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Zimmer im Hause Wegrat, an das die Veranda grenzt. Entsprechender Ausblick.
Johanna allein. Dann Sala.
Johanna sitzt auf einem Sessel, mit verschlungenen Händen.
Sala tritt ein. Guten Morgen, Johanna.
Johanna steht auf, tritt ihm entgegen, sieht ihn an. Kommst du zum letztenmal?
Sala. Zum letztenmal? Was fällt dir ein? Es hat sich in unsern Dispositionen nicht das Geringste geändert. Heut ist der siebente Oktober, am sechsundzwanzigsten November geht das Schiff von Genua ab.
Johanna. Du wirst plötzlich von hier verschwunden sein. Ich werde bei der Gartentüre stehen, und sie wird verschlossen bleiben.
Sala. Solche Dinge sind doch zwischen uns nicht notwendig.
Johanna. Nein, wahrhaftig nicht. Bedenke das.
Johanna und Sala. Felix tritt ein.
Felix. Sie sind es, Herr von Sala? Händedruck. Nun, wie weit halten Sie mit Ihren Vorbereitungen?
Sala. Es braucht keiner besondern. Ich packe meine Koffer, lasse die Vorhänge herunter, sperre die Türen ab – und dann geht es in rätselhafte Fernen. Ich habe übrigens eine Frage an Sie, Felix. Hätten Sie einige Lust, mit uns zu kommen?
Felix erstaunt. Ob ich Lust hätte –? Fragen Sie mich das im Ernst, Herr von Sala?
Sala. Die Frage ist genau so ernst gemeint, als Sie sie nehmen wollen.
Felix. Wie soll ich das verstehen? Ob ich mit Ihnen nach Asien gehen will? Was sollte man denn mit mir bei einem Unternehmen dieser Art anfangen?
Sala. Das liegt doch ziemlich nahe.
Felix. Handelt es sich denn nicht um eine Expedition von rein wissenschaftlichem Charakter?
Sala. Als solche ist sie wohl gedacht. Aber es ist sehr leicht möglich, daß es allerlei geben wird, wobei junge Männer wie Sie sehr gut am Platze sein werden.
Felix. Männer wie ich –?
Sala. Vor sieben Jahren unter Rolston war mancherlei zu bestehen, was nicht im Reiseprogramm vorgesehen war. Und in der Ebene Karakum am Flusse Amu Darja gab es eine regelrechte kleine Schlacht.
Johanna, Felix, Sala. Doktor Reumann ist aufgetreten.
Doktor Reumann. Für die, die dort liegen geblieben sind, wird sie groß genug gewesen sein, Ihre kleine Schlacht. Flüchtige Begrüßung, Händereichen, ohne daß das Gespräch unterbrochen wird.
Sala. Da mögen Sie wohl recht haben, Herr Doktor.
Felix. Erlauben Sie, Herr von Sala, haben Sie nur im eigenen Namen gesprochen? Ist es ein plötzlicher Einfall – oder ist es mehr?
Sala. Ich spreche zwar nicht direkt im Auftrag von irgend jemand, aber nach einer Besprechung, die gestern im Ministerium des Äußern stattgefunden hat und der ich beigezogen war, halte ich mich für berechtigt, noch einiges hinzuzufügen. – O, es sind keine Geheimnisse. Sie haben ja wahrscheinlich gelesen, Felix, daß uns ein Herr vom Generalstab, einige Genie- und Artillerieoffiziere sozusagen in offiziöser Eigenschaft beigegeben werden. Nach den letzten Nachrichten aus Asien, die mir allerdings nicht ganz zuverlässig erscheinen, da sie über England zu uns gelangt sind, hat man sich entschlossen, sich der weitern Mitwirkung von einigen jüngern Truppenoffizieren zu versichern, was vorerst auf dem Weg privater Aufforderung geschehen soll.
Felix. Und es bestünde eine Möglichkeit, daß ich –?
Sala. Gestatten Sie mir, mit dem Grafen Ronsky zu reden?
Felix. Sie nannten dem Grafen meinen Namen?
Sala. Ich habe die Erlaubnis, die Frage an Sie zu richten, ob Sie bereit wären, sich am sechsundzwanzigsten November mit uns in Genua einzuschiffen.
Doktor Reumann. So bald schon gedenken Sie Wien zu verlassen l
Sala. Ja. Leicht. Warum sehen Sie mich so an, Herr Doktor? Dieser Blick ist ein wenig unvorsichtig gewesen.
Doktor Reumann. Inwiefern?
Sala. Er sagt ungefähr: Abreisen magst du; aber ob du zurückkommen wirst, das ist eine recht zweifelhafte Sache.
