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Bei Julian Fichtner. Behagliches, recht vornehmes Zimmer in einiger Unordnung. Große Bücherschränke. Auf zwei Stühlen liegen Bücher geschichtet, auf einem andern eine geöffnete Reisetasche. – Julian vor dem Schreibtisch, nimmt Papiere aus den Laden, einige zerreißt er und wirft sie in den Papierkorb.
Julian und Diener. Dann Sala.
Der Diener meldet. Herr von Sala. Ab.
Sala tritt ein. – Salas Gewohnheit, im Gespräch auf und ab zu gehen, tritt während dieser Szene sehr hervor. Gelegentlich setzt er sich für einen Augenblick, manchmal nur auf eine Lehne. Zuweilen bleibt er bei Julian stehen, legt ihm die Hand auf die Schulter, während er spricht. Zwei- bis dreimal während der Szene berührt er mit der Hand seine linke Brustseite, als empfände er dort ein Unbehagen; nicht auffällig.
Julian. Ich freue mich sehr. Händedruck.
Sala. Also heute früh sind Sie gekommen?
Julian. Ja.
Sala. Und bleiben –?
Julian. Das ist noch unbestimmt. Ich bin in einiger Unordnung, wie Sie sehen. Es wird hier wohl überhaupt keine rechte Ordnung werden. Ich will diese Wohnung aufgeben.
Sala. Schade; ich war sie so gewohnt. Wohin wollen Sie denn ziehen?
Julian. Es ist möglich, daß ich vorläufig gar kein festes Quartier nehme und so herumwandere wie in den letzten Jahren. Ich habe sogar die Idee, meine Sachen verauktionieren zu lassen.
Sala. Das ist mir kein sympathischer Gedanke.
Julian. Ja, sympathisch ist mir der Gedanke eigentlich auch nicht. Aber es kommt auch die materielle Seite der Frage ein wenig in Betracht. Ich habe zuviel gebraucht in diesen letzten Jahren, das muß sich irgendwie wieder ausgleichen. Später richt' ich mich wohl wieder neu ein. Irgend einmal kommt man doch wieder zur Ruhe und zur Arbeit. – Nun, wie geht's Ihnen denn? Was machen unsere Freunde und Bekannten?
Sala. Haben Sie denn noch niemanden gesehen?
Julian. Niemanden. Ich hab' auch nur Ihnen geschrieben, daß ich da bin.
Sala. Also Sie waren noch nicht bei Wegrats?
Julian. Nein. Ich zögere sogar hinzugehen.
Sala. Wie? . . .
Julian. Man sollte eigentlich in gewissen Jahren die Orte gar nicht mehr betreten, in denen man jüngere Tage verbracht hat. Man findet die Dinge und Menschen selten so wieder, wie man sie verlassen. Nicht wahr? – Frau Gabriele soll sich ja im Laufe ihrer Krankheit recht sehr verändert haben. Felix sprach mir wenigstens davon. Ich möchte es am liebsten vermeiden, sie wiederzusehen. Das müssen Sie doch verstehen, Sala.
Sala etwas befremdet. Natürlich versteh' ich das. Wie lang haben Sie denn keine Nachricht aus Wien gehabt?
Julian. Ich bin meinen Briefen immer vorausgereist. Seit vierzehn Tagen hat mich keiner eingeholt. Betreten. Was gibt's denn?
Sala. Frau Gabriele ist vor etwa acht Tagen gestorben.
Julian. Oh! Er ist sehr bewegt, gebt im Zimmer bin und her, dann setzt er sich nieder und sagt nach einer Pause: Man mußte wohl darauf gefaßt sein, und doch . . .
Sala. Sie starb einen sanften Tod, – wie die andern Leute ja immer so bestimmt wissen. Immerhin, sie ist eines Abends ruhig entschlummert und nicht wieder erwacht.
Julian sehr leise. Arme Gabriele! – Haben Sie sie in der letzten Zeit gesehen?
Sala. Ja. Ich kam beinahe täglich hin.
Julian. So?
Sala. Johanna hat mich darum gebeten. Sie hat sich nämlich geradezu gefürchtet, mit ihrer Mutter allein zu sein.
Julian. Gefürchtet?
Sala. Sie hatte eine Art Grauen vor der kranken Frau. Jetzt ist sie eher ruhiger.
Julian. Seltsames Geschöpf . . . – Und unser Freund, der Professor, wie trägt er den Verlust? Gottergeben, nicht wahr?
Sala. Lieber Julian, der Mann hat einen Beruf. Ich glaube, wir können das gar nicht fassen, dir wir von Gnaden des Augenblicks Götter – und zuweilen etwas weniger als Menschen sind.
Julian. Felix ist natürlich noch hier?
Sala. Ich sprach ihn erst vor einer Stunde, und teilte ihm mit, daß Sie da wären. Er hat sich sehr gefreut, daß Sie ihn in Salzburg besucht haben.
Julian. Das schien mir so. Und es hat mir sehr wohl getan. Ich trage mich übrigens mit der Idee, in Salzburg Aufenthalt zu nehmen.
Sala. Für immer?
Julian. Für einige Zeit. Auch um Felix' willen. Sein frisches Wesen berührt mich so angenehm, macht mich geradezu selbst jünger. Wär' er mein Sohn nicht, ich würd' ihn vielleicht beneiden – und nicht um seine Jugend allein. Lächelnd. So bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn zu lieben. Es hat wahrhaftig etwas Beschämendes für mich, daß ich es sozusagen inkognito tun muß.
Sala. Kommen alle diese Empfindungen nicht ein wenig spät?
Julian. Sie existieren wohl schon länger, als ich selbst weiß. Und dann, Sie wissen ja, ich sah den Jungen zum ersten Male, als er schon zehn oder elf Jahre alt war und erfuhr erst damals, daß er mein Sohn sei.
Sala. Das muß ein seltsames Wiedersehen gewesen sein zwischen Ihnen und Frau Gabriele, zehn Jahre, nachdem Sie den schnöden Verrat begangen – wie unsere Ahnen gesagt hätten.
Julian. Es war nicht einmal so seltsam. Es fügte sich ungezwungen. Kurz nachdem ich aus Paris zurückgekehrt war, begegnete ich Wegrat zufällig auf der Straße. Wir hatten ja gelegentlich von einander gehört und traten einander als alte Freunde entgegen. Es gibt Menschen, die zu derlei Schicksalen geboren sind . . . Und was Gabriele anbelangt – –
Sala. Die hat Ihnen natürlich verziehen.
