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Als Iktar am Abend des Fluchttages vergeblich auf Jubal gewartet hatte, und dann noch einen Tag nach dem andern, da ergrimmte er, und sein Groll sann, wie er diejenigen schlüge, die dem Sohn Aufnahme gewährten, und wie er seiner selbst wieder habhaft werden könnte. Dies alles konnte Iktar, dessen geheim wirkende Hand weit verzweigtere Ereignisse gelenkt hatte, keine schwere Aufgabe dünken, aber so groß auch sein Zorn war, der ihn zu schnellem Handeln drängte, noch größer war in den einsamen Nächten die stille Verzweiflung, welche die Härte seines Willens wie in Schleim auflöste. Hatte er gegen Morgen auch einige Stunden Schlaf gefunden, so erwachte er doch in solchem Trübsinn, daß er, im Schatten sitzend, den Kopf vornüber neigend, keines Entschlusses fähig war. Wohl hörte er die Berichte der Späher an, die bald zu melden wußten, daß Jubal bei Bensidech an den Mondteichen lebe, täglich seine Mutter Kettara sehe, im übrigen die Dichter lese und von blühender Gesundheit sei. Es wäre Iktar ein Leichtes gewesen, den alten Bensidech und Kettara zu beseitigen und den in einem offenen Gartenhaus schlafenden Jubal rauben zu lassen; einige Getreue erboten sich, dies alles in einigen Nachtstunden zu schaffen; bis zum nächsten Sonnenaufgang, – so versuchten sie einen Entschluß aus Iktar herauszulocken – konnte der Sohn wieder beim Vater sein; aber Iktar winkte ihnen ab und schüttelte nur den müden kleinen Kahlkopf. Hatte er auch nur in den Bildern gelebt, über die er Macht ertrotzt, so baute er doch nicht allein auf Fleisch und Blut und das, was im Raume ist. Zu wohl durchschaute er, daß der etwa morgen zurückkehrende Jubal nicht mehr derselbe war, den er großgezogen und der ihn verlassen hatte. Sein Werk war gescheitert. Der Sohn war nicht mehr. Eines Nachts beschloß er, auch dessen irdisches Bild durch einen Meuchler vernichten zu lassen, aber am andern Tag gab er auch diesen Plan wieder auf. Was lag ihm noch daran, was für Gebein, von Menschenfleisch umkleidet, in der Welt lebte?
Zwei Jahre war Iktar versunken in seinen Gram. Er sprach fast zu niemand, doch während es anfangs eine undurchdringliche Härte war, welche alle abwies, die ihn ansprechen wollten, wurde es in der letzten Zeit eher eine stille Verklärung. Vielleicht hatte auch er, nachdem sie ihm schwankend geworden, den Sinn der Bilder durchschaut.
Eines Morgens fand man den mächtigen Iktar tot auf seinem Lager. Schon seit einiger Zeit besaß einer seiner Getreuen ein Schreiben, das er nach dem Hinscheiden des Herrn sofort zu Jubal zu bringen gelobt hatte. Dieser erhielt es in einem kleinen Hain, wo er zwischen zwei Gazellen an einem Bach lagerte und gerade ein Saitenspiel stimmte. Er las: »Jubal, werde, der Du bist, denn noch bist Du es nicht, so lange Du alles, auch Deine Liebe, fühlst vom Haß aus, den Du gegen den Vater hegst. Nun ist der Vater tot, begrabe ihn selbst in der Einsamkeit des Waldes und wirf Deiner einstigen Lieben zu ihm auch Deinen Haß in die Grube nach. Dann gehe frei in die Welt. Iktar.«