Doktor Reumann. Nun hören Sie, Herr von Sala, einer solchen Unternehmung gegenüber dürfte man auch einen solchen Zweifel laut werden lassen. Aber interessiert Sie denn das überhaupt, Herr von Sala, ob Sie wiederkommen werden oder nicht? Sie gehören doch nicht zu der Sorte Menschen, die ihre Angelegenheiten ordnen wollen?
Sala. Ach nein. Umsoweniger, als es in solchen Fällen doch immer die Angelegenheiten anderer sind, mit denen man sich überflüssigerweise beschäftigt. Und wenn es mich interessieren würde, wie es mit mir steht, so hätt' ich einen triftigeren Grund.
Johanna. Welchen?
Sala. Ich wünsche nicht um das Bewußtsein meiner letzten Tage betrogen zu werden.
Doktor Reumann. Das ist ein Wunsch, mit dem Sie ziemlich vereinzelt dastehen dürften.
Sala. Jedenfalls wären Sie verpflichtet, Doktor, mir die absolute Wahrheit zu sagen, wenn ich Sie darum fragen sollte. Ich finde, man hat das Recht, sein Dasein vollkommen auszuleben, mit allen Wonnen und mit allen Schaudern, die darin verborgen liegen. So wie wir wahrscheinlich die Pflicht haben, jede gute Tat und jede Schurkerei zu begehen, die innerhalb unserer Fähigkeiten liegt . . . Nein, Sie sollen mir meine Todesstunde nicht wegeskamotieren! Es wäre ein kleinlicher Standpunkt, meiner und Ihrer nicht würdig. – Nun Felix, am sechsundzwanzigsten November. Es sind sieben Wochen bis dahin! Was die Erledigung der Formalitäten anbelangt, brauchen Sie sich keinerlei Sorgen zu machen.
Felix. Innerhalb welcher Frist muß ich mich entscheiden?
Sala. Es ist kein Anlaß, sich zu übereilen. Wann läuft Ihr Urlaub ab?
Felix. Morgen abend.
Sala. Sie werden sich wohl mit Ihrem Vater besprechen wollen.
Felix. Mit meinem Vater – natürlich. – Aber jedenfalls bringe ich Ihnen morgen früh die Antwort, Herr von Sala.
Sala. Schön. Ich würde mich sehr freuen. Aber immerhin bedenken Sie: Ein Spaziergang ist es nicht. Also auf Wiedersehen. Adieu, Fräulein Johanna. Leben Sie wohl, Herr Doktor. Er geht ab.
Kurze Pause. Die Zurückbleibenden in einiger Bewegung.
Johanna erhebt sich. Ich gehe auf mein Zimmer. Adieu, Herr Doktor. Ab.
Felix, Doktor Reumann. Dann Johanna.
Doktor Reumann. Sie sind entschlossen, Felix?
Felix. Beinahe.
Doktor Reumann. Nun werden Sie viel Neues kennen lernen.
Felix. Unter anderm hoffentlich mich selbst, wozu es nun endlich Zeit wäre . . . Zitierend. »In rätselhafte Fernen . . .« Wird es nur wahr werden? Es wäre geradezu berauschend!
Doktor Reumann. Und Sie haben sich Bedenkzeit ausgebeten?
Felix. Ich weiß kaum, warum. Und doch . . . Der Gedanke, daß man Menschen zurückläßt und sie vielleicht nicht wiederfindet, – und keineswegs so wiederfindet, wie man sie verlassen hat, und daß man ihnen vielleicht ein Leid zufügt, dadurch, daß man geht . . .
Doktor Reumann. Wenn Sie nichts anderes zögern macht, so ist es um jede Stunde der Ungewißheit schade. Nichts entfernt Sie sicherer von Menschen, die Ihnen teuer waren, als das Bewußtsein, durch eine Pflicht in ihre Nähe gebannt zu sein. Ergreifen Sie nur diese einzige Gelegenheit und reisen Sie nach Genua, Kleinasien, Tibet, Baktrien . . . Ja, es muß schön sein. Meine besten Wünsche begleiten Sie. Reicht ihm die Hand.
Felix. Ich danke Ihnen. Aber mit diesen Wünschen hat es wohl noch Zeit. Wie immer die Sache sich entscheidet, wir sehen uns vor meiner Abreise noch zu öfteren Malen.
Doktor Reumann. Hoffentlich. Natürlich.
Felix sieht ihn fest an. Herr Doktor! – In Ihrem Händedruck hab' ich etwas gespürt wie einen ernsten Abschied.