Julian. Verziehen? . . . Es war mehr und weniger. Nur einmal sprachen wir von der Vergangenheit – sie ohne Vorwurf, ich ohne Reue; als wäre jene Geschichte andern begegnet. Und dann nie wieder. Ich hätte glauben können, jene Zeit wäre durch ein Wunder aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Und eigentlich bestand für mich zwischen dieser stillen Frau und dem Wesen, das ich einmal geliebt hatte, gar kein wirklicher Zusammenhang. Und den Jungen – das wissen Sie ja – hatt' ich anfangs gewiß nicht lieber, als ich irgend ein anderes hübsches und begabtes Kind lieb gehabt hätte. – Nun ja, vor zehn Jahren sah es in meinem Leben anders aus als heute. Damals hielt ich noch so vieles fest, was mir seither entglitten ist. Erst im Laufe der folgenden Jahre zog es mich immer stärker in das Haus, bis ich begann, mich dort heimisch zu fühlen.
Sala. Daß ich damals den Zusammenhang zu verstehen anfing, haben Sie mir hoffentlich nicht übel genommen.
Julian. Immerhin, Sie fanden mich nicht sehr vernünftig . . .
Sala. Warum? Ich finde ja auch, daß das Familienleben an sich etwas sehr hübsches ist. Aber es sollte sich doch wenigstens in der eigenen abspielen.
Julian. Sie wissen ja, daß ich mich selbst des Widersinnigen in diesen Beziehungen manchmal geradezu schämte. Das war sogar mit einer der Gründe, der mich davontrieb. Natürlich kam damals noch manches andere dazu, was mich verstimmte. Insbesondere, daß ich mit meinen Arbeiten kein rechtes Glück hatte.
Sala. Sie hatten doch schon lange vorher nichts mehr ausgestellt.
Julian. Ich meine es auch nicht äußerlich. Es wollte eben keine gute Stimmung mehr kommen, und ich hoffte, das Reisen würde mir auch diesmal helfen, wie schon oft in früherer Zeit.
Sala. Und wie ist es Ihnen denn nun ergangen? Man hat ja so selten von Ihnen gehört! Sie hätten mir wirklich öfter und ausführlicher schreiben können. Sie wissen ja, daß Sie mir viel lieber sind als die meisten andern Menschen. Wir bringen einander die Stichworte so geschickt – finden Sie nicht? Es gibt pathetische Leute, die solche Beziehungen Freundschaft nennen. Übrigens ist es nicht unmöglich, daß wir uns im vorigen Jahrhundert »du« gesagt, am Ende gar, daß Sie sich an meinem Busen ausgeweint hätten. Sie haben mir manchmal gefehlt in diesen zwei Jahren, – wahrhaftig! Wie oft hab' ich auf einsamen Spaziergängen an unsere schönen Plauderstunden im Dornbacher Park gedacht, wo wir zitierend »die tiefst' und höchsten Dinge dieser Welt« bis auf weiteres zu erledigen pflegten. – Nun Julian, woher kommen Sie denn eigentlich?
Julian. Aus Tirol. Diesen Sommer hab' ich große Fußwanderungen unternommen. Bin sogar Bergsteiger geworden auf meine alten Tage. Eine Woche hab' ich auf einer Alm verlebt . . . Ja, ich habe allerlei getrieben. Was man so versucht, wenn man allein ist.
Sala. Sie waren wirklich allein?
Julian. Ja.
Sala. Die ganzen letzten Jahre?
Julian. Wenn ich von einigen lächerlichen Unterbrechungen absehe – ja.
Sala. Nun, dem hätte sich doch abhelfen lassen.
Julian. Ich weiß. Aber mit dem, was mir in dieser Art noch zu Gebote steht, ist mir nicht gedient. Ich bin sehr verwöhnt gewesen, Sala. Mein Leben ist bis zu einer gewissen Epoche wie in einem Rausch von Zärtlichkeit und Leidenschaft, ja von Macht dahingeflossen. Und damit geht es zu Ende. Ach Sala, was für erbärmliche Lügen habe ich mir in den letzten Jahren erschleichen, erbetteln, erkaufen müssen! Es ekelt mich, wenn ich zurückdenke, und wenn ich nach vorwärts schaue, graut mir. Und ich frage mich: Soll wirklich von aller Glut, mit der ich die Welt umfaßt habe, nichts übrig bleiben als eine Art törichter Grimm, daß es vorbei sein, – daß ich, ich menschlichen Gesetzen so gut unterworfen sein muß als ein anderer?
Sala. Warum diese Erbitterung, Julian? Es gibt doch noch mancherlei auf Erden, selbst wenn uns etliche Vergnügungen und Genüsse früherer Zeit abgeschmackt oder unwürdig erscheinen. Und gerade Sie sollten das nicht empfinden, Julian?
Julian. Winden Sie dem Schauspieler seine Rolle aus der Hand und fragen Sie ihn, ob ihm die schönen Kulissen Spaß machen, zwischen denen er stehen blieb.
Sala. Aber Sie haben doch auf Ihren Fahrten wieder zu arbeiten angefangen?
Julian. So gut wie nichts.
Sala. Felix erzählte, daß Sie aus Ihrem Koffer ein paar Skizzen hervorgeholt und ihm gezeigt hätten f
Julian. Er sprach davon?
Sala. Und alles mögliche Gute.
Julian. Wahrhaftig?
Sala. Und da Sie ihm die Sachen zeigten, werden Sie wohl selbst etwas davon gehalten haben.
Julian. Es war nicht deshalb, daß ich sie ihn sehen ließ. Auf und ab. Ich will es Ihnen gestehen – auf die Gefahr hin, daß Sie mich für einen vollkommenen Narren halten.
Sala. Auf ein bißchen mehr oder weniger kommt es nicht an. Reden Sie nur.
Julian. Ich wünschte, daß er wenigstens den Glauben an mich nicht verliert. Begreifen Sie das? Er steht mir nun einmal näher als die andern. Ich weiß es ja; – für alle, ja auch für Sie bin ich ein Heruntergekommener, einer, der fertig ist, einer, dessen ganzes Talent seine Jugend war. Es liegt mir nicht besonders viel daran. Aber für Felix will ich der sein, der ich einmal war – und der ich auch noch bin. Wenn er einmal erfährt, daß ich sein Vater bin, soll er stolz darauf sein.
Sala. Wenn er es erfährt . . .?
Julian. Ich habe nicht die Absicht, es ihm für alle Zukunft geheim zu halten. Jetzt, da seine Mutter tot ist, weniger als je. Als ich ihn das letzte Mal sprach, wurde es mir ganz klar, daß man nicht nur das Recht, daß man beinahe die Pflicht hat, ihm die Wahrheit zu sagen. Er hat den Sinn für das Wesentliche. Er wird alles verstehen. Und ich würde einen Menschen haben, der zu mir gehört, der es weiß, daß er zu mir gehört, und für den weiter auf der Welt zu sein, es sich der Mühe lohnt. Ich würde in seiner Nähe leben, würde viel mit ihm zusammen sein. Ich würde meine Existenz sozusagen wieder auf eine feste Basis gestellt haben, nicht so in der Luft schweben wie jetzt. Und ich könnte wieder arbeiten, – wie früher einmal – wie als junger Mensch. Arbeiten werd' ich, ja – und ihr sollt euch alle geirrt haben – alle!
