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Krieg!
Wie das erste Thorerbrummen eines aufsteigenden Wetters hallt das Wort über Berg und Tal dahin, und eins wie das andere erkommt ein bissel beim Hören. Weiß eins, wie die Sache nachher ausschauen wird, wenn die Zeit vorüber? Oft eins hat niemanden, der dem Heere angehört, aber es hat Verwandte, die im Militärsverbande stehen, in einer andern Familie ist ein Bub bei den Soldaten, oder es sind gar mehrere, und in einer dritten ist der Vater noch nicht über die Zeit hinaus, da er vor dem Einrücken sicher, und der Krieg ist ein gar spaßiger Geselle. Leben und Tod stehen da Schulter an Schulter, und keinen Augenblick ist einer sicher, dass sich nicht vor ihm das Türlein auftut, durch das der Weg wohl in die Ewigkeit führt, aber nimmer zurück.
Ein eigentümlicher Druck legt sich auf jedwedes Herz und Sinnen, und von der Begeisterung, die im Siebzigerjahre im Nachbarlande geherrscht und deren letzte Wellen sogar die Grenzpfähle überschritten, ist nicht das Geringste zu verspüren. Es ist auch kein Krieg in Aussicht, an dem die Volksstimmung beteiligt, es handelt sich um kein Volks- und kein Staatsinteresse, es ist kein nationales Interesse im Spiele, es soll Krieg werden, und man weiß nicht, warum und weshalb. In der Türkei geht es wieder einmal drunter und drüber, aber was kümmert das andere Leute? Ein jeder soll selbst in seinem Hause Ordnung schaffen. Was hat Österreich dort drunten zu suchen und zu schlichten in der Türkei? Hätte man es ihm auf dem Berliner Kongresse schaffen und befehlen können, dass es sich in diese Sache mischt, wenn – es nicht selbst dieses Willens gewesen wäre?
Aber es ist nun einmal so.
Bis zum Jahre 1526 bestand das Habsburgerreich nur aus deutschen Provinzen, und in diesem Jahre kamen Böhmen und Mähren dazu und die Sucht nach fremdländischen Interessen. Während Preußen sich bestrebte, sich mit deutschen Landgebieten zu vergrößern, hat dies Österreich mit anderen Ländern getan, und es hat nie viel Nutzen dabei herausgeschaut. Da und dort mussten des Volkes Söhne ihr Blut und Leben lassen für etwas, das sie soweit gar nichts anging, bis nach Neapel hinunter wurden sie geschickt, und es hatte die Ansicht, als wollte die Politik der Habsburger das verfehlte Streben der Hohenstaufen wieder aufnehmen, bis das Jahr 1866 eine andere Richtung gab. Bismarck hat für die Größe des Deutschen Reiches und des Deutschtums im Allgemeinen Unschätzbares getan, aber von wegen Sechsundsechzig dürfen ihn die Deutschen des ehemals deutschen Österreichs nicht segnen und ihm kein Denkmal setzen. Trotz aller mitspielenden fremdländischen Interessen ist Österreich bis 1866 zentralistisch und deutsch regiert worden, und bei jeder Behörde war das Deutsche die Amts- und Geschäftssprache, aber von diesem Jahre an begann man sich auf die Slawen zu stützen und unverwandt nach Osten zu sehen.
Kann das Volk für eine verfehlte Politik?
»Hätt' ich die Sakra nicht alle erdrosseln können, wie sie zur Welt kommen sind?« greint der Kronwitterne in seiner rauen Weise, als er vom Kriege hört. »Der Sepp ist beim Militär, der Xaverl sollt' im Herbst heimkommen, und der Josel ist vor dem Einrücken auch noch nicht sicher, trotzdem er verheiratet ist und ein Waisel hinterlassen muss. Himmelvater, schick' wieder eine Sintflut und schwemm' uns all' das große Gesackert weg von der Welt!«
»Die Geprügelten sind wieder wir«, mutmaßt der Ster-Bockel. »Wir haben Italien verloren, wir haben im Sechsundsechziger Jahr unsere Schläg' bekommen, und wir werden sie auch aus der Türkei herauftragen.«
»Auf sel geb' ich einem jeden Siegel und Brief«, stimmt der alte Schober zu. »Wie haben wir uns in Italien gehalten? Ich bin drin gestanden, mir sagt es keiner. Und was hat all das genutzt? Für was sind die Opfer an Geld und Leben gewesen? Für die Katz'. Wenn wir das Lumpenlandel gleich hätten fahren lassen, wär' ein Haufen Geld erspart blieben, und soundso viel tausend Mann lebten auch noch. Jeder Mensch hätt' es merken können: das Volk und das Land gibt sich nicht; ich hab mir sel gleich denkt, wie ich die ersten Tag' dringestanden bin in der Lumperdei (Lombardei). Und wahr ist's gewesen. Sind ja ganz andere Leut': eine heimtückische Rasse und verwegen als wie nur. In Mailand hat ein altes Weib zehn Soldaten erschossen, eine Wach' von vierzig Mann ist kurzer Hand abtan worden ...«
»Aber!« zweifelt des Zacherls Inmann.