Doktor Reumann lächelnd. Kann man denn jemals wissen, ob man einander wiedersieht?
Felix. Herr Doktor . . . hat Herr von Sala Ihren Blick richtig gedeutet?
Doktor Reumann. Für Sie kommt das kaum in Betracht.
Felix. Er wird nicht mit uns gehen?
Doktor Reumann zögernd. Das ist schwer vorherzusagen.
Felix. Zu lügen haben Sie nicht gelernt, Herr Doktor.
Doktor Reumann. Wie die Dinge stehen, glaube ich, können Sie die Angelegenheit ohne weitere Beihilfe zu Ende führen.
Felix. Herr von Sala war vor wenigen Tagen bei Ihnen?
Doktor Reumann. Ja, es ist noch nicht lange her. Pause. Nun, daß er leidend ist, das sehen Sie ja selbst, nicht wahr? – Also grüß' Sie Gott, Felix.
Felix. Werden Sie der Freund unseres Hauses bleiben, wenn ich fort bin?
Doktor Reumann. Warum stellen Sie solche Fragen an mich, Felix?
Felix. Sie wollen nicht wiederkommen! . . . Ja, warum?
Doktor Reumann. Ich versichere Sie . . .
Felix. Ich verstehe . . .
Doktor Reumann verlegen. Was gibt es hier zu verstehen . . . ? . . .
Felix. Lieber Doktor . . . Nun weiß ich . . . warum Sie in dieses Haus nicht mehr kommen wollen . . . Es hat sich wieder einmal ein anderer den Hals gebrochen . . . Lieber Freund –
Doktor Reumann. Leben Sie wohl . . . Felix . . .
Felix. Und wenn man Sie zurückrufen sollte . . .
Doktor Reumann. Man wird es nicht tun . . . Wenn man mich braucht, werd' ich immer zu finden sein . . .
Johanna tritt ins Zimmer.
Doktor Reumann. Adieu . . . Adieu Fräulein Johanna . . .
Johanna. Sie gehen schon, Herr Doktor?
Doktor Reumann. Ja . . . Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Vater. Adieu . . . Reicht ihr die Hand.
Johanna, Felix.
Johanna ruhig. Hat er dir gesagt, daß Sala verloren ist?
Felix zögert.
Johanna. Ich wußt' es. Wie Felix reden will, hat sie eine seltsam abwehrende Bewegung. Und du gehst – mit ihm oder ohne ihn.
Felix. Ja. Pause. Es wird jetzt hier recht still werden.
Johanna unbeweglich.
Felix. Und wie wirst du leben, Johanna? . . . Ich meine, wie werdet ihr beide leben, du und der Vater?
Johanna sieht ihn an, als wundere sie sich, daß er sie fragt.
Felix. Er wird sich einsam fühlen. Er würde es sehr dankbar empfinden, denk' ich, wenn du dich ein bißchen mehr mit ihm beschäftigtest, vielleicht mit ihm in freien Stunden spazieren gingst. Auch für dich – –
Johanna herb. Was hülfe es mir oder ihm? Was soll er mir sein oder ich ihm? Ich bin nicht dazu geschaffen, Menschen beizustehen in trüben Tagen. Ich kann mir nicht helfen, es ist nun einmal so. Wie eine Feindschaft regt es sich in mir gegen Menschen, die auf mein Mitleid angewiesen sind. Ich hab' es gefühlt die ganze Zeit hindurch, als die Mutter krank war.
Felix. Nein, du bist nicht dazu geschaffen . . . Wozu nur magst du geschaffen sein?
Johanna zuckt die Achseln, sitzt wieder mit verschlungenen Händen und sieht vor sich hin.
Felix. Johanna! Warum redest du denn nicht mehr zu mir wie sonst? Hast du mir nicht vielleicht etwas zu sagen? Erinnere dich doch, wie wir uns früher alles erzählt haben.
Johanna. Das ist lange her. Damals waren wir Kinder.
Felix. Warum kannst du nicht mehr so zu mir reden wie damals, Johanna? Weißt du denn nicht mehr, wie gut wir uns einmal verstanden haben? Wie wir uns alle Geheimnisse anvertraut haben! Wie gute Kameraden wir gewesen sind! . . . Wie wir zusammen in die weite Welt haben ziehen wollen!
Johanna. In die weite Welt... O ja. Ich weiß es noch. Aber jetzt gibt es keine solchen Märchen- und Wunderworte mehr!
Felix. Das käme vielleicht nur auf uns an.
Johanna. Nein, jetzt bedeuten die Worte nicht dasselbe wie früher.
Felix. Wie meinst du das?