Sala. Aber wem fällt es denn ein, an Ihnen zu zweifeln? Hätten Sie uns doch nur neulich reden gehört, Julian. Jedermann erwartet von Ihnen, daß Sie sich früher oder später – vollkommen wiederfinden werden.
Julian. Ach genug von mir, genug von mir. Verzeihen Sie. Reden wir doch endlich von Ihnen. Sie bewohnen wohl schon Ihr neues Haus?
Sala. Ja.
Julian. Und was haben Sie für die nächste Zeit vor?
Sala. Ich gedenke mit dem Grafen Ronsky nach Asien zu gehen.
Julian. Mit Ronsky? Sie schließen sich dieser Expedition an, von der man so viel liest?
Sala. Ja. Solch ein Unternehmen reizt mich schon seit langem. Kennen Sie vielleicht den Bericht von Rolston über die baktrischen und medischen Ausgrabungen vom Jahr 92?
Julian. Nein.
Sala. Der ist geradezu erschütternd. Denken Sie, unter dem Schutt und Staub vermutet man eine Riesenstadt, etwa von der Ausdehnung des heutigen London. Damals sind sie in einen Palast hinuntergestiegen und haben die wundervollsten Malereien gefunden. In einigen Gemächern waren sie vollkommen erhalten. Und Stufen haben sie ausgeschaufelt; aus einem Marmor, der sonst nirgends gefunden wurde. Vielleicht stammt er von einer Insel, die seither ins Meer versunken ist. Dreihundertzwölf Stufen, glänzend wie Opale, die in eine unbekannte Tiefe hinabführen . . . Unbekannt, denn bei der dreihundertzwölften Stufe haben sie aufgehört, zu graben – weiß Gott, warum! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich diese Stufen intriguieren.
Julian. Man hörte doch immer, daß diese Rolstonsche Expedition zugrunde gegangen wäre?
Sala. Es war nicht gar so schlimm. Von den vierundzwanzig Europäern sind nach drei Jahren immerhin acht zurückgekehrt, und ein halbes Dutzend verloren sie schon auf der Hinreise. Man kommt durch arge Fiebergegenden. Dann gab es damals auch einen Überfall durch die Kurden, bei dem einige drauf gingen. Aber wir werden viel besser ausgerüstet sein. Überdies treffen wir an der Grenze mit einer russischen Abteilung zusammen, die unter militärischer Bedeckung reist. Auch hier gedenkt man übrigens der Sache einen politisch-militärischen Anstrich zu geben. Und was das Fieber anbelangt, – vor dem hab' ich keine Angst . . . das kann mir nichts anhaben. In den Thermen des Caracalla – es ist Ihnen doch bekannt, wie versumpft dort der Boden ist – hab' ich als ganz junger Mensch eine Reihe der gefährlichsten Sommernächte verbracht und bin gesund geblieben.
Julian. Das beweist doch nichts.
Sala. Immerhin einiges. Ich traf dort mit einer Römerin zusammen, deren Haus ganz nahe der Appischen Straße stand; die bekam das Fieber und starb sogar daran . . . Nun freilich, ich bin nicht mehr so jung wie damals, aber ich fühle mich soweit ganz frisch.
Julian der sich schon früher eine Zigarette angezündet hat, Zigaretten anbietend. Rauchen Sie nicht?
Sala. Danke. Ich sollte eigentlich nicht. Erst gestern hat es mir der Doktor Reumann verboten . . . Nichts besonderes – das Herz ist ein bißchen unruhig. Na, die eine wird wohl weiter nicht schaden.
Julian, Sala und Diener. Dann Irene Herms.
Diener. Fräulein Herms fragt, ob der gnädige Herr zu sprechen sei.
Julian. Gewiß. Ich lasse bitten.
Diener ab.
Irene Herms tritt ein. Sie ist etwa 43 Jahre alt, sieht aber jünger aus. Sie ist einfach und geschmackvoll gekleidet. Ihre Bewegungen sind lebendig, zuweilen von einer beinahe jugendlichen Hastigkeit. Ihr Haar ist dunkelblond und reich, die Augen heiter, manchmal gütig und leicht zu Tränen geneigt. Sie tritt lächelnd ein, nickt Sala freundlich zu und reicht Julian, der ihr entgegenging, mit einem beinahe glücklichen Gesichtsausdruck die Hand. Guten Abend. Na? Sie hat die Gewohnheit, dieses »Na« im fragend herzlichen Ton auszusprechen. Hab' ich also doch recht getan, mich noch ein paar Tage zu gedulden! Da hab' ich ihn ja wieder. Zu Sala. Wissen Sie, wie lang wir uns nicht gesehen haben?
Julian. Über drei Jahre.
Irene nickt nur. Jetzt erst läßt sie ihre Hand aus der seinen. Das ist in unserm ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Dein letzter Brief ist auch schon zwei Monate alt. Ich sage »Brief«, um mich nicht zu blamieren: es war aber nur eine Ansichtskarte. Wo bist du nur überall herumgeflogen?
Julian. Setz' dich doch. Das wirst du alles erfahren. Willst du nicht den Hut ablegen? Du bleibst doch ein bißchen?
Irene. Selbstverständlich. – Nein, wie du aussiehst! Zu Sala. Schön – nicht wahr? Ich hab's immer gewußt: Der graue Bart wird ihm sehr interessant stehen.
Sala. Jetzt werden Sie lauter angenehme Dinge zu hören bekommen. Ich muß mich nun leider entfernen.
Irene. Hoffentlich vertreib' ich Sie nicht?
Sala. Was fällt Ihnen ein, Fräulein Herms!
Irene. Sie gehen wohl zu Wegrats? – Was sagst du zu dem Unglück, Julian? Es ist furchtbar! Zu Sala. Bitte, grüßen Sie dort.
Sala. Ich gehe jetzt nicht hin, ich gehe nach Hause.
Irene. Nach Hause? Das sagen Sie so einfach? Sie sollen ja jetzt ein Schloß bewohnen.
Sala. Nein, nichts weniger. Es ist ein bescheidenes Landhaus. Es wäre mir ein besonderes Vergnügen, Fräulein Herms, wenn Sie sich einmal persönlich davon überzeugen wollten. Mein Garten ist wirklich schön.
Irene. Haben Sie auch Obstbäume und Gemüsepflanzen?
Sala. In dieser Hinsicht kann ich nur mit einem verirrten Kohlkopf und mit einem wilden Birnbaum dienen.
Irene. Nun, wenn es meine Zeit noch erlaubt, so komm' ich wirklich einmal und schau' mir Ihre Villa an.
Julian. Willst du so bald wieder fort?
Irene. Ja natürlich. Ich muß wieder nach Hause. Erst heut früh hab' ich einen Brief von meinem kleinen Neffen – er sehnt sich nach mir. Ein Fratz von fünf Jahren und sehnt sich auch schon. Was sagen Sie dazu?