»Was wirst denn du wissen?« fährt der Schober beleidigt auf. »Hast denn du was gesehen davon? Ich bin dabei gewesen ...«
»Bei den vierzig?«
»Laustöter!« Dies ist der Ausdruck seiner tiefsten Entrüstung. »Was wird denn so ein junger Springer wissen. Wir haben es mitgemacht, wir ...«
»Vierzig Mann ...« zweifelt auch der Kronwitterne.
»Wenn ich dir sag'«, beteuert der Alte.
»Wie wär' denn sel zugangen?«
»Ganz leicht. In Italien triffst keine solchen Tanzmusikanten wie bei uns. Das ganze Jahr rührt und reibt sich nichts, aber zu Fasching – Karnevale heißen sie dieselbe Zeit – ist alles pudelnärrisch, und klein wie groß, als wie jung ist da für ein paar Tag' hellauf für den Narrenturm zeitig. Tag und Nacht geht das Gewirre fort, und durch alle Straßen werken sie und lärmen wie halt – Narren. Steht da ein Posten, als so ein Turbel daherkommt und – ist's abgemacht gewesen oder nicht – um ihn drückt und drängt, bis sich der nimmer ausparieren kann und ihm einer den Dolch in die Brust stößt. Jetzt ist's losgangen, und die andern sind nur so überrumpelt und niedergemacht worden. Hat aber Mailand schweres Geld gekostet. Durch drei Monate hat es müssen jedem Mann einen Sechser Zulag' zahlen und bei jedem Posten ein eisern Geländer aufführen lassen ... Ein Gesindel, sag' ich ... Ich bin bei Vicenca gestanden, wo sie den Oberst Kopal vom zehnten Regiment erschossen haben. Monte Bergo oder Berigo heißt so ein einschichtig Kirchel draußen, wie ... wart' nur, wo ist denn bald wieder so eins? ... wie vielleicht im Nikelsreut drüben, fast ganz auf einem steilen Hügel oben, und daneben ist der Freithof, den wir besetzt gehabt haben. Wer denkt denn an was, wenn wir die Herren des Platzes sind? Aber alle Augenblicke haben sie vom Turm heruntergeschossen, der und der ist gefallen und der Oberst Kopal auch, bis wir doch hinauf sind und die Lumpen heruntergeworfen haben. Wer ist's gewesen? Herrenzeug, Studenten oder solches Gevölk'. Und verloren haben wir nachher doch einmal. Nachher frag' ich: Wozu die Leut' opfern?«
»Ist ja im Sechsundsechziger Jahr' gerade so gewesen«, sagt der Kohler, ein wildbärtiger, untersetzter Mensch. »Ich hab' mich am Ganzen nicht auskennt, weil's dahingeht, wie wenn eine Herd' Schaf' dahingejagt wird oder eine Herd' Hasen gen die Schützen, aber eins hat mich vor den Kopf gestoßen, und wie ich's einmal kennt hab', wie es geht, bin in der Letzte nimmer gewesen, der davongerannt ist. Haben wir einmal so eine Anhöhe besetzt, aber wir müssen zurück. Gleich darauf ruckt der Preuß' auf die Anhöh'. Jetzt hat's wieder geheißen: Mit Sturm nehmen! Wie wir oben gewesen sind, haben wir wieder zurückgehen können. Und so ist's drei-, viermal gewesen auf der nämlichen Anhöh'. Da wird dir schon so, dass du auf alles pfeifst, wenn du siehst, dass es gerad' aufs Leut'hinrichten und Verspielen abgesehen ist.«´
So reden die Leute an Feierabenden, so am Kirchenwege und so an den Sonntagnachmittagen, und manche Rede fällt auch, die nicht jeder hören dürfte.
Beim Notweber aber reden sie nicht übrig viel dafür, aber beten sie jeden Morgen nach dem Essen ein Vaterunser mehr, dass der Gaberl nicht vor den Feind käme. Vielleicht tun dies die Angehörigen aller anderen Soldaten auch; wem wird's dann nachgehen?
Krieg! Hätt' man damit nicht längst noch ein Jahr oder zwei warten können, bis der Gaberl aus der blauen Kluft gekommen?
