Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.
Ueber die vierte Klasse der Objekte für das Subjekt und die in ihr herrschende Gestaltung des Satzes vom zureichenden Grunde.

§ 40.
Allgemeine Erklärung.

Die letzte unserer Betrachtung noch übrige Klasse der Gegenstände des Vorstellungsvermögens ist eine gar eigene, aber sehr wichtige: sie begreift für Jeden nur ein Objekt, nämlich das unmittelbare Objekt des innern Sinnes, das Subjekt des Wollens, welches für das erkennende Subjekt Objekt ist und zwar nur dem innern Sinn gegeben, daher es allein in der Zeit, nicht im Raum, erscheint, und auch da noch, wie wir sehn werden, mit einer bedeutenden Einschränkung.

§ 41.
Subjekt des Erkennens und Objekt.

Jede Erkenntniß setzt unumgänglich Subjekt und Objekt voraus. Daher ist auch das Selbstbewußtseyn nicht schlechthin einfach; sondern zerfällt, eben wie das Bewußtseyn von andern Dingen (d. i. das Anschauungsvermögen), in ein Erkanntes und ein Erkennendes. Hier tritt nun das Erkannte durchaus und ausschließlich als Wille auf.

Demnach erkennt das Subjekt sich nur als ein Wollendes, nicht aber als ein Erkennendes. Denn das vorstellende Ich, das Subjekt des Erkennens, kann, da es, als nothwendiges Korrelat aller Vorstellungen, Bedingung derselben ist, nie selbst Vorstellung oder Objekt werden; sondern von ihm gilt der schöne Ausspruch des heiligen Upanischad: Id videndum non est: omnia videt; et id audiendum non est: omnia audit; sciendum non est: omnia scit; et intelligendum non est: omnia intelligit. Praeter id, videns, et sciens, et audiens, et intelligens ens aliud non est. – Oupnekhat. Vol. I, p. 202. –

Daher also giebt es kein Erkennen des Erkennens; weil dazu erfordert würde, daß das Subjekt sich vom Erkennen trennte und nun doch das Erkennen erkennte, was unmöglich ist.

Auf den Einwand: »Ich erkenne nicht nur, sondern ich weiß doch auch, daß ich erkenne«, würde ich antworten: Dein Wissen von deinem Erkennen ist von deinem Erkennen nur im Ausdruck unterschieden. »Ich weiß, daß ich erkenne«, sagt nicht mehr, als »Ich erkenne«, und dieses, so ohne weitere Bestimmung, sagt nicht mehr, als »Ich.« Wenn dein Erkennen und dein Wissen von diesem Erkennen zweierlei sind, so versuche nur ein Mal jedes für sich allein zu haben, jetzt zu erkennen, ohne darum zu wissen, und jetzt wieder bloß vom Erkennen zu wissen, ohne daß dies Wissen zugleich das Erkennen sei. Freilich läßt sich von allem besonderen Erkennen abstrahiren und so zu dem Satz »Ich erkenne« gelangen, welches die letzte uns mögliche Abstraktion ist, aber identisch mit dem Satz »Für mich sind Objekte« und dieser identisch mit dem »Ich bin Subjekt«, welcher nicht mehr enthält als das bloße »Ich.«

Nun könnte man aber fragen, woher uns, wenn das Subjekt nicht erkannt wird, seine verschiedenen Erkenntnißkräfte, Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft, bekannt seien. – Diese sind uns nicht dadurch bekannt, daß das Erkennen Objekt für uns geworden ist, sonst würden über selbige nicht so viele widersprechende Urtheile vorhanden seyn; vielmehr sind sie erschlossen, oder richtiger: sie sind allgemeine Ausdrücke für die aufgestellten Klassen der Vorstellungen, die man zu jeder Zeit, eben in jenen Erkenntnißkräften, mehr oder weniger bestimmt unterschied. Aber sie sind mit Rücksicht auf das als Bedingung nothwendige Korrelat jener Vorstellungen, das Subjekt, von ihnen abstrahirt, verhalten sich folglich zu den Klassen der Vorstellungen gerade so, wie das Subjekt überhaupt zum Objekt überhaupt. Wie mit dem Subjekt sofort auch das Objekt gesetzt ist (da sogar das Wort sonst ohne Bedeutung ist) und auf gleiche Weise mit dem Objekt das Subjekt, und also Subjektseyn gerade so viel bedeutet, als ein Objekt haben, und Objektseyn so viel, als vom Subjekt erkannt werden: genau eben so nun ist auch mit einem auf irgend eine Weise bestimmten Objekt sofort auch das Subjekt als auf ebensolche Weise erkennend gesetzt. Insofern ist es einerlei, ob ich sage: Die Objekte haben solche und solche ihnen anhängende und eigenthümliche Bestimmungen; oder: das Subjekt erkennt auf solche und solche Weisen: einerlei, ob ich sage: die Objekte sind in solche Klassen zu theilen; oder: dem Subjekt sind solche unterschiedne Erkenntnißkräfte eigen. Auch von dieser Einsicht findet sich die Spur bei jenem wundersamen Gemisch von Tiefsinn und Oberflächlichkeit, dem Aristoteles, wie überhaupt bei ihm schon der Keim zur kritischen Philosophie liegt. De anima III, 8 sagt er: ἡ ψυχη τα οντα πως εστι παντα. (anima quodammodo est universa, quae sunt); sodann: ὁ νους εστι ειδος ειδων, d. h. der Verstand ist die Form der Formen, και ἡ ά[*?]ισθησις ειδος αισθητων, und die Sinnlichkeit die Form der Sinnesobjekte. Demnach nun, ob man sagt: Sinnlichkeit und Verstand sind nicht mehr; oder: die Welt hat ein Ende, – ist Eins. Ob man sagt: es giebt keine Begriffe; oder: die Vernunft ist weg und es giebt nur noch Thiere, – ist Eins.