Zum ersten Mal schwankten nun um Jubal die Bilder seines Lebens, auf die er so sehr vertraut hatte. Ein namenloser Schmerz überfiel ihn, aus dem ihn der Bote nur schwer herauszureißen vermochte. Bensidech erstaunte, daß er den Jüngling so völlig verändert sah. Jubal folgte dem Boten, kaum seiner Sinne mächtig. Als er die scheinbar verhaßte Mauer der väterlichen Besitzungen wiedersah, da kam sie ihm vertraut und teuer vor. Er dachte seiner kindlichen Ritte und Jagdabenteuer unter den Bäumen, der kargen Mähler bei Jägern und Hirten und der ehrfürchtigen Scheu, mit der er stets Iktar genaht, und die nichts anderes als ins Unaussprechliche gefesselte Liebe war. Als er in die Kammer trat, wo die Leiche lag, da überwältigte ihn fast das Erbarmen. Vertrocknet, bräunlich und dünn, wie eine Kindermumie, lag der einst Mächtige hilflos da, die kleinen sehnigen Hände über der Brust gefaltet, die Augen geschlossen wie in kindlichem Schlummer. Ein Ausdruck fast von Einfalt, wie ihn Iktar einst so schlau als Maske zu benutzen verstand, erschien nun auf dem Totenantlitz als sein wahres unbeherrschtes Gesicht, von allen Masken befreit. Jubal war erschüttert. Hatte er dieses verborgene Vaterantlitz nicht stets im Innersten geschaut und geliebt? Sagte es ihm, der den Vater zu hassen geglaubt hatte, etwas Neues? Nein, gerade das heimlich-unheimliche Vertrautsein mit diesem fast einfältigen Gesicht, das alle andern an dem toten Iktar heimlich erstaunte, ließ ihn mit Schrecken die Irrtümer seines ganzen bisherigen Lebens erkennen.
In der Nacht wurde er nicht müde, immer wieder die ihm hinterlassenen Worte des Vaters zu lesen, besonders die Stelle: »... so lange du alles, auch deine Liebe, fühlst vom Haß aus, den du gegen den Vater hegst.« Ja, das war so. Liebte er etwa Bensidech? Nein, nein, den Vater liebte er; da sich aber zwischen ihn und seine Liebe das Gespenst eines vermeintlichen Hasses gestellt hatte, da irrte seine Liebe haltlos umher und klammerte sich mit unnatürlicher Heftigkeit an andere: erst an jene fremde Frau, die sagte, sie habe ihn geboren, dann an jenen Alten. Ein Augenblick stieg in ihm Hohn auf gegen Bensidech und seine Lehren. Wie lauteten sie doch? Aber als Jubal sie sich prüfend wiederholte, siehe, da erschien das, was ihm jetzt geschehen, gerade ein Beweis für deren Wahrheit. Waren jetzt nicht alle Bilder in ihm schwankend geworden? Durchschaute er sie nicht nun selber? Bedeuteten sie nicht etwas anderes, als sie schienen, genau wie Bensidech gesagt? Was sich als Haß gegeben hatte, war Liebe, was wie heftige Liebe aussah, war nur Flucht aus dem Haß, und jetzt, wo dies alles durchschaut war, erschien Hohn gegen Bensidech und Fremdheit gegen Kettara, die scheinbar Geliebten, aber auch dieser Hohn und diese Fremdheit waren wieder nur Schein, nur Antworten auf die vorher zu krampfhaft gewollte Liebe zu ihnen. Wahrlich alles schwankte, Liebe und Haß, Bild und Leere, bald waren sie zwei, bald eins, bald nichts, woran sollte man sich da noch halten? »Jubal, werde, der du bist!« begann das, was der Vater schrieb. »Aber wer bin ich?« spähte er in sich hinein. Und da lag klar die Antwort: der, welcher alle jene Bilder um sich erstehen, schwanken und verschwinden, aber sich dennoch von ihnen narren ließ, als wäre auch er nur Bild unter Bildern und nicht Schöpfer von alledem. Jubal fragt, an was er sich nun halten soll? »Jubal soll sich an Jubal halten,« raunt es wie mit der Stimme des Vaters. »Werde, der du bist.« Und Jubal betastete seinen Leib und fühlte, genau wie Bensidech gelehrt: »Dies bin ich nicht,« und dann spähte er wieder in sein Inneres und fühlte: »Ich bin nicht das Bild, sondern der Bildner, ich bin nicht das Werk, sondern der Wirkende, ich bin nicht das Geschehende, sondern die Ursache, daß geschieht. Nicht liebenswerte Bilder machen mich lieben, nicht böses Geschick macht mir Furcht, sondern, weil ich Liebe bin, entstehen liebenswerte Bilder in Raum und Zeit. Wenn ich mich fürchte, ballt sich böses Geschick, bin ich voll Vertrauens, dann blaut die Luft. Wie, wenn es möglich wäre, so Herr seines Innern zu werden, daß man mit Wissen die Bilder beherrscht, und sich nicht mehr narren läßt von seinen eigenen Geschöpfen?«
