dingen geziemt, der Überzeugung Ausdruck zu geben, daß es sich bei den von mir beschriebenen an meinem Körper wahrnehmbaren faden- oder strangartigen Gebilden um Nerven handelt, daß es also doch besondere Wollustnerven gibt, deren Eigentümlichkeit darin besteht, Träger der Wollustempfindung zu sein. Bestimmend ist dabei für mich einesteils die Erwägung, daß die fraglichen Gebilde, wie ich sicher weiß, ihrer Herkunft nach weiter nichts sind als ehemalige Gottesnerven, die doch durch ihren Übergang in meinen Körper ihre Eigenschaft als Nerven kaum eingebüßt haben können, und sodann der Umstand, daß ich eben in jedem beliebigen Augenblick durch leisen Druck auf jene Gebilde die tatsächliche Wahrnehmung der dadurch angeregten Wollustempfindung machen kann. Es sei mir daher gestattet, in dem Folgenden die Bezeichnung als Wollustnerven beizubehalten.

Die Anfüllung meines Körpers mit diesen Wollustnerven infolge des unausgesetzten Zusammenströmens von Strahlen oder Gottesnerven dauert jetzt nun schon über sechs Jahre ohne jegliche Unterbrechung an. Es ist daher nicht zu verwundern, daß mein Körper in einem Grade von Wollustnerven durchsetzt ist, wie derselbe schwerlich von der gleichartigen Erscheinung bei irgendeinem weiblichen Wesen übertroffen wird. Das äußerliche Hervortreten derselben unterliegt, wie ich bereits in meiner Vorstellung vom 30. März d. J. hervorgehoben habe, einer regelmäßig wiederkehrenden Periodizität, je nachdem Gott in größere Entfernung sich zurückgezogen hat oder – in Ermangelung der Gedanken, die die Strahlen bei mir suchen müssen – genötigt ist, wieder näher zu kommen.

Zu den Zeiten der Annäherung gewährt meine Brust den Eindruck eines ziemlich voll entwickelten weiblichen Busens; diese Erscheinung kann von jedermann, der mich beobachten will, mit eigenen Augen gesehen werden. Ich bin also insoweit in der Lage, sozusagen einen Beweis durch Berufung auf Einnahme des Augenscheins anzutreten. Allerdings würde nicht eine flüchtige Beobachtung in einem gegebenen Augenblicke genügen, sondern der betreffende Beobachter müßte sich die Mühe geben, etwa zehn Minuten oder eine Viertelstunde in meiner Nähe zu verweilen. In diesem Falle würde jedermann das abwechselnde Anschwellen und Abschwellen des Busens bemerken müssen. Natürlich bleibt an den Armen und in der Herzgrube die männliche Behaarung, die bei mir übrigens nur in mäßigem Grade vorhanden ist; auch bleiben die Brustwarzen in ihrer dem männlichen Geschlechte entsprechenden geringeren Größe. Davon abgesehen aber wage ich kühn zu behaupten, daß jeder, der mich mit entblößtem oberen Teile des Rumpfes vor dem Spiegel stehen sehen würde, – zumal, wenn die Illusion durch etwas weiblichen Aufputz unterstützt wird – den unzweifelhaften Eindruck eines weiblichen Oberkörpers empfangen würde. Ich stehe auch nicht an, zu erklären, daß ich bei einem Aufenthalt außerhalb der Anstalt eine entsprechende Beobachtung zwar meinerseits nicht veranlassen, aber doch jedem Fachmann, der hierzu nicht durch bloße Neugier, sondern durch ein wissenschaftliches Interesse sich bewogen fühlen sollte, gestatten würde. Wenn ähnliches, wie ich ferner behaupte, noch niemals an einem männlichen Körper zu beobachten gewesen ist, so glaube ich damit einen Nachweis geliefert zu haben, der auch bei ernsten Männern die erheblichsten Zweifel anregen muß, ob nicht alles dasjenige, was man bei mir bisher als Sinnestäuschungen und Wahnideen angesehen hat, Wahrheit ist, ob nicht demnach mein gesamter Wunderglaube und die Darstellung, die ich zur Erklärung der auffälligen Erscheinungen an meiner Person und an meinem Körper gegeben habe, auf Wahrheit beruht.