Das Verkennen dieses Verhältnisses ist der Anlaß des Streites zwischen Realismus und Idealismus, zuletzt auftretend als Streit des alten Dogmatismus mit den Kantianern, oder der Ontologie und Metaphysik mit der transscendentalen Aesthetik und transscendentalen Logik, welcher auf dem Verkennen jenes Verhältnisses bei Betrachtung der ersten und dritten der von mir aufgestellten Klassen der Vorstellungen beruht; wie der Streit der Realisten und Nominalisten, im Mittelalter, auf dem Verkennen jenes Verhältnisses in Beziehung auf die zweite unserer Klassen der Vorstellungen.

§ 42.
Subjekt des Wollens.

Das Subjekt des Erkennens kann, laut Obigem, nie erkannt, nie Objekt, Vorstellung, werden. Da wir dennoch nicht nur eine äußere (in der Sinnesanschauung), sondern auch eine innere Selbsterkenntniß haben, jede Erkenntniß aber, ihrem Wesen zufolge, ein Erkanntes und ein Erkennendes voraussetzt; so ist das Erkannte in uns, als solches, nicht das Erkennende, sondern das Wollende, das Subjekt des Wollens, der Wille. Von der Erkenntniß ausgehend kann man sagen »Ich erkenne« sei ein analytischer Satz, dagegen »Ich will« ein synthetischer und zwar a posteriori, nämlich durch Erfahrung, hier durch innere (d. h. allein in der Zeit) gegeben. Insofern wäre also das Subjekt des Wollens für uns ein Objekt. Wenn wir in unser Inneres blicken, finden wir uns immer als wollend. Jedoch hat das Wollen viele Grade, vom leisesten Wunsche bis zur Leidenschaft, und daß nicht nur alle Affekte, sondern auch alle die Bewegungen unsers Innern, welche man dem weiten Begriffe Gefühl subsumirt, Zustände des Willens sind, habe ich öfter auseinandergesetzt, z. B. in den »Grundproblemen der Ethik«, S. 11, und auch sonst.

Die Identität nun aber des Subjekts des Wollens mit dem erkennenden Subjekt, vermöge welcher (und zwar nothwendig) das Wort »Ich« beide einschließt und bezeichnet, ist der Weltknoten und daher unerklärlich. Denn nur die Verhältnisse der Objekte sind uns begreiflich: unter diesen aber können zwei nur insofern Eins seyn, als sie Theile eines Ganzen sind. Hier hingegen, wo vom Subjekt die Rede ist, gelten die Regeln für das Erkennen der Objekte nicht mehr, und eine wirkliche Identität des Erkennenden mit dem als wollend Erkannten, also des Subjekts mit dem Objekte, ist unmittelbar gegeben. Wer aber das Unerklärliche dieser Identität sich recht vergegenwärtigt, wird sie mit mir das Wunder κάτ' εξοχην nennen.

Wie nun das subjektive Korrelat der ersten Klasse der Vorstellungen der Verstand ist, das der zweiten die Vernunft, das der dritten die reine Sinnlichkeit; so finden wir als das dieser vierten den innern Sinn, oder überhaupt das Selbstbewußtseyn.

§ 43.
Das Wollen. Gesetz der Motivation.