Wie kränkliche Hühner gehen sie den ganzen Tag über herum in Haus und Feld, nur die Line kann trotz ihrer Jahre den Ernst der Lage nicht recht begreifen. So viel Witz und Verstand, als sie fürs Haus und allenfalls für ein eigen Hauswesen brauchte, hat sie, was darüber hinaus liegt, ist ihr und ihren Begriffen fremd.
»Was ist denn gerad' so ein Krieg?« fragt sie die Mutter einmal, da diese hart aufseufzt.
»Was das ist? Wenn die Soldaten recht raufen mitsammen, wenn sie einer den andern erschießen und erschlagen, das ist ein Krieg«, erklärt diese, und das ist genug, um der Line Grauen einzuflößen. Nachher geht's dem Bruder am Ende auch so, wie es dem Lipp ergangen: sie erschlagen ihn.
»Er soll lieber heimgehen!« rät sie.
Ja, du mein'! Wenn da einer tun könnte, was er wollte, es würden sich nicht viele Kampflustige finden für so einen unnötigen Krieg.
Dem Christoph fällt es einmal mitten in währender Arbeit ein, dem Buben zu schreiben, und er lässt Schemmel und Weberschütze ruhen, nimmt ein Blatt Papier und schreibt, der Gaberl soll sich beizeiten krank stellen und krank melden, bis der Rummel vorüber ist, aber wie er den Brief fertig hat, fällt es ihm ein, dass er gar leicht durch einen unglücklichen Zufall in unberufene Hände kommen und des Buben Lage verschlimmern könnte. Eine Weile sinnt er vor sich hin, dann reißt er das Blatt langsam entzwei und steckt es in den Ofen. Wider solches Übel lässt sich nichts anfangen.
Er setzt sich wieder in den Webstuhl, wirft die Schütze hin und wider und schlägt Faden um Faden fest, aber seine Gedanken streifen in unbekannten Gefilden herum, in der türkischen Provinz Bosnien und bei sich gegenseitig ums Leben bringenden Heereshaufen.
In den Webstuhl ist die Kette zu einem gewürfelten Bettzeug für die Lercheckerin gespannt, und es soll für die weißen, roten und blauen Querstreifen Faden um Faden abgezählt werden, damit jeder die gehörige Breite erhalte, aber oftmals schnellt die Schütze hin und wider, und der Faden werden zu viel und müssen wieder ausgezogen werden. Geht halt so, wenn einer die Gedanken irgendwo anders hat, als wo sie sein sollten. So geht die Arbeit recht saumselig vonstatten, zumal auch keine rechte Arbeitsfreudigkeit aufkommen kann wider solches Elendsinnen, und das Blatt hätte sich so weit wieder langsam gewendet. Auf dem Dachboden oben liegen eine Menge Garnbündel, und die Leute brauchten die fertige Webe zum Bleichen, aber es will nichts von der Hand gehen ...
Inzwischen rücken die ersten österreichischen Truppen in Bosnien ein, und man ist an maßgebender Stelle der Ansicht, dass die Insurrektion mit halbwegs ein paar Mann niedergerungen werden könne. Aber die Wirklichkeit zerstört mit grausamer Hand diesen schönen Wahn. Hiobsbotschaft um Hiobsbotschaft trifft ein, die Kunde von der meuchlerischen Niedermetzelung der Husaren in Maglaj kommt, und nun entschließt man sich zu ernsten, ganzen Maßnahmen. Es wird in aller Form mobilisiert.
Truppenkörper um Truppenkörper bekommt den Befehl zum Abgehen in das der Kultur zu erschließende Land, und die Einberufungszettel der Reserven flattern bis in die entlegensten Gehöfte und Häuser hinaus.
Auch des Kronwitternen Josel kriegt seinen Zettel: Sofort einrücken!
Der Josel beißt die Zähne übereinander und ballt die Fäuste, sein Weib schreit und jammert, und der Kronwitterne gebärdet sich wie ein helliger Narr. Du sollst nicht töten, und da werden die Leute massenhaft in den Tod geschickt! Gilt das Gebot nur für den kleinen Mann? Er flucht und ruft alles Unheil herab über die an solchem Elend Schuldtragenden, sagt dies und jenes, aber was hilft und nutzt das alles?
Schweigend packt der Josel seine Sachen zusammen, und da und dort ringt sich ein tiefer, schwerer Seufzer von seiner Brust. Sieht er die Heimat und die Seinen wieder? Lacht ihm seines Buben Auge wieder einmal entgegen, und wird er dies eine jemals zu Gesichte bekommen, das erwartet wird, das die Helfrau erst ins Haus bringen soll? Was finge sein Weib an, wenn er nimmer heimkehren sollte; welche Zeiten hätten die beiden Kinder durchzumachen als Waisen, bis die auf eigenen Füßen stehen können?