Die durch das Vorhandensein der Wollustnerven ermöglichte Pflege der weiblichen Gefühle betrachte ich als mein Recht und in gewissem Sinne als meine Verpflichtung. Um nicht durch dieses Bekenntnis in der Achtung anderer Menschen zu verlieren, auf deren Urteil ich Wert lege, wird es einer ausführlicheren Darlegung bedürfen.

Es wird wenig Menschen geben, die in so strengen, sittlichen Grundsätzen aufgewachsen sind, wie ich, und die sich ihr ganzes Leben hindurch, namentlich auch in geschlechtlicher Beziehung, eine diesen Grundsätzen entsprechende Zurückhaltung in dem Maße auferlegt haben, wie ich es von mir behaupten darf. Nicht also eine niedere Sinnlichkeit ist es, die als Triebfeder bei mir in Betracht kommt; wäre mir eine Befriedigung meines männlichen Ehrgeizes noch möglich, so wäre mir dies natürlich ungleich lieber; auch werde ich im Verkehr mit anderen Menschen niemals von geschlechtlicher Lüsternheit etwas verspüren lassen. Sobald ich aber – wenn ich mich so ausdrücken darf – mit Gott allein bin, ist es eine Notwendigkeit für mich, mit allen erdenklichen Mitteln, sowie mit dem vollen Aufgebote meiner Verstandeskräfte, insbesondere meiner Einbildungskraft dahin zu wirken, daß die göttlichen Strahlen von mir möglichst fortwährend oder – da dies der Mensch einfach nicht kann, – wenigstens zu gewissen Tageszeiten den Eindruck eines in wollüstigen Empfindungen schwelgenden Weibes empfangen.

Auf die nahen Beziehungen, die zwischen der Wollust und der Seligkeit bestehen, habe ich schon im früheren Verlaufe dieser Arbeit wiederholt hingewiesen. Die Wollust darf als ein Stück Seligkeit aufgefaßt werden, das dem Menschen und anderen lebenden Geschöpfen gewissermaßen im voraus verliehen ist. Wie ein Seherblick, bei dem man an göttliche Eingebungen denken möchte, will es mich unter diesem Gesichtspunkt anmuten, wenn z. B. Schiller in seinem Liede an die Freude dichtet »Wollust ward dem Wurm gegeben, und der Cherub steht vor Gott«. Dabei besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied. Den Seelen ist das wollustmäßige Genießen oder die Seligkeit in beständiger Dauer und gewissermaßen als Selbstzweck, dem Menschen und anderen lebenden Geschöpfen dagegen nur als Mittel zur Erhaltung der Art verliehen. Darin liegen für den Menschen die sittlichen Schranken der Wollust. Ein Übermaß der Wollust würde den Menschen zur Erfüllung der ihm sonst obliegenden Aufgaben unfähig machen; es würde ihn verhindern, jemals zu einer höheren Stufe der geistigen und sittlichen Vervollkommnung emporzusteigen; ja die Erfahrung lehrt, daß an wollüstigen Ausschweifungen nicht nur zahlreiche einzelne Menschen, sondern selbst ganze Völker zugrunde gegangen sind. Für mich bestehen derartige sittliche Schranken der Wollust nicht mehr, sie haben sich in gewissem Sinne gerade in ihr Gegenteil verkehrt. Um nicht mißverstanden zu werden, muß ich hierbei bemerken, daß ich mit der mir sozusagen zur Pflicht gewordenen Pflege der Wollust niemals eine geschlechtliche Begehrlichkeit gegenüber anderen Menschen (Frauenspersonen) oder gar einen geschlechtlichen Umgang mit solchen meine, sondern mich selbst als Mann und Weib in einer Person, mit mir selbst den Beischlaf vollziehend, vorzustellen, mit mir selbst irgendwelche auf geschlechtliche Erregung abzielende – vielleicht sonst als unzüchtig geltende – Handlungen vorzunehmen habe usw., wobei natürlich jeder Gedanke an Onanie oder dergleichen ausgeschlossen ist.