Sala. Sie sehnen sich wohl auch schon zurück?
Irene. Es ist nicht das. Aber ich fang' an, mich zu sehr an Wien zu gewöhnen. Wenn ich hier in den Straßen umherspaziere, da gibt es Erinnerungen auf Schritt und Tritt. – Denk' dir, wo ich gestern war, Julian. In der Wohnung, wo ich als Kind gelebt habe. Das war gar nicht so einfach, es wohnen jetzt fremde Leute drin. Ich bin aber doch in den Zimmern gewesen.
Sala liebenswürdig ironisch. Wie haben Sie denn das angestellt, Fräulein Herms?
Irene. Ich hab' mich unter einem Vorwand eingeschlichen. Ich hab' getan, als meint' ich, es wäre da ein Kabinett zu vermieten – für eine alleinstehende ältere Dame. Aber schließlich hab' ich so zu weinen angefangen, daß mich die Leute wahrscheinlich für närrisch gehalten haben. Und da hab' ich ihnen gesagt, warum ich eigentlich heraufgekommen bin. Ein Postbeamter wohnt jetzt drin, mit seiner Frau und zwei Kindern. Das eine war ein so lieber Kerl; es hat mit einer Eisenbahn gespielt, mit einer Lokomotive zum Aufziehen, und die ist mir immer über den Fuß gerannt . . . Aber das wird Sie wahrscheinlich nicht sehr interessieren, Herr von Sala.
Sala. Daß Sie sich gerade unterbrechen, Fräulein Herms, wenn es am spannendsten wird! Ich hätte so gern noch weiter zugehört. Aber nun muß ich leider wirklich gehen. Grüß' Sie Gott, Julian. – Also, Fräulein Herms, ich rechne auf die Ehre Ihres Besuches. Geht ab.
Julian und Irene.
Irene. Gott sei Dank!
Julian lächelnd. Ist er dir noch immer so unsympathisch?
Irene. Unsympathisch? . . . Ich hasse ihn! Es ist ja nur deine unglaubliche Seelengüte, daß du ihn in deiner Nähe duldest. Du hast keinen ärgern Feind.
Julian. Wie kommst du nur auf diese Idee?
Irene. Das spürt man doch . . . so was muß man doch spüren.
Julian. Ich glaube immer, du bist noch heute nicht ganz objektiv gegen ihn.
Irene. Warum denn?
Julian. Du trägst ihm nach, daß du vor zehn Jahren in seinem Stück keinen Erfolg gehabt hast.
Irene. Das sind leider schon zwölf Jahre. Und meine Schuld war es nicht. Denn was seine sogenannten Dichtungen anbelangt, so halt' ich sie für Blödsinn. Und bekanntlich steh' ich mit dieser Ansicht nicht vereinzelt da. Aber du kennst ihn ja nicht. Um diesen Herrn in seiner ganzen Größe würdigen zu können, hat man ihn auf den Proben genießen müssen. Kopierend. Mein Fräulein, es sind Verse – Verse, mein Fräulein . . . Das muß man von ihm gehört haben, um zu wissen, was für eine maßlose Arroganz in ihm steckt . . . Übrigens weiß jeder Mensch, daß er seine Frau umgebracht hat.
Julian belustigt. Aber Kind, wie kommst du auf solche Ungeheuerlichkeiten!
Irene. Man stirbt nicht mit fünfundzwanzig Jahren so ganz von selbst.
Julian. Irene, das sagst du hoffentlich nicht zu andern Leuten.
Irene. Ist ja nicht notwendig. Das weiß doch jeder außer dir. Und ich für meinen Teil habe gar keinen Grund, Herrn von Sala zu schonen, der dich seit zwanzig Jahren mit seinem Hohn verfolgt.
Julian. Aber besuchen wirst du ihn doch?
Irene. Natürlich. Ich interessiere mich sehr für schöne Villen. Und seine soll entzückend sein. Wenn man nur Leute besuchen wollte . . .
Julian. Die niemanden umgebracht haben –
Irene. Wir tun ihm wirklich zu viel Ehre an, wenn wir so lange über ihn reden. Schluß. – Na, Julian? Wie geht's dir denn? Warum hast du mir denn gar so selten geschrieben? Hast du am End' nicht dürfen?
Julian. Dürfen? . . .
Irene. Ich meine, ob man dir's verboten hat.
Julian. Ach so. – Mir verbietet niemand was.
Irene. Wirklich? Du lebst so ganz für dich?
Julian. Ja.
Irene. Das freut mich. Ich kann mir nicht helfen, das freut mich, Julian. Obzwar es ja ein Unsinn ist. Heut oder morgen fängt doch wieder was Neues an.
Julian. Die Zeiten sind vorbei.
Irene. Wenn's nur wahr wäre. – Kann man einen Tee haben?
Julian. Gewiß. Hier ist der Samowar.
Irene. Wo denn?– Ach ja, hier! Und der Tee? . . . Ich weiß ja. Öffnet einen Schrank, nimmt die notwendigen Sachen heraus. Im Laufe der nächsten Minuten bereitet sie den Tee.
Julian. Du bleibst wirklich nur mehr ein paar Tage hier?
Irene. Ja, natürlich. Meine Bestellungen sind gemacht. Das kannst du dir ja denken, auf dem Gut bei meiner Schwester braucht man wahrhaftig keine Toiletten.
Julian. So erzähl' doch. Wie behagt's dir denn dort?
Irene. Herrlich! Ah, nur endlich vom Theater nichts mehr wissen, das ist schon eine Seligkeit.
Julian. Du kehrst ja doch einmal wieder dahin zurück.
Irene. Da irrst du dich aber gewaltig. Warum sollt' ich denn? Bedenke doch, daß ich jetzt am Ziel meiner Wünsche angelangt bin: Frische Luft, einen Wald in der Nähe; über Wiesen oder Äcker spazieren reiten, in der Früh' im Schlafrock in einem großen Park sitzen, wo keiner hinein darf. Überhaupt: Keine Leut', keinen Direktor, kein Publikum, keine Kollegen, keine Verfasser – obwohl sie nicht alle so arrogant sind wie dein angebeteter Sala. – Na also, und das alles hab' ich erreicht. Ich leb' auf dem Land, ich hab' ein Gut, ein kleines Schlösserl kann man schon sagen, einen Park hab' ich und ein Pferd, und Schlafröck', so viel ich will. Es gehört zwar alles nicht mir – außer den Schlafröcken natürlich –, aber das bleibt sich ja gleich. Dabei leb' ich bei den besten Menschen, die es überhaupt auf der Welt gibt; denn mein Schwager ist womöglich ein noch prächtigerer Kerl als die Lori selbst.
Julian. Hat der nicht früher dir den Hof gemacht?