Er weiß oftmals nicht, was er in die Hand nimmt und was er einpacken soll, aber als er alles in seinem Kofferchen untergebracht, das er zu brauchen vermeint, zieht er sich zum Fortgehen an.
»Bleib' gesund und ... gib mir auf die Kinder acht!« Mehr bringt er nicht heraus, als er seinem Weibe die Hand reicht zum Abschiede. Dann beginnen seine Augenlider zu blinzeln, und um seinen Mund zuckt ein eigenartig Reißen, und er wendet sich jählings ab uns hastet davon, der ungewissen Zukunft entgegen.
Und hinter ihm her gellen das Weinen und Schreien seines Weibes und das Fluchen des Kronwitternen, seines Vaters.
»O Vaterl, unser Vaterl! Jetzt geht er fort und ... lässt uns als Waisen daheim ... Brinnen und braten sollen sie in der tiefsten Höll', die den Krieg angestiftet haben, und all' das Elend soll ihnen auf die Seel' drücken wie ein glühender Kieselfelsen. Was geht uns das Rauberslandel an?«
In Steinbrunn unten trifft Josel einen Leidensgefährten, und nun sucht einer den andern zu trösten, so gut oder schlecht es geht.
In der Kaserne der Kreisstadt sammeln sich die Einberufenen wie die Schwalben im Herbste und harren ihrem Schicksal entgegen. Manche brüten dumpf und düster vor sich hin, manche klagen einander ihr und der Ihren Elend, und manche singen und jubeln, um Not und Kummer zu überschreien. Dann werden sie nach ihrer Bestimmung eingeteilt und gehen im Transportwege an ihre Truppenkörper ab.
Der Josel kommt als ehemaliger Dragoner zum Fuhrwesen.
Zwölf Tage später ist er in der Festung Brod am Sauflusse, die an Stelle des alten römischen Marsonia erbaut, und schaut ahnungsschwer hinüber ins Türkische. Wie viele von denen, die heute noch herüben sind, werden wieder herüberkommen?
Es wird eine Brücke geschlagen, und über die ziehen sie nachher ins Feindesland. Klopfenden Herzens tun sie den ersten Schritt ins Feindesland, und dann geht's dem Hauptquartier in Maglaj zu.
Ganz Bosnien ist in Aufstand und Aufruhr. Die Misserfolge der österreichischen Truppen haben die bis dahin unentschlossenen Mohammedaner ermutigt, Hadschi Loja und andere Fanatiker haben den Glaubenskrieg gepredigt, die griechisch-orthodoxen Christen sowie die angeblich ohne Verhaltensbefehle gelassenen türkischen Truppen haben sich dem Aufstande angeschlossen, und so geht es halt allerorten drunter und drüber, und im Hauptquartier von Maglaj ist kein Mann auch nur eine Viertelstunde sicher, dass er nicht aufbrechen und gegen den mit allen Mitteln kämpfenden Feind ziehen muss.
Mit Hurra und Freudengeschrei werden die Neuankommenden begrüßt, und überlings springt einer auf den Josel zu: »Grüß dich Gott, Josel! Wie geht's daheim?«
»Du bist's, Gaberl? Und bisher heil ausgekommen?«
»Bin auch erst dieser Tag' nachgerückt und bin noch nicht weiter kommen als bis daher. Alles gesund daheim?«
»Soweit schon, aber ... ein Jammer ist's und ein Elend. Ich bring' mein Weib und meinen Buben gar nicht aus dem Kopf.«
»Wer weiß, ob es recht lang' dauert«, sucht der Gaberl zu trösten. »Soundso viel Militär ist schon da, und allweil kommen neue Truppen nach. Ich mein', man könnt' das Gevölk' eh' schon durch die Übermacht erdrücken ...«
Da hallt vom andern Ende des Lagers her ein Schuss, und gleich darauf gellen Signale; aber es ist nicht viel los.
Zwei Bauern sind auf einem Karren ihres Weges gefahren, aber plötzlich ist der eine abgestiegen, hat sich hinter einen Baum gestellt und auf das Militär geschossen. Solch eine Verwegenheit! Doch so ein Kerl ist ihrer fähig.
Ein Viertelstündchen darauf zappelt er schon am Aste eines Baumes, und der Zwischenfall ist bald vergessen.