Das letztere Verhalten aber ist mir durch das weltordnungswidrige Verhältnis, in das Gott sich zu mir gesetzt hat, geradezu notwendig geworden; ich kann insofern, so paradox es klingen mag, das Wort der Kreuzfahrer des ersten Kreuzzugs Dieu le veut (Gott will es) auf mich anwenden. Gott ist nun einmal durch die längst unbesieglich gewordene Anziehungskraft meiner Nerven unauflöslich an meine Person gebunden; jede Möglichkeit, von meinen Nerven wieder loszukommen – worauf die von Gott selbst verfolgte Politik abzielt – ist, außer etwa in dem Falle, daß es noch zu einer Entmannung kommen sollte, auf den noch übrigen Rest meines Lebens ausgeschlossen. Auf der anderen Seite verlangt Gott ein den weltordnungsmäßigen Daseinsbedingungen der Seelen entsprechendes beständiges Genießen; es ist meine Aufgabe, ihm dasselbe, soweit es unter den einmal geschaffenen weltordnungswidrigen Verhältnissen im Bereiche der Möglichkeit liegt, in der Form ausgiebigster Entwicklung der Seelenwollust zu verschaffen; soweit dabei für mich etwas von sinnlichem Genusse abfällt, bin ich berechtigt, denselben als eine kleine Entschädigung für das Übermaß der Leiden und Entbehrungen, das mir seit Jahren auferlegt ist, mitzunehmen; es liegt darin zugleich ein geringer Ausgleich für die vielfachen schmerzhaften Zustände und Widerwärtigkeiten, die ich auch jetzt noch namentlich in den Zeiten, wo die Seelenwollust zurücktritt, zu ertragen habe. Ich bin mir bewußt, daß ich damit keine sittliche Pflicht verletze, sondern einfach dasjenige tue, was unter den gegebenen regelwidrigen Umständen durch die Vernunft geboten ist; wegen des Verhältnisses zu meiner Frau insbesondere verweise ich auf das bereits in Kap. XIII Anmerkung 76 hierüber Bemerkte.

Natürlich ist es mir nicht möglich, mich den ganzen Tag oder auch nur den größten Teil desselben in wollüstigen Vorstellungen zu ergehen und meine Phantasie in dieser Richtung spielen zu lassen. Dazu wäre die menschliche Natur einfach außerstande; der Mensch ist eben nicht bloß zur Wollust geboren, und daher müßte die bloße Wollust als alleiniger Lebenszweck mir ebenso ungeheuerlich erscheinen, wie irgendwelchen anderen Menschen. Auf der anderen Seite ist eine unausgesetzte Denktätigkeit, ein durch keine Ruhepause unterbrochenes Arbeiten der Verstandesnerven, wie es mir von den Strahlen im Wege des Denkzwanges zugemutet wird, mit der Menschennatur nicht minder unverträglich. Die Kunst meiner Lebensführung in der verrückten Lebenslage, in die ich nun einmal gekommen bin – ich meine hier nicht die Verhältnisse meiner äußeren Umgebung, sondern das Widersinnige und Weltordnungswidrige der zwischen mir und Gott entstandenen Beziehungen –, besteht daher darin, einen angemessenen Mittelweg zu finden, bei dem beide Teile, Gott und Mensch, noch am leidlichsten fahren, d. h. das Eingehen der göttlichen Strahlen möglichst unter Teilnahme an der in meinem Körper vorhandenen Seelenwollust erfolgt und dadurch für sie annehmbar gemacht wird, ich dagegen neben der von Zeit zu Zeit und namentlich in den Nächten erforderlichen Ruhe meiner Verstandesnerven auch die Fähigkeit, mich in einer dem geistigen Bedürfnisse entsprechenden Weise zu beschäftigen, wenigstens in gewissen Maße behalte.