Irene. Aber wie! Er wollte mich um jeden Preis heiraten. Selbstverständlich! – Vorher sind sie ja alle in mich verliebt . . . gewesen – gewesen, mein' ich. Aber die Gescheitern sind meistens zur Lori übergegangen. Das hat mich immer ein bißchen mißtrauisch gegen dich gemacht, daß du nie in die Lori verliebt warst. Um was die besser ist als ich – na, das weißt du doch, darüber ist nichts zu reden. Was ich der schuldig bin! . . . Wenn die Lori nicht gewesen wäre –! – Also bei denen leb' ich jetzt seit einem halben Jahr.
Julian. Es ist nur die Frage, wie lang du's aushalten wirst.
Irene. Wie lange –? – Ja aber Julian, ich frage dich: Was soll mich veranlassen, aus einem solchen Paradies in den Sumpf zurückkehren, wo ich leider fünfundzwanzig Jahre meines Lebens verbracht habe? Was hab' ich denn überhaupt noch beim Theater zu suchen? Die bejahrten Fächer liegen mir nicht. Ich habe weder Neigung zur Heldenmutter noch zur spitzigen Dame, noch zur komischen Alten. Ich gedenke als Schloßfräulein zu sterben, als alte Jungfer sozusagen, und wenn alles gut geht, erscheine ich den Urenkeln meiner Schwester in hundert Jahren als weiße Dame. Mit einem Wort: Ich hab' das schönste Leben vor mir. – Was lachst denn?
Julian. Es freut mich, dich so lustig, – so jung wiederzusehen.
Irene. Das ist die Landluft, Julian. Das solltest du auch einmal auf längere Zeit versuchen. Herrlich! Ich hab' ja überhaupt meinen Beruf verfehlt: Der liebe Gott hat mich sicherlich zu einer Kuhdirn' oder zu einer Sennerin erschaffen wollen. Oder vielleicht zu einem Hirtenknaben. Ich hab' ja in Hosenrollen immer so gut ausgeschaut. – So. Darf ich dir auch gleich einschenken? Sie gießt ihm Tee ein. Hast du nichts dazu?
Julian. In der Tasche werden wohl noch ein paar Kakes sein. Er entnimmt der Reisetasche ein kleines Päckchen.
Irene. Danke. Famos.
Julian. Das ist übrigens eine ziemlich neue Schwärmerei von dir.
Irene. Die Kakes –?
Julian. Nein. Die Natur.
Irene. Wie kannst du das sagen? Ich habe die Natur immer unendlich geliebt. Denkst du nicht mehr an unsere Ausflüge von dazumal? Erinnerst du dich nicht, wie wir einmal an einem heißen Sommernachmittag im Wald eingeschlafen sind? Und denkst du nimmer an das Muttergottesbild oben auf dem Hügel, wo uns das Gewitter überrascht hat? . . . Ach Gott! Kein leerer Wahn, die Natur. Und gar später, wie die böse Zeit für mich gekommen ist, wie ich mich deinetwegen hab' umbringen wollen, ich Kamel . . . da war die Natur ganz einfach meine Rettung. Wirklich, Julian. Ich könnt' dir die Stelle noch zeigen, wo ich mich ins Gras geworfen und geweint hab'. Zehn Minuten vom Bahnhof, durch eine Akazienallee muß man gehen und dann weiter am Bach. Ja, ins Gras hab' ich mich geworfen und geweint und geheult. Es war nämlich ein Tag, wo du mich wieder einmal von deiner Türe davongejagt hast. Na, und wie ich eine halbe Stunde auf dem Gras gelegen war und mich recht ausgeweint hab', bin ich halt wieder aufgestanden – und bin auf der Wiese herumgelaufen. Wie ein kleiner Fratz, ganz allein für mich. Ich hab' mir die Augen ausgewischt, und es war mir eigentlich wieder ganz gut. Pause. Freilich, am nächsten Morgen bin ich wieder vor deiner Tür gewesen und hab' dich angejammert, und die Geschichte hat von vorn angefangen.
Es wird dunkler.
Julian. Daß du noch immer daran denkst.
Irene. Du doch auch. Na, und wer ist schließlich der Dumme von uns zweien gewesen? Wer? Frag' dich nur aufs Gewissen. Wer? . . . Bist du mit einer glücklicher gewesen als mit mir? Hat eine so an dir gehangen wie ich? Hat dich je eine andere so gern gehabt? . . . Gewiß nicht. Die dumme Geschichte, die mir dann im Engagement draußen passiert ist, meiner Seel', du hättest sie mir wirklich verzeihen können. Es ist wahrhaftig nicht so viel dran, wie ihr Männer immer draus macht – nämlich wenn's uns passiert. Sie trinken Tee.
Julian. Soll ich Licht machen?
Irene. Es ist ganz gemütlich in der Dämmerung.
Julian. »Nicht viel dran«, sagst du. Du magst ja recht haben. Aber wenn's einen trifft, wird man eben doch ziemlich rasend. Und wenn wir uns auch versöhnt hätten – es wäre doch nicht mehr das Rechte geworden. Es ist schon besser so. Wie's einmal verwunden war, sind wir ja die besten Freunde geworden und sind's geblieben. Das ist doch auch was sehr Schönes.
Irene. Ja. Heut bin ich auch ganz zufrieden. Aber damals –! O Gott, was war das für eine Zeit! Du weißt ja doch nichts davon. Nachher hab' ich dich erst so recht geliebt, – nachher, als ich dich durch meinen Leichtsinn verloren hatte. Ja, da hat sich erst sozusagen die wahre Treue in mir entwickelt. Denn was ich später erlebt habe . . . Aber es ist nicht zu verlangen, daß ein Mann so was versteht.
Julian. Ich versteh's ganz gut, Irene. Du kannst mir's glauben.
Irene. Im übrigen will ich dir was sagen, Julian; es war doch nur die gerechte Strafe für uns beide.
Julian. Für uns beide?
Irene. Ja. Darauf bin ich schon lang gekommen. Die gerechte Strafe.
Julian. Für uns beide?
Irene. Ja. Für dich auch.
Julian. Ja, wie meinst du das?
Irene. Wir haben's nicht anders verdient.
Julian. Wir? . . . Wieso denn?
Irene ernst. Du bist ja so gescheit, Julian. Was glaubst du: Wär' das damals geschehen – meinst du, ich hätt' so was anstellen können, wenn wir – ein Kind . . . wenn wir – das Kind gehabt hätten? Frag' dich doch aufs Gewissen, Julian – glaubst du's? Ich nicht, und du auch nicht. Alles wär' anders gekommen. Alles. Wir wären zusammen geblieben, wir hätten noch ein paar Kinder gekriegt, wir hätten uns geheiratet, wir möchten zusammen leben. Ich wär' nicht ein altes Schloßfräulein und du wärst nicht –
Julian. Ein alter Junggesell.
Irene. Na, wenn du's selber sagst. Und die Hauptsache: Wir hätten ein Kind. Ich hätt' ein Kind. Pause.