Eben weil das Subjekt des Wollens dem Selbstbewußtseyn unmittelbar gegeben ist, läßt sich nicht weiter definiren, oder beschreiben, was Wollen sei: vielmehr ist es die unmittelbarste aller unserer Erkenntnisse, ja die, deren Unmittelbarkeit auf alle übrigen, als welche sehr mittelbar sind, zuletzt Licht werfen muß.

Bei jedem wahrgenommenen Entschluß sowohl Anderer, als unserer selbst, halten wir uns berechtigt, zu fragen Warum? d. h. wir setzen als nothwendig voraus, es sei ihm etwas vorhergegangen, daraus er erfolgt ist, und welches wir den Grund, genauer, das Motiv der jetzt erfolgenden Handlung nennen. Ohne ein solches ist dieselbe uns so undenkbar, wie die Bewegung eines leblosen Körpers ohne Stoß, oder Zug. Demnach gehört das Motiv zu den Ursachen und ist auch bereits unter diesen als die dritte Form der Kausalität, § 20, aufgezählt und charakterisirt worden. Allein die ganze Kausalität ist nur die Gestalt des Satzes vom Grunde in der ersten Klasse der Objekte, also in der in äußerer Anschauung gegebenen Körperwelt. Dort ist sie das Band der Veränderungen unter einander, indem die Ursache die von außen hinzutretende Bedingung jedes Vorgangs ist. Das Innere solcher Vorgänge hingegen bleibt uns dort ein Geheimniß: denn wir stehn daselbst immer draußen. Da sehn wir wohl diese Ursache jene Wirkung mit Nothwendigkeit hervorbringen: aber wie sie eigentlich Das könne, was nämlich dabei im Innern vorgehe, erfahren wir nicht. So sehn wir die mechanischen, physikalischen, chemischen Wirkungen, und auch die der Reize, auf ihre respektiven Ursachen jedesmal erfolgen; ohne deswegen jemals den Vorgang durch und durch zu verstehn; sondern die Hauptsache dabei bleibt uns ein Mysterium: wir schreiben sie alsdann den Eigenschaften der Körper, den Naturkräften, auch der Lebenskraft, zu, welches jedoch lauter qualitates occultae sind. Nicht besser nun würde es mit unserm Verständniß der Bewegungen und Handlungen der Thiere und Menschen stehn, und wir würden auch diese auf unerklärliche Weise durch ihre Ursachen (Motive) hervorgerufen sehn; wenn uns nicht hier die Einsicht in das Innere des Vorgangs eröffnet wäre: wir wissen nämlich, aus der an uns selbst gemachten innern Erfahrung, daß dasselbe ein Willensakt ist, welcher durch das Motiv, das in einer bloßen Vorstellung besteht, hervorgerufen wird. Die Einwirkung des Motivs also wird von uns nicht bloß, wie die aller andern Ursachen, von außen und daher nur mittelbar, sondern zugleich von innen, ganz unmittelbar und daher ihrer ganzen Wirkungsart nach, erkannt. Hier stehn wir gleichsam hinter den Koulissen und erfahren das Geheimniß, wie, dem innersten Wesen nach, die Ursache die Wirkung herbeiführt: denn hier erkennen wir auf einem ganz andern Wege, daher in ganz anderer Art. Hieraus ergiebt sich der wichtige Satz: die Motivation ist die Kausalität von innen gesehn. Diese stellt sich demnach hier in ganz anderer Weise, in einem ganz andern Medio, für eine ganz andere Art des Erkennens dar: daher nun ist sie als eine besondere und eigenthümliche Gestalt unsers Satzes aufzuführen, welcher sonach hier auftritt als Satz vom zureichenden Grunde des Handelns, principium rationis sufficientis agendi, kürzer, Gesetz der Motivation.

Zu anderweitiger Orientirung, in Bezug auf meine Philosophie überhaupt, füge ich hier hinzu, daß, wie das Gesetz der Motivation sich zu dem oben, § 20, aufgestellten Gesetz der Kausalität verhält; so diese vierte Klasse von Objekten für das Subjekt, also der in uns selbst wahrgenommene Wille, zur ersten Klasse. Diese Einsicht ist der Grundstein meiner ganzen Metaphysik.

Ueber die Art und die Nothwendigkeit der Wirkung der Motive, das Bedingtseyn derselben durch den empirischen, individuellen Charakter, wie auch durch die Erkenntnißfähigkeit der Individuen u. s. w. verweise ich auf meine Preisschrift über die Freiheit des Willens, woselbst dies Alles ausführlich abgehandelt ist.