Am Abende setzen sich der Josel, der Gaberl und der Sepp, des Josels Bruder, zusammen und reden von der Heimat und von den Ihren, und mancher Gedanke schleicht sich dabei um des einen oder des andern Herz, den man nicht suchen sollte in einem »rauen« Kriegsmanne. Und als sie dann ihre Plätze aufsuchen in ihren Lagerzelten, sinnt und strubelt der Gaberl noch lange an den Reden, und sein Erinnern geht lustwandeln oben in den Gehängen, um den Schönberg herum und auf den Schüsselstein, von wo man das weite, weite Land überblickt. Ein Sehnen überkommt ihn mit einem Male und etwas, das dem Heimweh auf ein Haar ähnlich sieht, und verstohlens lugt ein einzig Mal ein seltsamer, scheuer Gedanke in sein Herzkämmerlein: Nicht so weit wenn es heim wäre, er ... Aber gleich darauf schüttelt er den Kopf und wirft sich auf die andere Seite herum und sinnt und sehnt, bis ihm endlich der Schlaf doch einmal die Lieder zudrückt.
Am andern Morgen geht's dahin. Wohin? Was weiß ein Gemeiner oder ein Korporal, wohin der Marsch geht, nur so viel ist jedem klar, dass es gegen den Feind geht, weil es die Offiziere gar so schön können mit der Mannschaft.
»Hurra!« schreien die Abziehenden. »Hurra!« schreien die im Hauptquartier Zurückbleibenden, aber manchen überrieselt es eiskalt bei dem trutzigen Rufen, wenn er sich erinnert, wie das Volk hierzulande mit den Verwundeten umspringt. Nasen- und Ohrenabschneiden, Augenausstechen und ähnliche Heldentaten sollen da gang und gäbe sein, und keiner weiß, ob ihm nicht schon in der nächsten Zukunft dasselbe Schicksal blüht.
Neben Gaberl schreitet ein allweg lustiger Gesell dahin, der noch jedweder Anstrengung eine scherzhafte Seite abzugewinnen gewusst, aber heute scheint sein Witz vertrocknet zu sein. Über seinem Gesichte liegt tiefer Ernst, und alle Augenblicke summt er ein und dasselbe Gesätzel vor sich hin, das am Ende der fortwährende Kehrreim sein mag zu seinen Gedanken:
»Vater, b'hüt Euch Gott!
Mutter, lebt recht wohl!
Dirndl, gib mir ein Schmatz,
Denn du bist mein Schatz!
Ich bin recht stolz auf dich,
Kannst du auch sein auf mich,
Du liebst ein' Jäger fein
Von Numro Neun.«
In gleichmäßigem Schritte geht er den stolprigen Weg dahin, der eine Straße genannt sein will, aber auf einmal pfeift etwas ganz verdächtig, und gleich darauf hallt ein kurzer Knall über die Truppe dahin.
Halt!
Unweit des Weges steht ein Häusel, und aus dem ist geschossen worden.
Im Sturme nimmt eine Kompagnie die elende Hütte, aber sie findet nur ein paar Kinder und ein altes und ein junges Weib. Ist dies ein ebenbürtiger Feind? Führt das Militär eines sich zivilisiert nennenden Staates Krieg gegen Weiber und Kinder? Es setzt ein paar Püffe, und dann geht es wieder weiter.
Glühender Sonnenbrand droht die Mannschaft zu entkräften, aber es geht im gleichen Schritte weiter, bis das Tal sich verengt und nacktes Felsgeklüfte links und rechts gen Himmel strebt. Jetzt sitzt die Vorsicht am ersten Platze des Rates, aber die Vorhut meldet nicht dies, nicht das. Es kann doch niemand um die Wege sein, denn die Lumpen hätten sie schon angeplänkelt, wären welche hier.
Ein Transport Verwundeter kommt ihnen entgegen, schimpft und schilt über das Lumpenpack und zieht seines Weges weiter, aber nach einer Weile schwirrt etwas durch die Luft wie ... wie eine grell surrende Fliege. Sss, sss!
Das ist Blei. Und gleich darauf knattert es im Geklüfte der Felsen.
Zeichen und Befehlsrufe schwirren durcheinander; jetzt ist der Spaß zu Ende. Das Bataillon löst sich in Schwärme, und so geht's dem Gefelse und Geklüfte zu. Einige schießen, aber wohin soll man da zielen? Das Pack liegt hinter Gestein verborgen, und keine Kugel erreicht es; da schaut's zum Verspielen her.
Vorwärts!
Und es geht allweg vorwärts. Da und dort schreit einer auf und ein anderer sinkt haltlos zusammen, und im Gefelse knattern die Schüsse, und die Kugeln pfeifen und schwirren durch die heißen Lüfte. Vorwärts!
Des Gaberls Nebenmann sinkt lautlos nieder; eine Kugel durchbohrt ihm gerade unter dem etwas zurückgeschobenen Mützenschilde den Kopf.