Julian ist im Zimmer auf- und abgegangen. Was soll das alles, Irene? Warum sprichst du wieder von allen diesen vergessenen –
Irene. Vergessenen?
Julian. – Vergangenen Dingen?
Irene. Vergangen sind sie freilich. Aber draußen auf dem Land hat man viel Zeit. Alles mögliche geht einem durch den Kopf. Und gar, wenn man andere Kinder sieht – die Lori hat nämlich zwei Buben –, fällt einem so manches ein. Neulich war's beinahe wie eine Vision.
Julian. Was denn?
Irene. Ich bin übers Feld gegangen gegen Abend. Das tu' ich manchmal, ganz allein. Weit und breit war niemand. Unten das Dorf ist auch ganz still dagelegen. Und ich spazier' so weiter, immer weiter gegen den Wald zu. Und plötzlich war ich nicht mehr allein. Du warst da. Und zwischen uns beiden das Kind. Das haben wir so an der Hand geführt – unser kleines Kind. Ärgerlich, um nicht zu weinen. Es ist ja zu dumm. Ich weiß doch, das Kind wär' jetzt ein Bengel von dreiundzwanzig Jahren, wär' vielleicht ein Lump oder ein schlechtes Mädel. Oder wär' vielleicht schon tot. Oder es wär' irgendwo draußen in der Welt und wir hätten gar nichts mehr von ihm . . . ja, ja. – Aber einmal hätten wir es doch gehabt, einmal war's doch ein kleines Kind gewesen und hätt' uns gern gehabt. Und . . . Sie kann nicht weiter. Stille.
Julian weich. Irene, rede dich doch nicht in solche Dinge hinein.
Irene. Das ist kein Hineinreden.
Julian. Gräm' dich nicht. Nimm's doch, wie es ist. Du hast anderes erlebt, vielleicht besseres. Dein Leben war reicher, als ein Mutterleben hätte sein können . . . Du warst eine Künstlerin.
Irene vor sich hin. Ich pfeif drauf.
Julian. Eine große, eine berühmte – das will doch was heißen. Du hast auch noch mancherlei anderes, sehr schönes erlebt – nach mir. Ich weiß es ja.
Irene. Was hab' ich davon? Was will das alles bedeuten? Eine Frau, die kein Kind hat, ist gar nie eine Frau gewesen. Aber eine, die einmal eins hätte haben können – haben müssen, und die – Blick. – – nicht Mutter geworden ist, das ist eine . . . ah! Aber das kann ja kein Mann verstehen! Das kann ja keiner verstehen! Der beste von euch ist in diesen Dingen noch immer eine Art von Schuft. Weiß denn einer von euch, wie viele von ihm in der Welt herumlaufen? Ich weiß wenigstens, daß ich keins gehabt hab'. Weißt du's überhaupt?
Julian. Und wenn ich es selbst wüßte –
Irene. Wieso? Hast du wirklich eins? – So red' doch. Julian, du kannst mir's schon sagen. Wo lebt's denn? Wie alt ist es denn? Ein Bub'? Ein Mädel?
Julian. Frag' doch nicht . . . Und wenn ich ein Kind hätte, es würde ja doch nicht mir gehören.
Irene. Er hat ein Kind! Er hat ein Kind! Pause. Warum läßt du's denn so in der Welt herumlaufen?
Julian. Du hast's ja selbst gesagt: – Der beste von uns ist in diesen Dingen auch noch eine Art von Schuft. Und ich bin nicht einmal der beste.
Irene. Warum holst du dir's denn nicht?
Julian. Was geht's mich denn überhaupt an? Was dürft' es mich angehen? Genug . . . Pause. – Willst du noch eine Tasse Tee?
Irene. Danke, danke. Nicht mehr. Pause. Es dämmert. Er hat ein Kind, und ich hab's nicht gewußt!
Lange Pause.
Julian, Irene und Diener. Dann Felix.
Der Diener tritt ein.
Julian. Was gibt's?
Diener. Herr Leutnant Wegrat fragt, ob der gnädige Herr zu Hause sind.
Julian. Gewiß. Ich lasse bitten.
Diener hat das Licht eingeschaltet und geht ab.
Irene. Der junge Wegrat? – Ich dachte, er sei schon wieder fort. – Der arme Junge, er war wie vernichtet.
Julian. Das denk' ich mir.
Irene. Du hast ihn in Salzburg besucht?
Julian. Ja. Im August war ich ein paar Tage dort.
Felix in Zivilkleidung tritt ein. Guten Abend.–Guten Abend, Fräulein Herms.
Irene. Guten Abend, Herr Leutnant.
Julian. Mein lieber Felix . . . ich wollte zu euch kommen – noch heute abend. Es ist sehr freundlich von dir, daß du dich herbemühst.
Felix. Übermorgen muß ich schon fort, und so wußt' ich gar nicht, ob ich überhaupt noch Gelegenheit finden würde, Sie zu sehen.
Julian. Möchtest du nicht ablegen? – Ich hatte keine Ahnung, denk' dir. Erst Sala teilte es mir mit – vor kaum einer Stunde.
Irene betrachtet beide.
Felix. Das ahnten wir nicht, als wir im Sommer miteinander im Mirabellgarten spazieren gingen.
Julian. Es ist sehr rasch gekommen?
Felix. Ja. Und ich konnte nicht bei ihr sein . . . Am späten Abend bin ich abgereist, und in der Nacht darauf ist sie gestorben.
Irene. Vielmehr: sie ist am nächsten Morgen nicht mehr erwacht.
Felix. Ihnen, Fräulein Herms, haben wir viel zu danken.
Irene. Aber!
Felix. Meine Mutter hat sich immer so sehr gefreut, wenn Sie bei ihr waren, mit ihr geplaudert oder ihr Klavier vorgespielt haben.
Irene. O, mein Klavierspiel –!
Eine Uhr schlägt.
Irene. Schon so spät!? Da muß ich ja gehen.
Julian. Warum eilen Sie, Fräulein Herms?
Irene. Ich fahre in die Oper. Die paar Tage, die ich noch hier bin, will ich doch ausnützen.
Felix. Sehen wir Sie noch bei uns, Fräulein Herms?
Irene. Gewiß. – Sie reisen ja schon früher fort als ich.
Felix. Ja. Mein Urlaub geht zu Ende . . .
Irene wie beiläufig. Wie lang sind Sie denn jetzt eigentlich schon Offizier, Felix?
Felix. Das bin ich schon vor drei Jahren geworden, – aber erst im Jahr drauf hab' ich mich aktivieren lassen. Ein bißchen spät.
Irene. Spät? Warum? – Wie alt sind Sie denn, Felix?
Felix. Dreiundzwanzig Jahre.
Irene. So. Pause. – Aber wie ich Sie vor vier Jahren als Freiwilligen gesehen habe, hab' ich mir gleich gedacht, Sie werden beim Militär bleiben. – Erinnern Sie sich, Julian? Ich hab' es Ihnen damals gesagt.
