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Die Verdammnis der Welt

Ein west-östliches Märchen

1. Kapitel

In der bleichen Einsamkeit des hochgelegenen Landes Tibet spricht die Stimme Gottes so vernehmlich aus jeder Form und jedem Laut, daß aller Kreatur schaudert vor dem Winken der stumm in die Luft ragenden Bäume und vor dem das Schweigen zerreißenden Ruf einsamer Vögel. Liegt aber gar stunden- und tagelange Stille über dem Land, da gibt es für alles, das lebt, nur die Wahl, sich selber im Innern ganz stumm zu machen und so eins zu werden mit dem angehaltenen Atem Gottes, oder in hilfloser Verzweiflung zu fliehen aus Gottes Angesicht und sich selbst den Tod zu geben, um wer weiß wie und wo in der Qual eines neuen Einzellebens wiedergeboren zu werden. Darum hatten die meisten Menschen jenes seltsamen Landes, soweit sie nicht in völliger Dumpfheit verharrten, einen Grad von Heiligkeit erreicht, der sich sogar einzelnen Tieren mitteilte. Dies erfüllte die Krähe Monstruzzi mit Zorn, denn in dem Buche Dzjan, in das die Weisen alles schreiben, was seit der Welterschaffung bis heute geschah, hatte sie gelesen, daß es in Indien ein Mittel gab, sich aus solcher Gottversunkenheit zu befreien. Zwar sagte das heilige Buch dies nur, um Vorwitzige zu warnen. Die Krähe Monstruzzi aber beschloß, nun gerade vorwitzig zu sein, die Heimat zu verlassen und die heißen Niederungen des Gangeslandes zu besiedeln, denn dort – so verriet das heilige Buch – lag der verhängnisvolle Diamant Tott verborgen, den eines Tages »der Nichtwissende« fände, um ihn »dem Wissenden« anzuvertrauen. »Der Wissende?« wer anders konnte das sein als Monstruzzi? Es galt nur, »dem Nichtwissenden« zu begegnen, der ahnungslos ihren fürchterlichen Wunsch erfüllen würde.

Noch stand Monstruzzi im Schimmer der Jugend. Ihr Mädchenreiz vermochte viel über den in blinder Liebe glühenden Bräutigam, den jungen Raben Kwun, und so willfahrte er, ohne zu wissen zu welchem Zweck, dem Wunsch der angebeteten Monstruzzi, verließ die eigene Sippe, um sein junges Glück mit ihr in das heiße Indien zu verpflanzen; aber wenn der verliebte Kwun auch sein ganzes Leben unwissend blieb, wie es das Buch Dzjan vom Finder des Steines Tott verlangte, das Juwel hatte er nicht gefunden, als ihn in der Blüte seiner Jahre der Schuß eines Bauern über einem Saatfeld ereilte. Nun hoffte Monstruzzi auf ihre Brut, aber auch diese samt Eidamen und Schwiegertöchtern fuhr in die Grube, bereits ein zweites Geschlecht hinterlassend, alle in Unwissenheit, aber tiefster Ehrfurcht vor der zauber- und sagenkundigen Monstruzzi erzogen, bis schließlich eines Morgens Winighea, der jüngste Urenkel, in das Nest zurückkehrte, statt wie sonst mit Aas und Würmern beladen, einen blitzenden Stein im Schnabel, den er schweigend vor der nunmehr hundertjährigen Urahne niederlegte. Diese sträubte ihr graues Gefieder und stieß einen leidenschaftlichen Schrei aus, der die späte Befriedigung ihres zäh festgehaltenen Lebenswunsches ausdrückte, erkannte sie doch an dem rotgelben Schimmer des Diamanten sofort den Stein Tott. Winighea hatte ihn in einer Erdfurche gefunden. Monstruzzi ergriff gierig das Kleinod und verbarg es zwischen den Abfall- und Kothaufen des Nestes, um immer wieder zu dem kostbaren Fund zurückzukehren; aber gegen Abend fühlte sie sich so schwach, daß sie merkte: nichts als die Gewißheit, den Stein noch zu empfangen, hatte ihr Leben so lange erhalten. Nun war die Sehne des Bogens entspannt. Nie würde sie selbst die Kraft des Diamanten mehr erproben können, aber gleichviel: bei ihrem Geschlecht würde er bleiben, und so beschloß sie in der Frühe des Tages den Bann der Unwissenheit zu brechen, den sie bisher über die Ihren verhängt hatte.