Da wird dem Gaberl doch anders. Man hat kein Recht, in das Land dieser Leute einzudringen, und das Volk ist in Wirklichkeit im Rechte, wenn es sich wider das Eindringen der Fremdlinge, denen es nichts in den Weg gelegt und deren Herrschaft es nicht erbeten hat, stemmt und wehrt, und der Feind ist auch ein Mensch, auf den man nicht so kaltblütig zielen soll wie auf ein Stück Vieh ... aber Wurst wider Wurst! Ein eigen Gefühl überkommt ihn, ein Gefühl und eine Stimmung, die er noch nie verspürt; es ist nicht gerade Zorn und Ärger, nicht recht dies und nicht recht jenes, es ist vielleicht die rechte Kampfesstimmung.
»Hurra!« Und vorwärts stürmt er ohne Besinnen und Bedenken, ohne mehr die oder jene Deckung zu benützen, und hinter ihm drein hasten ein paar andere und unter denen auch des Kronwitternen Sepp. Schießen ist hier sowieso nutzlos; wo trifft man einen, der hinter einem Felstrumm hockt?
Wart'! Dort sind ein paar solcher Lumpen. Hurra! Aus einer Felsspalte qualmt und wogt der graue Pulverrauch, und dort werden ein paar zu fassen sein. Aber wie sie in die Nähe kommen, torkelt der Sepp und strauchelt.
»Brüderln! Ich bitt Euch: lasst mich nicht liegen!«
So; den hat's auch schon. »Ich nimm dich ein paar Schritte vor, aber da spürt er auch schon ein Brennen an der Schulter. Auch er ist getroffen. Was geht er da noch weiter vor? Wenn ihn noch ein Schuss trifft oder wenn ihn die Unmacht übermannt, kann er sein Versprechen nimmer halten. Ein paar Augenblicke stürmen die Gedanken nur so durch seinen Kopf wie die vom Schneesturme gejagten Schneeflocken über die Hängen der Heimat, dann kehrt er sich um, wirft sein Gewehr über die Schulter und sucht den Sepp.
»Lebst noch?«
»Derweil schon noch.«
»So komm'!«
Ja, geh' einer, der nimmer gehen kann!
»Gib mir eine Kugel, die langt!« bittet der Sepp. »Gerad' dass sie mich nicht lebend erwischen.«
»Ich trag' dich hinunter«, erbietet sich der Gaberl. »Halt' dich, so viel du kannst!« Und er nimmt ihn auf den Rücken und schleppt ihn zu Tale. An ihnen stürmen die Nachrückenden vorbei, Schießen und Hurrageschrei hallt hinter ihnen, und neben ihnen jammern und fluchen die Verwundeten und stoßen Verwünschungen aus, die einem die Haare zu Berge ziehen ...
Das ist der Krieg: das ist die staatliche Befolgung des Gebotes: Du sollst nicht töten!
*
Als der Gaberl erwacht, liegt er im Feldlazarette, und neben ihm liegt der und jener, wie sie eben hergebracht worden. Eine Weile schaut und sinnt er und kann sich nicht gleich in die Lage finden, aber mählich erinnert er sich doch, was vorgefallen. Nur das weiß er nicht, wie er hierhergekommen.
»Haben wir gewonnen?« fragt er seinen Nebenmann zur Linken, der ebenfalls so vor sich hinsinnt.
»Mir scheint schon«, bejaht der. »Ausgeräuchert haben sie die Hunde wie die Fuchsen. Aus haben sie nimmer gekonnt, so haben sie sich in eine Felshöhle verkrochen, und vor dem Zugange haben die Unsern nachher ein Feuer angeschürt, bis die ganze Höhle zum Ersticken voll Rauch gewesen ist. Nachher ist das Gesindel herausgekrochen kommen. Sie ergaben sich. Was darfst ihnen nachher mehr tun? Sie werden gefangen fortgeliefert, und von uns sind soundso viel tot und ein unsinniger Haufen verwundet.«
»Wo ist der Sepp?«
»Was für ein Sepp?«
»Der Schürer ...«
»Den du zurücktragen hast?«
»Ja.«
»Der hat den letzten Schnapper schon getan; mir scheint, er liegt schon unter der Erd'.«
Ein Seufzer löst sich von des Gabriel Brust, und ein frommer Wunsch folgt dem dahingeschiedenen Jugendgespielen und Waffengefährten nach in die Ewigkeit: der Herr gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm! Ein paar Gedanken schleichen sich noch matt und lässig nach, dann senkt sich wieder der Schlaf wie leichter Märzennebel über Sinnen und Gedanken und trübt und umdüstert beides, und Traum und Einbildung gehen ihrer Wege, machen die tollsten Sprünge und spiegeln das bunteste und widersinnigste Zeug vor.