Julian. Ja –
Felix. Das war wohl im Sommer, wie Sie uns das letzte Mal besucht haben.
Irene. Ich glaube . . .
Felix. Seither ist viel anders geworden.
Irene. Wahrhaftig! Das waren noch ein paar heitre Tage. – Nicht wahr, Julian? Wir haben uns ja auch seither nicht mehr gesehen, seit diesen schönen Sommerabenden in dem Garten bei Wegrats.
Julian nickt.
Irene hat Felix und. Julian noch einigemal betrachtet. – Kleine Pause. Jetzt ist's aber wirklich höchste Zeit, daß ich gehe. – Adieu. Grüßen Sie zu Hause, Herr Leutnant. – Adieu, Julian. Sie geht, von Julian zur Tür begleitet.
Felix und Julian.
Felix. Hat sich hier nicht einiges verändert?
Julian. Nicht, daß ich wüßte. Wie sollte dir das übrigens auffallen; du warst doch nur zwei- oder dreimal hier.
Felix. Ja. Aber das letzte Mal in einem recht wichtigen Moment meines Lebens. Ich kam, Sie um Rat fragen.
Julian. Nun hat sich ja alles nach deinem Wunsch gefügt. Und auch dein Vater hat sich dreingefunden.
Felix. Ja, er hat sich dreingefunden. Es wäre ihm wohl lieber gewesen, wenn ich bei der Technik geblieben wäre; aber nun sieht er ja, daß man auch in Uniform ein ganz vernünftiges Leben führen kann – ohne Schulden, ohne Duelle. Ach, es ist beinahe allzu behaglich. Aber erwarten kann unsereiner immerhin mehr als mancher andere; das ist auch etwas.
Julian. Und wie geht's denn zu Hause?
Felix. Zu Hause . . . Wahrhaftig, das Wort hat beinahe seinen Sinn verloren.
Julian. Hat dein Vater schon wieder seine Arbeiten aufgenommen?
Felix. Natürlich. Zwei Tage nachher saß er wieder in seinem Atelier. Es ist bewunderungswürdig. Aber ich versteh' es nicht ganz . . . Stör' ich Sie nicht, Herr Fichtner? Sie wollten Papiere in Ordnung bringen?
Julian. Ach, das eilt nicht. Die Ordnung ist rasch gemacht. Das meiste wird verbrannt.
Felix. Wie?
Julian. Es ist doch am vernünftigsten, Dinge, die man kaum mehr ansehen würde, zu vernichten.
Felix Macht Sie das nicht ein bißchen traurig, so mit Ihrer Vergangenheit aufzuräumen?
Julian. Traurig? . . . Dazu ist es doch ein zu natürlicher Vorgang.
Felix. Das kann ich nicht finden. Sehen Sie: Einen Brief oder ein Bild oder sonst etwas der Art gleich verbrennen, nachdem man's bekommen hat, das scheint mir selbstverständlich. Aber etwas, das überhaupt wert war, aus einem lebendigen Glück oder aus einem lebendigen Schmerz Erinnerung zu werden, das sollte eigentlich diese Bedeutung nie wieder verlieren können. Und nun gar in einem Leben wie das Ihrige, das so reich und so bewegt war. Haben Sie nicht selbst zuweilen eine gewisse . . . Ehrfurcht vor Ihrer Vergangenheit?
Julian. Wie kommst du auf solche Gedanken – du, der du so jung bist?
Felix. Es geht mir eben durch den Sinn.
Julian. Du hast vielleicht nicht unrecht. Aber es kommt noch etwas dazu, das mich veranlaßt, aufzuräumen. Ich bin im Begriff, sozusagen heimatlos zu werden.
Felix. Wie?
Julian. Ich gebe diese Wohnung auf und weiß noch nicht recht, wie es weiter werden soll. Da ist es mir lieber, mit den Dingen ein reinliches Ende zu machen, als sie in einer Kiste begraben und in einem Keller vermodern zu lassen.
Felix, Es muß Ihnen doch um mancherlei leid tun.
Julian. Ich wüßte kaum.
Felix. Und Sie haben gewiß auch manche Erinnerungszeichen, die nicht für Sie allein etwas bedeuten. Entwürfe aller Art, die Sie gewiß zum Teil aufbewahrt haben.
Julian. Denkst du an die Kleinigkeiten, die ich dir in Salzburg gezeigt habe?
Felix, Auch an die denk' ich natürlich.
Julian. Die sind noch eingepackt. Willst du sie haben?
Felix. Gern. Ich werde Ihnen sehr dankbar sein. Sie haben einen ganz eigenen Reiz auf mich ausgeübt. Pause. Aber ich habe noch eine andere Bitte an Sie. Eine sehr große. Wenn Sie mir erlauben . . .
Julian. Rede doch.
Felix. In Ihrem Besitze dürfte sich noch ein Porträt meiner Mutter aus ihrer Mädchenzeit befinden. Ein kleines Bild in Aquarellfarben, das Sie selbst gemalt haben.
Julian. Ja, ein solches Bild hab' ich gemalt.
Felix. Und Sie haben es noch?
Julian. Ich denke wohl, daß es sich finden wird.
Felix. Das möcht' ich gerne sehen.
Julian. An dieses Bild erinnerte sich deine Mutter . . .?
Felix. Ja. Sie sprach mir davon am letzten Abend, an dem ich sie sah, am Abend vor ihrem Ende. Ich habe damals freilich nicht geahnt, daß es so nahe war . . . und sie wohl auch nicht. Heute erscheint es mir allerdings eigentümlich, daß sie gerade an diesem Abend so viel von längst verflossenen Tagen sprach.
Julian. Und auch von diesem kleinen Bild?
Felix. Es soll sehr gelungen sein.
Julian wie nachdenkend. Wo mag ich es nur aufbewahrt haben? Warte . . . Er geht zu einem Bücherschrank, dessen unterer Teil durch eine Tür verschlossen ist. Er öffnet die Türe, einige Fächer werden sichtbar, in denen Mappen liegen. Ich habe es auf dem Land gemalt, in dem kleinen Häuschen, das deine Großeltern bewohnten.
Felix. Ich weiß.
Julian. An die alten Leute kannst du dich wohl kaum erinnern?
Felix. Ganz dunkel. Es waren sehr einfache Menschen, nicht wahr?
Julian. Ja. Er hat eine große Mappe aus einem Fach genommen. In dieser Mappe wird es wohl sein. Legt sie auf den Schreibtisch und öffnet sie. Er setzt sich.
Felix steht hinter ihm, blickt über seine Schulter.
Julian. Das hier ist das Häuschen, in dem sie wohnten, deine Großeltern und deine Mutter. Blättert weiter. Und dies hier, das ist der Ausblick ins Tal vom Friedhof aus.
Felix. Sommer . . .
Julian. Ja. – Und dies hier, das ist das kleine Dorfwirtshaus, in dem ich und dein Vater wohnten . . . Und das – – Er betrachtet das Blatt still. Beide schweigen längere Zeit.