Für beide Teile geht es dabei nicht ohne unerquickliche Zustände ab, in denen jeder von ihnen zu einem seiner eigentlichen Natur widersprechenden Verhalten gezwungen ist. Seelenwollust ist eben nicht immer in voller Ausgiebigkeit vorhanden, sondern tritt in regelmäßiger Abwechslung von Zeit zu Zeit zurück, teils dadurch, daß Gott Rückzugsaktionen ins Werk setzt, teils dadurch, daß ich mir die Pflege der Wollust nicht immer angelegen sein lassen kann. Auf der andern Seite ist jede geistige Beschäftigung, die ich vornehme, und in noch höherem Maße jede Hingabe an das natürliche Recht des Nichtsdenkens (namentlich bei Spaziergängen) mit einem mehr oder minder erheblichen Opfer an körperlichem Wohlbefinden für mich verbunden. Dafür ist es mir erlaubt, in denjenigen Ruhepausen der Denktätigkeit, deren der Mensch nun einmal bedarf, also namentlich in der Nacht, um Schlaf zu erzielen, aber auch am Tage zu gewissen Zeiten, etwa nach der Hauptmahlzeit, wo das Bedürfnis einer Nachmittagsruhe hervortritt, oder am frühen Morgen nach dem Erwachen im Bette mir durch Pflege der Wollust in dem obenbezeichneten Sinne erträgliche körperliche Zustände oder selbst ein darüber hinausgehendes sinnliches Wohlbehagen zu erschaffen.

Die Richtigkeit dieser Auffassung ist mir durch eine jahrelange Erfahrung unzweifelhaft bestätigt worden; ich glaube sogar nach den gewonnenen Eindrücken die Ansicht aussprechen zu dürfen, daß Gott niemals zu einer Rückzugsaktion verschreiten würde (wodurch mein körperliches Wohlbefinden jedesmal zunächst erheblich verschlechtert wird), sondern ohne jedes Widerstreben und in dauernder Gleichmäßigkeit der Anziehung folgen würde, wenn es mir möglich wäre, immer das in geschlechtlicher Umarmung mit mir selbst daliegende Weib zu spielen, meinen Blick immer auf weibliche Wesen ruhen zu lassen, immer weibliche Bilder zu besehen usw.

Nicht unerwähnt will ich dabei lassen, daß die Richtigkeit der bezeichneten Auffassung auch von dem niederen Gotte (Ariman) ausdrücklich dadurch anerkannt worden ist, daß er seiner Zeit eine Anzahl von Redensarten, durch die mir ein entsprechendes Verhalten empfohlen wurde, in das von ihm zum Sprechen der Strahlen verwendete Aufschreibematerial aufnahm. Namentlich die Redensarten »Die Wollust ist gottesfürchtig geworden« und »Regen Sie sich nur geschlechtlich auf« wurden früher sehr häufig aus dem Munde der von dem niederen Gotte ausgehenden Stimmen gehört. Alle sittlichen Begriffe sind eben im Verhältnisse zwischen Gott und mir auf den Kopf gestellt. Sonst ist zwar die Wollust für Menschen sittlich erlaubt, soweit sie durch das Band der Ehe geheiligt und dadurch mit dem Fortpflanzungszwecke in Verbindung gesetzt ist, hat aber um ihrer selbst willen niemals als etwas besonders Verdienstliches gegolten. Im Verhältnisse zwischen Gott und mir dagegen ist die Wollust eben »gottesfürchtig« geworden, d. h. als dasjenige Mittel zu betrachten, durch welches der (entgegen der Weltordnung ) einmal geschaffene Widerstreit der Interessen noch am ehesten eine befriedigende Lösung finden kann.

Sobald ich Pausen meines Denkens eintreten lasse, ohne mich gleichzeitig der Pflege der Wollust anzunehmen – was natürlich bis zu einem gewissen Grade ganz unvermeidlich ist, da der Mensch weder fortwährend denken, noch fortwährend Wollust machen kann – ergeben sich jedesmal die bereits früher geschilderten unerquicklichen Folgen: Brüllzustände und irgendwelche körperliche Schmerzen in meiner Person; roher Lärm unter den Verrückten meiner Umgebung und »Hilfe«-rufe auf seiten Gottes. Die Vernunft erheischt daher, daß ich in demjenigen Maße, in dem dies dem Menschen überhaupt zugemutet werden kann, die Pausen meiner Denktätigkeit, mit anderen Worten die Zeiten des Ausruhens von einer geistigen Beschäftigung, möglichst durch Pflege der Wollust ausfülle.


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