§ 44.
Einfluß des Willens auf das Erkennen.

Nicht auf eigentlicher Kausalität, sondern auf der § 42 erörterten Identität des erkennenden mit dem wollenden Subjekt beruht der Einfluß, den der Wille auf das Erkennen ausübt, indem er es nöthigt, Vorstellungen, die demselben ein Mal gegenwärtig gewesen, zu wiederholen, überhaupt die Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes zu richten und eine beliebige Gedankenreihe hervorzurufen. Auch hierin wird er bestimmt durch das Gesetz der Motivation, welchem gemäß er auch der heimliche Lenker der sogenannten Ideenassociation ist, der ich im 2. Bande der Welt als W. und V. ein eigenes Kapitel (das 14.) gewidmet habe, und welche selbst nichts Anderes ist, als die Anwendung des Satzes vom Grunde, in seinen vier Gestalten, auf den subjektiven Gedankenlauf, also auf die Gegenwart der Vorstellungen im Bewußtseyn. Der Wille des Individuums aber ist es, der das ganze Getriebe in Thätigkeit versetzt, indem er dem Interesse, d. h. den individuellen Zwecken der Person gemäß, den Intellekt antreibt, zu seinen gegenwärtigen Vorstellungen die mit ihnen logisch, oder analogisch, oder durch räumliche, oder zeitliche Nachbarschaft verschwisterten herbeizuschaffen. Die Thätigkeit des Willens hiebei ist jedoch so unmittelbar, daß sie meistens nicht ins deutliche Bewußtseyn fällt; und so schnell, daß wir uns bisweilen nicht ein Mal des Anlasses zu einer also hervorgerufenen Vorstellung bewußt werden, wo es uns dann scheint, als sei Etwas ohne allen Zusammenhang mit einem Andern in unser Bewußtseyn gekommen: daß aber dies nicht geschehn könne, ist eben, wie oben gesagt, die Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, und hat in dem erwähnten Kapitel seine nähere Erörterung gefunden. Jedes unserer Phantasie sich plötzlich darstellende Bild, auch jedes Urtheil, das nicht auf seinen vorher gegenwärtig gewesenen Grund folgt, muß durch einen Willensakt hervorgerufen seyn, der ein Motiv hat, obwohl das Motiv, weil es geringfügig, und der Willensakt, weil seine Erfüllung so leicht ist, daß sie mit ihm zugleich daist, oft nicht wahrgenommen werden.

§ 45.
Gedächtniß.

Die Eigenthümlichkeit des erkennenden Subjekts, daß es in Vergegenwärtigung von Vorstellungen dem Willen desto leichter gehorcht, je öfter solche Vorstellungen ihm schon gegenwärtig gewesen sind, d. h. seine Uebungsfähigkeit, ist das Gedächtniß. Der gewöhnlichen Darstellung desselben, als eines Behältnisses, in welchem wir einen Vorrath fertiger Vorstellungen aufbewahrten, die wir folglich immer hätten, nur ohne uns derselben immer bewußt zu seyn, – kann ich nicht beistimmen. Die willkürliche Wiederholung gegenwärtig gewesener Vorstellungen wird durch Uebung so leicht, daß, sobald ein Glied einer Reihe von Vorstellungen uns gegenwärtig geworden ist, wir alsbald die übrigen, selbst oft scheinbar gegen unsern Willen, hinzurufen. Will man von dieser Eigenthümlichkeit unsers Vorstellungsvermögens ein Bild (wie Plato eines giebt, indem er das Gedächtniß mit einer weichen Masse vergleicht, welche Eindrücke annimmt und bewahrt), so scheint mir das richtigste das eines Tuchs, welches die Falten, in die es oft gelegt ist, nachher gleichsam von selbst wieder schlägt. Wie der Leib dem Willen durch Uebung gehorchen lernt, eben so das Vorstellungsvermögen. Keineswegs ist, wie die gewöhnliche Darstellung es annimmt, eine Erinnerung immer die selbe Vorstellung, die gleichsam aus ihrem Behältniß wieder hervorgeholt wird, sondern jedesmal entsteht wirklich eine neue, nur mit besonderer Leichtigkeit durch die Uebung: daher kommt es, daß Phantasmen, welche wir im Gedächtniß aufzubewahren glauben, eigentlich aber nur durch öftere Wiederholung üben, unvermerkt sich ändern, was wir inne werden, wenn wir einen alten bekannten Gegenstand nach langer Zeit wiedersehn und er dem Bilde, das wir von ihm mitbringen, nicht vollkommen entspricht. Dies könnte nicht seyn, wenn wir ganz fertige Vorstellungen aufbewahrten. Eben daher kommt es, daß alle erworbenen Kenntnisse, wenn wir sie nicht üben, allmälig aus unserm Gedächtniß verschwinden; weil sie eben nur aus der Gewohnheit und dem Griffe kommende Uebungsstücke sind: so z. B. vergessen die meisten Gelehrten ihr Griechisch, und die heimgekehrten Künstler ihr Italiänisch. Ebenfalls erklärt sich daraus, daß, wenn wir einen Namen, einen Vers oder dergleichen ehemals wohl gewußt, aber in vielen Jahren nicht gedacht haben, wir ihn mit Mühe zurückbringen, aber, wenn dieses gelungen ist, ihn abermals auf einige Jahre zur Disposition haben; weil jetzt die Uebung erneuert ist. Daher soll wer mehrere Sprachen versteht in jeder derselben von Zeit zu Zeit etwas lesen; wodurch er seinen Besitz sich erhält.