»Sehet her«, sagte sie zu den Versammelten mit brechender Stimme, »dieser Stein gibt dem Zweifüßler mit leiblichen Flügeln die Kraft, sich in den Zweifüßler mit geistigen Flügeln zu verwandeln, in der Zaubersprache »She-iskr-el«, im Munde des Volkes »Mensch« genannt, und jenem Geschlecht all' das Unheil zu vergelten, das er seit seinem fluchwürdigen Aufgang über die Natur gebracht hat. Denn, müßt ihr wissen, unser Geschlecht ist von Gott geliebt und auserlesen, Ihn zu rächen an seinen Widersachern, den She-iskr-els«.

Staunend hörte es das versammelte Raben- und Krähenvolk. Mit immer schwächerer Stimme fuhr Monstruzzi fort: »Winighea, der Finder des Steines, wird ihn in Gewahrsam halten, aber jeder von euch empfängt durch einmalige Berührung des Diamanten die Teilnahme an seiner Kraft. Der mit Bewußtsein ausgesprochene Wunsch vermag ihn dann jederzeit in das Wesen She-iskr-el und nach Belieben wieder in einen Raben oder eine Krähe zu verwandeln. Nur, wenn der Stein unter den Spiegel des Meeres gerät, ist seine Kraft dahin, und jeder bleibt, was er in solcher Unglücksstunde gerade ist, Rabe oder She-iskr-el

Nach diesen Worten verröchelte die alte Monstruzzi. Ehrfurchtsvoll erfüllten die Hinterbliebenen den ebenso einfachen wie alten Leichenbrauch, indem sie die Urmutter aus dem Nest warfen. Dann wühlten sie aus dem Unrat die Hinterlassenschaft heraus, blitzenden Flitter, Glassplitter, Tieraugen, Fischhaut und fanden darunter auch den Stein Tott, dessen Kraft alle nach Auflegung der Krallen sofort erprobten.

*

Nicht lange nach dieser Begebenheit erschien in der Stadt Venedig auf der Brücke Rialto ein buckliger kleiner Jude, der sich Winighea nannte; von sieben weiten Reisen hatte er kostbare Kleinode mitgebracht, die er nun an große Herren zu verkaufen wünschte. Er war ziemlich wortkarg, verstand aber wohl im Augenblick das rechte Wort fallen zu lassen, so daß ihm mancher Edelmann in das düstere Gewölbe nahe dem Markusplatz folgte, in dem er seine Schätze untergebracht hatte. Man fabelte von ungeheuren Summen, die der Alte dort aufgehäuft haben sollte, und es lag nahe, an ein Bündnis mit dem Teufel zu denken, zumal die Tauben der Nachbarschaft, die sich zutraulich allen Fenstern und Türen näherten, das Haus jenes Juden mieden. Statt dessen aber kam allabendlich in der Dämmerung ein Rabenschwarm geflogen, der oft sogar in ein offenes Fenster drang, aus dem bald ein ungeheures Geschrei, wie von einer erregten Volksversammlung ertönte. Auch wollten Nachbarn gesehen haben, daß Winighea im Innern des Hauses einige Raben an der Kette hielt, andere mit gestutzten Flügeln herumspringen ließ. Einen menschlichen Hausgenossen bemerkte man nicht, bis zu jenem strahlenden Junimorgen, an dem der junge Lorenzo Canori zum erstenmal dem Alten über die Schwelle folgte. Da trat plötzlich ein etwa achtzehnjähriges voll erblühtes Judenmädchen aus dem Innern des Hauses. Winighea stellte sie dem Gast als seine einzige Tochter Recha vor. Lorenzo war der flatterhafteste Bursche von ganz Venedig. Seit diesem Tag aber wurde er in sich gekehrt und düster. Die umgekehrte Veränderung nahm man an dem trübseligen Haus des alten Juden wahr. Die früher zum Teil mit Brettern vernagelten Fenster wurden geöffnet und mit Blumen geschmückt. Oft sah man dort die schöne Recha stehen, nicht selten mit heiteren Gespielinnen, und die Tauben von San Marko kamen zu ihnen und pickten die Körner aus zarten Mädchenhänden. Die Rabenschwärme sah man nicht mehr. Der bisher etwas unsaubere Alte trug nun einen schwarzen Sammetmantel mit Barett und empfing täglich den jungen Lorenzo. Dieser kaufte ihm seine Steine ab und blieb oft zu Tisch, dem Rechas Reiz und Hausfrauenkünste heiteren Zauber verliehen. Lorenzo wußte nicht, ob er sich Recha eröffnen solle, deren fremdartige Blicke ihm bald unübersteigbare Abgründe, bald märchenhafte Paradiese anzuzeigen schienen. Da holte eines Tages der Alte den Stein Tott hervor, von dem auch in der abendländischen Welt seit alter Zeit dunkle Kunde ging. Hier aber galt er als ein reiner Glücksstein, bringe er doch seinem Besitzer die Erfüllung aller Wünsche und das ist nach den Begriffen der westlichen Völker so viel wie das höchste Glück. Der Diamant war durch seinen goldgelben Schimmer unverkennbar. So verpfändete denn Lorenzo sein Landgut und erwarb das Kleinod von Winighea. Er hatte sich in der Kraft des Steines nicht getäuscht. Kaum war er dessen Besitzer, als ihm Rechas Fremdartigkeit plötzlich ganz vertraut erschien. Ihre Blicke wurden ihm verständlich wie die der einheimischen Mädchen, manchmal glaubte er sogar leise Seufzer zu hören, die ihm sein Zaudern vorzuwerfen schienen, und eines Tages hielt er Recha in seinem Arm, die ihm bis ans Ende der Welt zu folgen versprach.