Am folgenden Tag war Jubal sehr leicht zu Mute. Er erwachte und sah den Menschen Jubal im Bild des Sohnes, der seinen lieben Vater zu begraben hat, mit dem er indessen manchen Widerstreit gehabt, wie es unter Menschen Brauch ist. Der Mensch Jubal aber grämte sich nicht mehr allzu sehr, nahm den Sarg, der nicht schwer wog auf seine starke junge Schulter und trug ihn stille in die Mitte des Waldes. Dort grub er ihm ein Grab und versenkte ihn. Nochmals las Jubal, der Mensch, den Brief, den ihm Iktar geschrieben hatte, besonders die Worte: »begrabe ihn selbst in der Einsamkeit des Waldes und wirf Deiner einstigen Liebe zu ihm auch Deinen Haß in die Grube nach; dann gehe frei in die Welt.«
Als Jubal heimgekehrt war, warteten die Getreuen seines Vaters auf seine Befehle. In ihm aber stieg das Bild seiner Mutter auf und er besuchte sie im Tempel. Sie ließ sich von ihm alle Vorfälle berichten; Jubal erzählte ihr alles äußere, aber er erwähnte nichts von seinem früheren Haß gegen den Vater, dessen Äußerungen Kettara bisher nicht zuwider gewesen waren, aber auch nichts von seiner plötzlich hervorgebrochenen Liebe, die Kettara kaum verstanden hätte. Vielmehr blickte er ihr ruhig in die Augen und erklärte ihr, daß er nun zum König gehen und ihm seine Dienste anbieten wolle. Kettara wurde betrübt, denn sie fühlte, daß die Zeit vorüber war, während der sie den Sohn täglich nahe gehabt hatte und der gemeinsame Haß gegen Iktar ihrer Liebe eine in Anklagen gegen den Unterdrücker schwelgende Gefühlsseligkeit gegeben hatte. Nun war Jubal plötzlich ein Mann geworden und in seiner Festigkeit war etwas Neues, das Kettara peinlich an Iktar erinnerte. Erst war ihr der Sohn ganz genommen und dann ganz gegeben worden, und jetzt sollte sie seinen Besitz teilen mit jemand, der niemand war, mit etwas, einer unbestimmten Macht, in der sie nichts anderes sah, als den Geist Iktars, des verhaßten Vaters, der mit dem Tod des leiblichen Iktar erst gesiegt zu haben schien. »Ach,« seufzte sie auf, »das Schicksal des Weibes ist Leid von Anbeginn, und keine Seligkeit, die es sich vorübergehend stehlen kann, vermag dies zu ändern.«
Jubal umarmte die Mutter, ohne sie ganz zu verstehen. Wollte er sie denn verlassen, blieb sie nicht seine geliebte Mutter, auch wenn er dem König diente? Sie blickte ihn prüfend an. »Es ist wahr,« sagte sie, »ich bin töricht. Will ich denn, daß du dein Leben über den Dichtern und zwischen Gazellen verträumst? Es ist besser, du gehst nun frei in die Welt.« »Dasselbe hat mir der Vater geschrieben in einem letzten Brief.« Kettara las die Zeilen, die ihr der Sohn gab. »Es ist gut,« sagte sie, »nun sind wir alle versöhnt. Gehe deinen Weg und vergiß dabei nicht deine Mutter.« Jubal küßte sie still, dann ging sie, die Tränen beherrschend, in den Tempel zum Dienst.
Hierauf besuchte Jubal den alten Bensidech und dankte ihm für seine Lehren. »Zur rechten Zeit habe ich mich ihrer erinnert,« sagte er, »und sie haben sich als wahr erwiesen. Nun will ich in die Welt gehen, und von innen heraus die Bilder beherrschen!« Bensidech schüttelte zweifelnd das Haupt, aber er gab ihm voll Liebe seinen Segen.