Johanna. In die weite Welt . . .
Felix. Was hast du, Johanna?
Johanna. Einmal hab' ich zusammen mit dir im Belvedere ein Bild gesehen, an das denk' ich oft: Da ist eine Wiese mit Rittern und Damen – und ein Wald, ein Weinberg, ein Wirtshaus, und Burschen und Mädeln im Tanz, und eine große Stadt mit Kirchen und Türmen und Brücken. Und über die Brücke marschieren Soldaten, und auf dem Fluß gleitet ein Schiff dahin. Und weiter draußen ist ein Hügel, und auf dem Hügel ein Schloß, und in der Ferne hohe Berge. Und über dem Berg stehen Wolken, und über der Wiese schwimmen Nebel, und über die Stadt ergießt sich Sonnenglanz, und über das Schloß zieht ein Gewitter, und auf den Bergen liegt Schnee und Eis. – Und wenn einer sagte »die weite Welt«, oder wenn ich das Wort irgendwo las, so hab' ich immer an das Bild denken müssen. Und so ging's mir mit vielen von diesen Worten, die so großartig klingen. Gefahr, das war ein Tiger mit weitaufgesperrtem Rachen, – Liebe, das war ein Page mit blonden Locken, der vor einer Dame kniet, – der Tod war ein schöner Jüngling mit schwarzen Flügeln und einem Schwert in der Hand, – und Ruhm war Schall von Trompeten, Menschen, die sich verneigen, und ein blumenbestreuter Weg. Damals konnte man freilich über alles reden, Felix. Aber jetzt sieht alles anders aus . . . Ruhm und Liebe und Tod und die weite Welt.
Felix zögernd. Mir wird ein wenig bang um dich, Johanna.
Johanna. Warum, Felix?
Felix. Johanna! – Ich möchte, daß du unserm Vater keinen Kummer bereitest.
Johanna. Steht das bei mir allein?
Felix. Ich weiß, wohin deine Träume gehen, Johanna. – Was soll das werden?
Johanna. Muß denn alles etwas werden? – Ich denke, Felix, daß es die Bestimmung mancher Menschen sein mag, einander gar nichts anderes zu bedeuten als Erinnerung.
Felix. Johanna! – Du hast es selbst gesagt, – daß du nicht geschaffen bist, Menschen leiden zu sehen.
Johanna zuckt leicht zusammen.
Felix. Leiden . . . und . . .
Felix, Johanna. Julian tritt ein.
Julian. Guten Tag. Er reicht Felix die Hand.
Johanna ist aufgestanden. Herr Fichtner! Sie reicht ihm die Hand.
Julian. Ich hätte dich kaum wiedererkannt, Johanna. Du bist ja eine junge Dame geworden. – Euer Vater ist noch nicht zu Hause?
Johanna. Er ist noch gar nicht weggegangen. Erst um zwölf hat er auf der Akademie zu tun.
Julian. Er wird wohl im Atelier sein?
Johanna. Ich will ihn gleich rufen.
Julian sieht um sich.
Wie Johanna weggeben will, tritt Wegrat ein, mit Hut und Stock.
Felix, Johanna, Julian, Wegrat. Dann Stubenmädchen.
Wegrat reicht Julian die Hand. Mein lieber Freund! Ich freue mich sehr.
Julian. Erst gestern nach meiner Ankunft habe ich es erfahren – durch Sala. Ich brauche dir nicht erst zu sagen . . .
Wegrat. Ich danke dir für deine Teilnahme. Ich danke dir herzlich. – Setz' dich doch, Julian.
Julian. Du wolltest fortgehen?
Wegrat. Es ist nicht so eilig; erst um zwölf hab' ich auf der Akademie zu tun. Johanna, möchtest du so gut sein, mir für alle Fälle einen Wagen holen zu lassen –?
Johanna ab.
Wegrat setzt sich.
Julian ebenso.
Felix steht an den Kamin gelehnt.
Wegrat. Nun, du bist ja diesmal recht lange fortgeblieben.
Julian. Mehr als zwei Jahre.
Wegrat. Wärest du nur um zehn Tage früher gekommen, so hättest du sie noch einmal gesehen. Es kam so schnell; – wenn auch nicht unerwartet.
Julian. Ich habe gehört.
Wegrat. Und nun bleibst du wohl wieder daheim, nicht wahr?
Julian. Einige Zeit. Wie lange, kann ich freilich nicht sagen.
Wegrat. Nun ja. Programme zu machen, ist deine Sache nie gewesen.
Julian. Ja. Dagegen hab' ich eine gewisse Abneigung. Pause.