*
Um dieselbe Zeit ist's ungefähr, als der alte Schönberger nach der Messe so lange verzieht, bis er die Line, sein Enkelkind, den Heimweg antreten sieht. Er tut, als hätte er sich da oder dort verhalten und das Zusammentreffen wäre das Zufälligste auf der Welt.
»Gehst auch schon heimzu?« fragt er leichthin, wie man halt eins von ungefähr anredet.
»J-ja«, bestattet die Line und geht ihres Weges zu.
»No, no!« rät der Schönberger zum Langsamgehen. »Lass mich halt auch mitkommen! Zu zweit ist's allemal kurzweiliger zu gehen, als wenn eins so ganz allein dahinstapfen soll. Oder ... bist leicht du auch zornig auf mich?«
»Ich ... wüsst' nicht.« Und das ist wieder ihre ganze Rede. Ob die nicht noch wortkarger ist als die ganze Schönbergerrasse? Da muss schon er reden, wenn ein Gespräch zustande kommen und in Fluss erhalten werden soll. Aber was denn? Was redet einer mit so einem Dirndl, zumal wenn er ohnehin auf der Rede nicht der beste ist?
Er sinnt und sucht so lange nach einem passenden Gespräche, bis sie weit über die Hälfte des Weges zurückgelegt.
»Du ... Ja, dass ich frag': Wie geht's denn dem Gaberl?« fragt er endlich, da ihm der Bub gerade in den Sinn kommt.
»Wir wissen jetzt selbst nichts«, bescheidet die Line. »Vor einer Weil' hat er heimgeschrieben, dass sie jetzt ins Bosnien müssten ...«
»So?«
»Ja. Sind aber gerad' ein paar Zeilen gewesen, und seither haben wir nichts mehr gehört. Die Mutter flennt schier alle Tag' und ...«
»Des Kronwitternen Buben sind alle drei dort. Was kann eins tun? ... Aber hörst, ich werd' dir was sagen: Seh'! Da hast einen Zehner. Den gibst deinem Vater und sagst ihm, er soll ihn dem Gaberl schicken, dass er sich da und dort ein bissel was kaufen kann.« Er langt in seinen Geldbeutel und reicht dem Dirndl einen Papierzehner dar. »Nimm nur!« nötigt er. »Der Bub wird froh sein darum. Aber gleich müsst' Ihr ihn fortschicken.«
»Ich werd' es dem Vater sagen«, lässt sich daraufhin die Line ein und legt den Geldschein in ihr Gebetbüchel. »Aber die Mutter meint, der Gaberl lebt gar nimmer. Vor ein paar Tagen hat ihr, hör' ich, so was Scheusames träumt, und seither ist sie ganz zerwirrt.«
»Auf einen Traum kann eins nichts geben«, beruhigt der Alte. »Schickt ihm nur das Geld und ... komm' einmal aufs Heimsuchen zu mir.«
»Kann geschehen.« Und das heißt nach allgemeinen Brauch so viel als: es kann am End' sein, aber es wird halt nicht geschehen.
Dann gehen sie auseinander. Er stapft dem Schönbergerhofe und seiner Herberge zu, und die Line geht den Fußweg hinan gen ihr Vaterhaus.
Aufs Heimsuchen kommen! Wie sich der Alte auf einmal verkehrt? Sie weiß von dem Zorn und dem Trutze, der hüben und drüben gehalten und gepflegt wird, seit sie denkt, und sie ist ganz der Ansicht der Mutter. Warum sollt' eins nicht tun dürfen, wie es will? Warum braucht's da eine Feindschaft und eine Trutzerei, und warum hat der Alte dem Vetter den ganzen, großen Hof gegeben und ihrer Mutter nichts? Ein alter Lump ist er und – jetzt lädt er sie aufs Heimsuchen und gibt ihr einen Zehner für den Gaberl. Wie soll das gemeint sein?
»Das Geld trägst wieder zurück!« schafft die Mena, als das Dirndl von dem Geschenke des Alten berichtet und die Geldnote aus dem Gebetbüchel zieht. »Wir brauchen von ihm nichts.«
»Lass gehen!« rät der Christoph dawider. »Wir haben ihn nicht ankommen darum, und wir danken ihm nicht. So mein' ich. Gerad' dass mit dem Zurückschicken der Zorn wieder frisch aufgeriegelt würd' ...«
»Der soll zuerst zahlen, was ich von Rechts wegen krieg'.«
»Am End' ... wird's auch noch einmal«, hofft er schüchtern. »Wer weiß, wie ihn die Zeit verkehrt, und zu brauchen ist so ein Geld allemal.«
Wer weiß? Kunt' am End' an der Mutmaßung ein bissel was daran sein. Recht gut geht es drüben schon lange nimmer ab, und es wäre keine so große Unmöglichkeit, dass er mit der Zeit sein Unrecht einsehen lernt und sich nach und nach herbeilenkt.