Eines Morgens stand das Haus des alten Winighea wieder leer, nachdem noch in der Nacht Saitenspiel und Gesang aus den Fenstern über den Kanal getönt war. Manche wollten in einer blumengeschmückten Gondel den jungen Lorenzo mit der schönen Jüdin in das Dunkel hinausfahren gesehen haben. Gegen Morgen war ein Sturm über die Stadt gebraust, der alle Fenster und Türen losreißen zu wollen schien. Aus dem Haus des Winighea war mit Gekrächz ein Rabenschwarm gen Süden geflogen. So wenigstens berichtete Benedetto, der erste Bettler Unserer Lieben Frau, der allein in der ganzen Bettlergilde das Recht hatte einen leinenen Purpurrock zu tragen und vor der Kirche Zanipolo stets in der vordersten Reihe der Almosenempfänger liegen durfte, wofür er dem Kirchenschatz jährlich 100 Zechinen zahlte. Dieser Benedetto war ein Wesen ohne Schlaf und durchstrich, wie ein blutrotes Gespenst, die ganze Nacht hindurch die Gäßchen der Stadt. So konnte er wohl wissen, was bei Winighea geschehen war. Aber Benedetto hatte an diesem Morgen mit seinen Geschichten an der Treppe von Zanipolo kein Glück. Verstört und eilig gingen die Beter an ihm vorbei und selbst ein so seltenes Ereignis wie das plötzliche Verschwinden eines glänzenden jungen Patriziers wie Lorenzo Canori, mußte seinen Eindruck verfehlen in diesen Tagen, in denen, wer nur konnte, auf die terra ferma floh, die Stadt den Armen überlassend und der Pest, die, wie nun nicht mehr zweifelhaft war, schon seit einiger Zeit im geheimen gewütet hatte. Der rote Benedetto begegnete nun allnächtlich einem zweiten Gespenst, wenn er um die Ecken der alten Gäßchen bog, dem roten Maledetto, wie in jenen Zeiten die von Venedig die Pest nannten.

Lorenzo und Recha begaben sich nach der prächtigen Stadt Florenz, wo sich Recha taufen lassen und mit Lorenzo getraut werden sollte, aber nach einigen Tagen stellte sich heraus, daß der junge Bräutigam den Pestkeim bereits in sich trug, dem er schnell erlag. Vor der Volkswut der durch die Seuche bedrohten Stadt rettete Recha der Condottiere Marsilio. Er brachte sie heimlich auf ein Gütchen in der Nähe, umgab sie mit zwei Gespielinnen und zeigte ihr zunächst keine anderen Gefühle als die der Freundschaft und Verehrung. Aus Dankbarkeit schenkte sie ihm den Stein Tott. In der Stadt tobte inzwischen die Pest. Marsilio wagte sich nicht mehr in den Straßen zu zeigen. Hätte er, so meinte das dumme Volk, den Totschlag der Jüdin zugelassen, so wäre mit ihr der Pestkeim begraben worden. Nun fürchtete er, daß man von ihm Rechenschaft über den Verbleib des Mädchens fordern würde. Dies erfuhr Recha durch ihre Gespielinnen. Sie überwand ihre Schamhaftigkeit und flehte Marsilio an, sich auf dem Gut bei ihr in Verborgenheit zu halten. Nun vermochte er ihr seine Liebe nicht länger zu verhehlen. Die undurchdringliche Stille, mit der sie sein Geständnis aufnahm, die ihn weder ermutigte noch abwies, schuf jedoch einen Abstand zwischen ihnen, den das vertrauliche tägliche Zusammenleben nur langsam überbrückte. Gegen Ende des Sommers verkündigte ihm Recha, sie sei durch ihre Gespielinnen nun so tief in die Lehre des christlichen Glaubens eingedrungen, daß sie am nächsten Sonntag die Heilige Taufe empfangen wolle. Marsilio drang in sie, bei dieser Gelegenheit gleich die Wohltat noch eines zweiten christlichen Sakramentes zu genießen. So wurde Recha am nächsten Sonntag Marsilios Frau. Der Stein Tott hatte auch ihm die Erfüllung seines tiefsten Wunsches gebracht.