Wegrat. Ach Gott, mein lieber Freund – wie oft habe ich in der letzten Zeit an dich gedacht! –
Julian. Und ich . . .
Wegrat. Du hast nicht so oft Gelegenheit dazu . . . Aber ich . . . wenn ich das Gebäude betrete, wo ich jetzt in Amt und Würden schalte, fällt es mir natürlich manchmal ein, wie wir als junge Leute nebeneinander im Modellsaal gesessen sind, mit tausend Plänen und Hoffnungen.
Julian. Das sagst du so melancholisch. Es haben sich doch manche erfüllt.
Wegrat. Manche . . . ja . . . Und man möchte doch wieder jung sein, selbst um den Preis der gleichen Sorgen und Kämpfe . . .
Julian. Und selbst auf die Gefahr hin, allerlei Schönes noch einmal durchmachen zu müssen.
Wegrat. Wahrhaftig, das trägt sich am allerschwersten, wenn es Erinnerung geworden ist. – Du warst wieder in Italien?
Julian. Ja, auch in Italien war ich.
Wegrat. Ich bin nun lange nicht mehr dort gewesen. Seit wir zusammen mit dem Ränzel auf dem Rücken durchs Ampezzaner Tal gewandert sind – nach Pieve und bis hinunter nach Venedig. Erinnerst du dich noch? So hell hat die Sonne nicht wieder geschienen.
Julian. Es sind wohl beinahe dreißig Jahre her.
Wegrat. Nein, so lang ist es nicht. Du warst ja damals schon ein bekannter Mann. Du hattest gerade das schöne Bild von Irene Herms gemalt. Es war im Jahr, bevor ich heiratete.
Julian. Ja, ja.
Pause.
Wegrat. Erinnerst du dich noch an den Sommermorgen, an dem du mich zum erstenmal in die Kirchau begleitet hast?
Julian. Natürlich.
Wegrat. Wie wir auf dem leichten Landwägelchen durch das breite sonnige Tal fuhren? Und erinnerst du dich an das kleine Gärtchen am Hügelhang, wo du Gabriele und ihre Eltern kennen lerntest?
Felix mit beherrschter Bewegung. Vater, steht denn das Haus noch, in dem die Mutter damals wohnte?
Wegrat. Nein, längst nicht mehr. Man hat eine Villa hingebaut. Vor fünf oder sechs Jahren waren wir nämlich zum letztenmal dort und haben das Grab deiner Großeltern besucht. Alles hat sich dort verändert, nur der Friedhof nicht . . . Zu Julian. Weißt du noch, Julian, wie wir einmal an einem schwülen, wolkigen Nachmittag auf der niederen Friedhofsmauer gesessen sind und ein so merkwürdiges Zukunftsgespräch geführt haben?
Julian. Der Tag ist mir sehr deutlich im Gedächtnis. Aber worüber wir sprachen, erinnere ich mich nicht mehr.
Wegrat. Die Worte sind mir auch entschwunden, aber ich weiß noch, es war ein sonderbares Gespräch . . . Die Welt tat sich gewissermaßen weiter auf als sonst. Und ich spürte eine Art von Neid auf dich, wie manchmal zu jener Zeit. In mir erwachte ein Gefühl, als könnt' ich auch alles, – wenn ich nur wollte. Es gab so viel zu sehen, zu erfahren, – das Leben strömte so mächtig hin; man mußte nur etwas frecher sein und selbstbewußter und sich hineinwerfen . . . Ja, so war mir zu Mute, während du redetest . . . Und da kam Gabriele heraufgeschritten, auf dem schmalen Weg zwischen den Akazien, vom Dorfe her, den Strohhut in der Hand, und nickte mir zu. Und alle meine Zukunftsträume schwebten nur mehr um sie, und die ganze Welt war wieder wie in einen Rahmen gefaßt und war doch groß genug und schön genug . . . Wo nimmt das nur mit einem Male wieder seine Farben her? Alles war doch schon so gut wie vergessen, und nun, seit sie tot ist, schimmert es wieder so lebendig, daß man erschrecken könnte . . . Ah, man sollte lieber nicht dran denken. Wozu? Wozu? Pause. Er geht zum Fenster.
Julian in Befangenheit, die er zu überwinden sucht. Es ist klug und mutig von dir, daß du so rasch wieder deine Tätigkeit aufgenommen hast.
Wegrat. Wenn man sich einmal entschlossen hat, weiter zu existieren –?! Arbeit ist doch das einzige, was einem über dieses Gefühl des Alleinseins hinweghilft . . . dieses Alleingelassenseins.