»So schicken wir das Geld halt dem Buben«, gibt sie nach. »Aber Dank braucht er keinen zu erhoffen dafür. Wenn er einmal sein Unrecht einsieht und kommt, gut; aber wir kommen ihm nicht zuerst, auf sel braucht er nicht zu warten.«
Sind halt Schönbergerköpf' hüben wie drüben.
Nach dem Essen geht die Line fort zu Altersgenossinnen auf ein Pläuschchen, zu allerlei Scherz und Ausheiterung, wie es junge Dinger lieben, und die zwei Alten setzen sich zusammen, und der Christoph baut in seiner Weise schon Plan um Plan und Luftschloss um Luftschloss mit der noch mehr als zweifelhaften Hoffnung auf endliche Auszahlung des Heiratsgutes.
»Da kunnt' der Gaberl gleich auf einen der größten Höf' einheiraten, wenn er kommt«, sinnt und sagt er. »Und für uns langet' es auch noch so weit, dass es uns besser ging' als all die Zeit her.«
»Mit einem Tausender oder zweien ...« zweifelt die Mena, nicht ungern auf den Gedanken eingehend.
»Du müsstest ja mehr kriegen.«
»Braucht denn das Dirndl nichts?«
»Die müsst der Gaberl eh' zu sich nehmen. Zum Heiraten ist sie nicht.«
»Z'wegen was nicht?« ereifert sie sich. »Ich hab' über erst (anfänglich)selbst nicht gemeint, dass sie sich noch so weit bessert, aber sie taugt jetzt überall hin. An der Red' merkt man ihr nimmer viel an, und im Übrigen hat sie auch so viel Verstand, als sie braucht. Sie hat wohl nicht den Witz und die Schalkheit, wie es das junge Bursch (junges Vok) liebt, aber für das Hauswesen ist sie sorgsamer als wie manche andere, die ihr Mundwerk recht brauchen kann. Wär' keiner so unrecht daran mit ihr.«
»Nun ja«, gibt er zu, lässt aber den Gedanken allweil nicht fahren, dass der Gaberl auf einen großen Bauernhof heiraten könnt'.
Dann setzt er sich hin und schreibt dem Buben. Auf die und jene Weise käm' er zu dem Gelde, und es hätte das Hersehen, als wollt' sich ein anderer Wind heben auf der Schönberger Höhe. Er sollt' nur recht bald schreiben, wie es ihm in Bosnien erginge, denn sie sorgten sich Tag und Nacht als wie nur. Neuigkeiten? Ein bissel was sollt' doch mit hineingeschrieben werden, weil einer in der weiten Welt draußen auf alles neugierig ist, was in der Heimat vorgefallen.
»Schreib' ihm, dass sie da drüben über Ecks gekommen sind!« rät die Mena.
»Und was noch?«
»Das könntest ihm auch schreiben, dass der junge Zäuner jetzt erst sein Kopfleiden kriegt vom selben Mal, wie er beim ... Isidori, bei Geldweber«, setzt sie spöttisch hinzu, »in ein Glasl gefallen ist.«
Sonst fällt ihnen nichts mehr ein, und der Christoph schließt den Brief. Da er aber nicht weiß, wohin in Bosnien er die Anschrift richten soll, so schickt er ihn bloß an das und jenes Regiment in die Hauptstadt und fügt den Vermerk bei: Nachzusenden nach Bosnien!
»Mit dem Brief wenn ich gehen könnt!« seufzt die Mena auf, als der Christoph die Feder weglegt. »Gerad' dass ich sähe, wie es dem Buben geht. Aber ... vielleicht sehen und hören wir gar nichts mehr von ihm.«
»Sel nicht«, widerneint der Christoph. »Hören müssen wir allweil, was es ist, geht's so oder so. Wenn er fällt, müssen sie uns verständigen und ... auf diesen Brief wird er schon ein paar Zeilen schreiben, zum Wenigsten eine Karte. ...«
Draußen flirrt goldiger Sonnenschein über die mählich dem Herbste entgegen reifenden Fluren, über dunkle Wälder, fahle Weiden, gelbliche Getreide- und Stoppelfelder und über grüne Wiesen, auf denen die weißen Herbstblümlein (Euphrasia officinalis) in Mengen aus dem satten Grün lugen, und drinnen in der Stube liegt es wie eine düstere, unheilschwangere Wolke über den sorgenden und die Hoffnung gewaltsam hegenden Gemütern, eine finstere Wolke, die der Berliner Kongress über so manches Menschenherz heraufbeschworen.