Felix nimmt das Blatt in die Hand. Wie alt war meine Mutter damals?
Julian der sitzen bleibt. Achtzehn Jahre.
Felix entfernt sich ein wenig von ihm, lehnt an einem Bücherschrank, wie um das Bild in besserm Licht zu betrachten. Also ein Jahr, bevor sie heiratete.
Julian. Es ist im selben Jahr gemalt. Pause.
Felix. Wie merkwürdig es mich aus diesen Augen anschaut . . . Diese Lippen lächeln, sie reden beinahe zu mir . . .
Julian. Was hat dir denn deine Mutter erzählt – an diesem letzten Abend?
Felix. Nicht viel. Aber mir ist, als wüßt' ich mehr, als sie mir erzählt hat. Es ist seltsam zu denken: So wie sie mich aus diesem Bilde anblickt, hat sie auch Sie betrachtet. Mir scheint, als wenn eine gewisse Befangenheit in diesem Blick läge. Angst beinahe . . . So sieht man Menschen an, die aus einer andern Welt kommen, nach der man sich sehnt und die man doch fürchtet.
Julian. Damals war deine Mutter noch selten aus ihrem Dorf herausgekommen.
Felix. Sie war wohl anders als die meisten Frauen, die Ihnen begegnet sind, nicht wahr? . . . Warum schweigen Sie? Ich gehöre nicht zu den Menschen, die es nicht begreifen – nicht begreifen wollen, daß auch Mütter und Schwestern Frauen sind. Ich kann mir wohl denken, daß damals eine Gefahr über ihr schwebte . . . und über einem andern. Einfach. Sie haben meine Mutter sehr lieb gehabt?
Julian. Du fragst sonderbar. – Ja, ich habe sie lieb gehabt.
Felix. Und es waren gewiß sehr glückliche Stunden, als Sie in dem kleinen Garten am grünumrankten Zaune saßen, mit dieser Leinwand auf den Knien, und Ihnen gegenüber auf der hellen Wiese, mitten unter roten und weißen Blumen, stand dieses junge Mädchen, den Strohhut in der Hand mit den angstvoll lächelnden Augen.
Julian. Von diesen Stunden sprach deine Mutter am letzten Abend?
Felix. Ja. – Es ist vielleicht kindisch, aber seither erscheint es mir wie unmöglich, daß Ihnen irgend ein Wesen mehr bedeutet haben sollte als dieses.
Julian immer bewegter, aber einfach. Ich will darauf nicht antworten. – Am Ende käme ich in die Versuchung, mich unwillkürlich besser zu machen, als ich bin. Du weißt ja, wie ich mein Leben geführt habe, daß es keinen so geregelten und einfachen Verlauf genommen hat wie das von manchen anderen. Die Gabe, dauerndes Glück zu geben oder zu empfangen, lag wohl nicht in mir.
Felix. Das fühl' ich. Das hab' ich immer gefühlt. Manchmal mit einer Art von Bedauern, – von Schmerz beinahe. – Aber gerade Menschen wie Sie, die schon von Natur bestimmt scheinen, sehr vieles und wechselvolles durchzumachen . . . gerade solche Menschen, denk' ich mir, bewahren stille und milde Erinnerungen wie diese treuer und dankbarer in ihrem Gedächtnis als andere . . . an leidenschaftlichere und trübere Erlebnisse. – Hab' ich nicht recht?
Julian. Es mag wohl so sein.
Felix. Nie vorher hatte mir die Mutter von diesem Bild gesprochen. Ist es nicht sonderbar? . . . An jenem letzten Abend zum ersten Male. – Wir waren ganz allein auf der Veranda, den andern hatt' ich schon adieu gesagt . . . Und plötzlich begann sie von diesen fernen, fernen Sommertagen zu reden. In ihren Worten klang allerlei mit, was sie gewiß nicht ahnte. Ich glaube, ihre eigene Jugend, die sie selbst kaum mehr verstand, vertraute sich unbewußt der meinen an. Das hat mich mehr bewegt, als ich sagen kann. – So gern sie mich gehabt hat, nie hatte sie so zu mir gesprochen. Und ich glaube, so teuer wie in dieser Stunde ist sie mir nie vorher gewesen. – Und als ich endlich fort mußte, fühlte ich: sie hatte mir noch manches zu erzählen. – Sie werden es nun verstehen, warum ich eine so starke Sehnsucht hatte, dieses Bild zu sehen. – Mir ist wirklich, als könnte es weiter zu mir reden, wie es meine Mutter selbst getan hätte, – wenn ich sie noch einmal hätte fragen dürfen!
Julian. Frag' es nur . . . Frag' es, Felix.
Felix durch die Bewegtheit von Julians Stimme aufmerksam gemacht, sieht von dem Bilde auf zu ihm.
Julian. Ich denke wohl, daß es dir noch manches wird sagen können.
Felix. Was ist Ihnen? . . .
Julian. Willst du das Bild behalten?
Felix. Wie? . . .
Julian. Nun ja. Nimm es. Ich schenk' es dir nicht. Sobald ich ein ständiges Quartier habe, will ich es wieder haben. Du sollst es aber sehen dürfen, so oft du willst. Hoffentlich fügt es sich, daß es dich keinen zu weiten Weg kostet.
Felix die Augen auf das Bild gerichtet. Es wird lebendiger von Sekunde zu Sekunde . . . Dieser Blick war auf Sie gerichtet! . . . Dieser Blick –? Sollt' ich ihn ganz verstehen?
Julian. Auch Mütter haben ihre Schicksale wie andere Frauen.
Felix. Ich glaube wirklich, es verschweigt mir nichts mehr. Legt das Bild bin. – Große Pause. – Er sieht ihn an.
Julian. Nimmst du es nicht mit dir?
Felix. Nicht jetzt. Es gehört Ihnen mehr, als ich ahnte.
Julian. Und dir . . .
Felix. Nein, ich will es doch erst haben, bis sich mir dieses Schicksal völlig geoffenbart hat. Er sieht Julian fest in die Augen. Ich weiß nicht, wie mir ist; es hat sich in Wirklichkeit doch nichts geändert? Nichts, – als daß ich weiß, was ich . . .
Julian. Felix!
Felix. Nein, das ahnt' ich nicht. Ihn mit einem langen Blick betrachtend, in dem Zärtlichkeit und eine Art von Neugier liegen. Leben Sie wohl.
Julian. Du willst jetzt gehen?
Felix. Es verlangt mich sehr, eine Weile allein zu sein. – Auf morgen.
Julian. Auf Wiedersehen, Felix. Morgen bin ich in euerm . . . morgen bin ich bei dir, Felix.
Felix. Ich erwarte Sie. Er geht.
Julian bleibt eine Weile ruhig stehen, dann geht er zum Schreibtisch und bleibt, in den Anblick des Bildes versunken, stehen.
Vorhang.