Julian. Mir ist, als wenn dich der Schmerz ein wenig ungerecht machte gegenüber – manchem, was dir geblieben.
Wegrat. Ungerecht –? Nein, ich will es wirklich nicht sein. Ihr nehmt es mir doch nicht übel, Kinder . . .! Nicht wahr, Felix, du verstehst mich ganz gut? Es gibt so vieles, was die jungen Leute von uns fortruft – fortlockt – fortreißt von allem Anbeginn. Wir führen ja doch nur einen Kampf um unsere Kinder von dem Augenblick an, da sie überhaupt da sind – und einen ziemlich aussichtslosen obendrein. Das liegt im Laufe der Welt: Sie können uns ja nie gehören. Und was die andern Menschen anbelangt . . . auch unsere Freunde sind doch nur Gäste in unserem Leben, erheben sich vom Tisch, wenn abgespeist ist, gehen die Treppe hinab und haben – wie wir – ihre eigene Straße und ihr eigenes Geschäft. Das ist ja auch ganz natürlich . . . Was nicht hindert, Julian, daß man sich freut – aufrichtig freut, wenn einer den Weg wieder zu uns findet. Und gar einer, der einem wirklich sein Lebtag sehr wert gewesen. Das kannst du mir glauben, Julian. Händedruck. Und nicht wahr, so lang du in Wien bleibst, seh' ich dich wieder öfters bei mir? Du würdest mir einen rechten Gefallen erweisen.
Julian. Gewiß werd' ich kommen.
Stubenmädchen tritt ein. Der Wagen ist da, Herr Professor. Ab.
Wegrat. Ich komme schon. Zu Julian. Du hast mir viel zu erzählen. Du warst ja so gut wie verschollen. Es interessiert mich natürlich zu wissen, was du alles gemacht hast – und noch mehr, was du vorhast. Felix sprach uns von einigen sehr interessanten Entwürfen, die du ihm gezeigt hast.
Julian. Ich begleite dich, wenn es dir recht ist.
Wegrat. Danke. Aber noch freundlicher wäre es von dir, wenn du gleich bei uns bliebst und mit uns zu Mittag speisen wolltest.
Julian. Nun . . .
Wegrat. Ich bin rasch fertig; ich habe heute nur rein administrative Angelegenheiten zu erledigen – ein paar Unterschriften. In Dreiviertelstunden bin ich zurück. Indes leisten dir die Kinder Gesellschaft, wie so oft in früherer Zeit . . . Kinder! – – Also du bleibst? Auf Wiedersehen. Ab.
Felix, Julian.
Lange Pause.
Felix. Warum sind Sie nicht mit ihr fortgegangen?
Julian. Deine Mutter ist ohne Schuld; wenn es eine gibt, so trag' ich sie allein. Ich will dir alles erzählen.
Felix nickt.
Julian. Es war damals verabredet, daß wir zusammen fort sollten. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Wir wollten im geheimen den Ort verlassen, weil deine Mutter vor Auseinandersetzungen und Erklärungen eine begreifliche Scheu hatte. Unsere Absicht war, von der Reise aus, nach wenigen Tagen, die Sache aufzuklären. Die Stunde unserer gemeinschaftlichen Abreise war schon bestimmt. Der . . . später ihr Gatte wurde, war eben auf einige Tage nach Wien gereist, um Dokumente zu besorgen; in einer Woche sollte die Hochzeit sein. Pause. Unser Plan stand fest. Alles war verabredet. Der Wagen war schon bestellt, der abseits vom Orte warten sollte. Am Abend hatten wir einander Adieu gesagt und waren beide überzeugt, daß wir uns am nächsten Morgen wiedersehen würden, um uns überhaupt nie wieder zu trennen. – Es kam anders. – – Du darfst nicht daran denken, daß es deine Mutter war, du mußt mich anhören, als wäre es die Geschichte von fremden Leuten – dann wirst du alles verstehen.
Felix. Ich höre.