Hieraus erklärt sich auch, warum die Umgebungen und Begebenheiten unserer Kindheit sich so tief dem Gedächtniß einprägen; weil wir nämlich als Kinder nur wenige und hauptsächlich anschauliche Vorstellungen haben und wir diese daher, um beschäftigt zu seyn, unablässig wiederholen. Bei Menschen, die zum Selbstdenken wenig Fähigkeit haben, ist dieses ihr ganzes Leben hindurch (und zwar nicht nur mit anschaulichen Vorstellungen, sondern auch mit Begriffen und Worten) der Fall, daher solche bisweilen, wenn nämlich nicht Stumpfheit und Geistesträgheit es verhindert, ein sehr gutes Gedächtniß haben. Dagegen hat das Genie bisweilen kein vorzügliches Gedächtniß, wie Rousseau Dies von sich selbst angiebt: es wäre daraus zu erklären, daß dem Genie die große Menge neuer Gedanken und Kombinationen zu vielen Wiederholungen keine Zeit läßt; wiewohl dasselbe sich wohl nicht leicht mit einem ganz schlechten Gedächtniß findet, weil die größere Energie und Beweglichkeit der gesammten Denkkraft hier die anhaltende Uebung ersetzt. Auch wollen wir nicht vergessen, daß die Mnemosyne die Mutter der Musen ist. Man kann demnach sagen: das Gedächtniß steht unter zwei einander antagonistischen Einflüssen: dem der Energie des Vorstellungsvermögens einerseits und dem der Menge der dieses beschäftigenden Vorstellungen andererseits. Je kleiner der erste Faktor, desto kleiner muß auch der andere seyn, um ein gutes Gedächtniß zu liefern; und je größer der zweite, desto größer muß der andere seyn. Hieraus erklärt sich auch, warum Menschen, die unablässig Romane lesen, dadurch ihr Gedächtniß verlieren; weil nämlich auch bei ihnen, eben wie beim Genie, die Menge von Vorstellungen, die hier aber nicht eigne Gedanken und Kombinationen, sondern fremde, rasch vorüberziehende Zusammenstellungen sind, zur Wiederholung und Uebung keine Zeit noch Geduld läßt: und was beim Genie die Uebung kompensirt geht ihnen ab. Uebrigens unterliegt die ganze Sache noch der Korrektion, daß Jeder das meiste Gedächtniß hat für Das, was ihn interessirt, das wenigste für das Uebrige. Daher vergißt mancher große Geist die kleinen Angelegenheiten und Vorfälle des täglichen Lebens, imgleichen die ihm bekannt gewordenen unbedeutenden Menschen, unglaublich schnell; während beschränkte Köpfe das Alles trefflich behalten: nichtsdestoweniger wird Jener für die ihm wichtigen Dinge und für das an sich selbst Bedeutende ein gutes, wohl gar ein stupendes Gedächtniß haben.

Ueberhaupt aber ist leicht einzusehn, daß wir am besten solche Reihen von Vorstellungen behalten, welche unter sich am Bande einer oder mehrerer der angegebenen Arten von Gründen und Folgen zusammenhängen; schwerer aber die, welche nicht unter sich, sondern nur mit unserm Willen nach dem Gesetze der Motivation verknüpft, d. h. willkürlich zusammengestellt sind. Bei jenen nämlich ist in dem uns a priori bewußten Formalen die Hälfte der Mühe uns erlassen: Dieses, wie überhaupt alle Kenntniß a priori, hat auch wohl Plato's Lehre, daß alles Lernen nur ein Erinnern sei, veranlaßt. –


 << zurück weiter >>