Julian. Im Juni war ich in die Kirchau gekommen, an einem schönen Sommermorgen – mit ihm . . . Du weißt es ja. Ich wollte mich nur wenige Tage aufhalten. Aber ich blieb. Einigemal nahm ich mir vor, zur rechten Zeit wieder abzureisen: Aber ich blieb. Und lächelnd mit schicksalhafter Notwendigkeit glitten wir in Sünde, Glück, Verhängnis, Verrat – und Traum. Ja wahrhaftig, davon hatte es am allermeisten. Und nach diesem letzten Abschied, der nur für eine Nacht gelten sollte; – als ich in das kleine Wirtshaus zurückgekehrt war und alles für die Reise in Ordnung brachte, kam ich eigentlich das erstemal recht zum Bewußtsein der Dinge, die geschehen waren und die bevorstanden. Es war wirklich beinah, wie wenn ich erwachte. Erst jetzt, in der Stille der Nacht, während ich am offenen Fenster stand, wurde es mir klar, daß morgen früh eine Stunde kam, die über meine ganze Zukunft entscheiden sollte. Und da begann es . . . wie leichte Schauer über mich zu fließen. Unten sah ich die Straße hinlaufen, auf der ich gekommen war; die führte ins Land hinaus, stieg die Hügel hinan, die die Aussicht versperrten, und verlor sich ins Weite, ins Unbegrenzte – zu tausend unbekannten, unsichtbaren Straßen, die alle in diesem Augenblick noch zu meiner freien Verfügung standen. Mir war, als läge dort, hinter jenen Hügeln meine Zukunft, schimmernd von Glanz und Abenteuern, und wartete auf mich . . . aber auf mich allein. Das Leben gehörte mir – aber nur dieses eine. Und um es ganz zu nehmen und ganz zu genießen, um es so zu leben, wie es mir bestimmt war, braucht' ich völlige Sorglosigkeit und Freiheit wie bisher. Und ich wunderte mich beinah, daß ich so bereit gewesen war, die Unbekümmertheit meiner Jugend, die Fülle meines Daseins hinzugeben . . . Und wofür? – Für eine Leidenschaft, die in all ihrer Glut und Süßigkeit doch begonnen hatte wie manche andere und bestimmt war zu enden wie alle.
Felix. Bestimmt war zu enden?. . . Enden mußte?
Julian. Ja. Mußte. Im Augenblick, da ich das Ende vorhersah, war es gewissermaßen schon da. Auf etwas warten, das kommen muß, heißt, es tausendmal, heißt – es in Wehrlosigkeit und Überdruß und Zorn erleben. Das wußt' ich tief in dieser Stunde. Und ich hatte Angst davor. Dabei fühlt' ich ganz gut, daß ich im Begriff war, gegen ein Wesen, das sich mir vertrauensvoll hingegeben, rücksichtslos, verräterisch zu handeln. – Aber alles schien mir wünschenswerter – nicht nur für mich, auch für sie – als ein langsames, klägliches, unwürdiges Vergehen. Und alle meine Bedenken gingen unter in der ungeheuern Sehnsucht, mein Leben pflichtenlos, ungebunden weiterzuführen. Viel Zeit zu überlegen hatt' ich nicht. Und ich war froh darüber. Ich war entschlossen. Ich wartete den Morgen nicht ab. Noch eh' die Sterne untergegangen waren, bin ich fort.
Felix. Entflohen . . .
Julian. Nenn' es, wie du magst. – Ja, es war eine Flucht, so gut und so schlecht, so unbedenklich und . . . so feig wie irgend eine . . . mit aller Angst des Verfolgtwerdens, mit aller Glückseligkeit des Entkommenseins. Ich verhehle dir nichts, Felix. Du bist jung, es wäre sogar möglich, daß du es besser begreifst, als ich selbst es heute begreife. Es zog mich nicht zurück, keine Spur von Reue regte sich. Wie ein Rausch durchströmte mich das Gefühl, frei zu sein. – Schon am Ende des ersten Tages war ich weit, – weiter, als auf irgend einem Meilenzeiger zu lesen stand. Schon an diesem ersten Tag begann das Bild der Frau zu verblassen, die zu einer schmerzlichen Enttäuschung, vielleicht zu schlimmerem erwacht war, verklang mir die Erinnerung ihrer Stimme, war sie ein Schatten gleich andern, die weit hinter mir zurück im Vergangenen schwebten.
Felix. Nein, es ist nicht wahr! So rasch war sie nicht vergessen, so reuelos zogen Sie nicht in die Welt. Dies soll eine Art von Buße sein. Sie stellen sich anders dar, als Sie sind.
Julian. Nicht, um mich zu beschuldigen, und nicht, um mich zu verteidigen, sprech' ich zu dir. Ich sage dir einfach die Wahrheit. Du sollst sie hören. Es war deine Mutter, und ich bin es, der sie verlassen hat. Und ich sage dir noch mehr. Gerade an die Zeit, die dieser Flucht gefolgt ist, denk' ich zurück wie an die hellste und reichste, die ich jemals erlebt habe. Niemals, nicht früher und nicht später, hab' ich in einem so herrlichen Bewußtsein von Jugend und Unbeschränktheit geschwelgt, niemals war ich so völlig Herr meiner Gaben, meines Lebens . . . nie ein so glücklicher Mensch als gerade damals.
Felix ruhig. Und wenn sie sich getötet hätte?
Julian. Ich glaube, ich hätte mich dessen für wert gehalten – in dieser Zeit.
Felix. Und vielleicht waren sie es damals wirklich. – Und sie wollte es tun, des bin ich gewiß. Der Lüge und Qual wollte sie ein Ende machen, wie es hunderttausend Mädchen vor ihr getan. Aber Millionen tun es nicht, und es sind die klügern. Und sicher dachte sie auch daran, dem, der sie zur Gattin nahm, die Wahrheit zu gestehen. Aber freilich, es schreitet sich leichter durchs Leben, wenn man nicht die Last eines Vorwurfs oder gar die einer Verzeihung zu tragen hat.
Julian. Und wenn sie gesprochen hätte –?
Felix. O, ich begreife, daß sie es nicht getan hat. Sie hätte niemandem damit genützt. So hat sie geschwiegen. Geschwiegen, als sie von der Trauung heimkam, – geschwiegen, als das Kind geboren wurde, – geschwiegen, als der Geliebte das Haus ihres Gatten nach zehn Jahren wieder betrat, – geschwiegen bis zum letzten Tag . . . Solche Schicksale gibt es allerorten, und man muß nicht einmal . . . verworfen sein, um sie zu erleben oder um sie zu verschulden.
Julian, Und es gibt wenige, denen es zusteht, zu richten – oder zu verurteilen.
Felix. Ich maße es mir nicht an. Es will mir nicht einmal ein, daß ich nun Betrüger und Betrogene vor mir sehen soll, wo mir bis vor einer Stunde Menschen, die mir wert sind, in so reinen Beziehungen zu einander erschienen. Und völlig unmöglich ist es mir, mich selbst als einen andern zu empfinden als den, für den ich mich bis heute gehalten habe. Es ist eine Wahrheit ohne Kraft . . . Ein lebhafter Traum wäre zwingender als diese Geschichte aus verflossenen Tagen, die Sie mir erzählt haben. Es hat sich nichts verändert . . . nichts. Das Andenken meiner Mutter ist mir so heilig als zuvor. Und der Mann, in dessen Haus ich geboren und auferzogen bin, der meine Kindheit und meine Jugend mit Sorgfalt und Zärtlichkeit umgeben hat und der meine Mutter – geliebt hat, gilt mir gerade so viel, als er mir bisher gegolten – und beinahe mehr.
Julian. Und doch, Felix, so kraftlos dir diese Wahrheit scheint, – eines weißt du schon in diesem Augenblick des Zweifels: Als meinen Sohn hat deine Mutter dich geboren . . .
Felix. Zu einer Zeit, da sie Sie verfluchte.
Julian. . . . auferzogen als meinen Sohn . . .
Felix. In Haß gegen Sie.
Julian. Zuerst. Später in Verzeihung, und endlich – vergiß es nicht – in Freundschaft für mich. – Und an jenem letzten Abend, woran hat sie sich erinnert? . . . Wovon mit dir gesprochen? . . . Von jenen Tagen, in denen sie das größte Glück erlebte, das einer Frau beschieden sein kann.
Felix. Und das tiefste Elend.
Julian. Denkst du, es war Zufall, daß ihr am letzten Abend gerade jene Tage wieder durch den Sinn gingen? . . . Glaubst du, sie wußte nicht, daß du zu mir kommen und jenes Bild von mir verlangen würdest? . . . Und denkst du, dein Wunsch bedeutete etwas anderes als den letzten Gruß deiner Mutter an mich? – Verstehst du es, Felix? . . . Und in dieser Sekunde – wehre dich nicht – steht es vor deinen Augen, – das Bild, das du gestern in deiner Hand hieltest; und deine Mutter sieht dich an. – Und der gleiche Blick ruht auf dir, Felix, der damals auf mir geruht hat, an dem glühenden und heiligen Tag, da sie in meine Arme sank und dich empfing. – Und was immer dich jetzt bewegt, Zweifel und Verwirrung, du weißt nun einmal die Wahrheit, deine Mutter selbst hat es gewollt, und es gibt für dich keine Möglichkeit mehr, zu vergessen, daß du mein Sohn bist.
Felix. Ihr Sohn . . . – Es ist nichts als ein Wort. Es klingt ins Leere. – Ich sehe Sie an, ich weiß es, aber ich erfass' es nicht.
Julian. Felix! –
Felix. Sie sind mir ein Fremder geworden, seit ich es weiß. Er wendet sich ab.
Vorhang.