Als er gegen Morgen das Hochzeitsbett verließ, um im taufrischen Garten der jungen Gattin selbst ein paar Blumen zu pflücken, wurde er von zwei gedungenen Hohläugigen, die auf der Mauer gelauert hatten und nun plötzlich herabsprangeu, hinterrücks erstochen und ausgeraubt. »Tod dem Pestträger« schrien sie dem Verröchelnden ins Gesicht. Auf der Mauer war indessen ein Dritter erschienen, der den beiden Anderen eine Leiter in den Garten stellte, über die sie schnell entkamen.

Der Priester, der das Paar gestern getraut hatte, brachte die verzweifelte Recha schnell in das Kloster San Cosimo. Dort verbarg man sie, um sie vor dem erbosten Pöbel zu schützen, im obersten Turmgemach. Den Stein Tott überantwortete sie bei ihrer Ankunft dem Klostergut. Niemals verließ sie die enge Zelle mehr. Allabendlich umkreisten Raben den Turm. Eines Tages fanden die Schwestern zu ihrem Staunen das Nest leer.

Seit dieser Zeit regneten die Glücksgüter sozusagen über die heiligen Mauern von San Cosimo. Es verging kein Jahr, daß nicht vornehme Damen Einlaß begehrten und dem Klostergut große Reichtümer zufügten. Bald galt in ganz Italien, Spanien und Frankreich San Cosimo als die Zuflucht aller zärtlichen Herzen, die enttäuscht worden waren, und wenn an heißen Sommertagen sich die Schwestern in den düsteren Zypressenwegen ergingen und sich ihre süßtraurigen Erlebnisse mitteilten, da hätte ein Lauscher wohl den Stoff zu einem zweiten Dekameron finden können. Aber da nun einmal das gemeinsame Leid halbes Leid und die Erinnerung daran sogar Vergnügen wird, regte sich bald in den schönen Enttäuschten der Wunsch, ihr Glück noch einmal zu versuchen. Gar manche fand, daß sie selbst nur das Opfer unglücklicher Umstände gewesen war, die sich durchaus nicht immer zu wiederholen brauchten, und daß sie sich im Falle ihrer Leidensgenossinnen ganz anders als jene verhalten hätte, die nur eigner Torheit ihr Unglück dankten. Indes alle diese in Ehrbarkeit erzogenen Frauen ihre Geschichten miteinander verglichen, lernten sie von ihrem Einzelfall abzusehen und die Welt zu verstehen, so daß sie nun bald über ein Wissen verfügten, als hätten sie ihr Lebtag mit nichts anderem als Buhlen verbracht. Die Oberin selbst, eine frühere Fürstin Fruttuosi, war an Schönheit eine voll erblühte Rose; sie begünstigte die Verwandtenbesuche ihrer Schäflein mit größter Nachsicht. Wollte ein Bruder seine Schwester am Gitter sehen, so geschah es oft wie von ungefähr, daß durch ein Mißverständnis des Namens eine Andere erschien. Manche schrieben ihren Verwandten von dem Unglück ihrer Genossinnen, sodaß sich manche trostbereite Herzen für so zärtliche Leiden erwärmten. Bald kamen Briefe mit schmal gefalteten Einlagen, die an eine solche Unglückliche zu übergeben waren, und schließlich fanden Jünglinge in Frauentracht sowie Männer in Mönchs- und Priestergewändern Tag und Nacht Einlaß bei den trostbedürftigen Schwestern. Hatte man vorher das Leid zusammen getragen, so trug man nun auch die Freude gemeinsam, und bald sah das Refektorium nachts von Liebe und Wein erglühte Paare. Um die Fürstin Fruttuosi hatte sich ein Liebeshof gebildet.

Es zeigte sich, wie recht die schönen Nonnen daran getan hatten, in jenen unsicheren Zeitläuften für männlichen Schutz zu sorgen. Eines Nachts während des Karnevals – die Tischgesellschaft schwelgte efeu- und weinlaubbekränzt in leichten Gewändern heidnischer Götzen – wurde das Kloster von spanischen Horden geplündert und angezündet. Unter den Trunkenen und den Landsknechten entstand ein fürchterliches Gemetzel, aber wenigstens konnte sich keiner der Kriegsknechte rühmen, einen dieser köstlichen Frauenleiber sein genannt zu haben. Manche retteten sich mit ihren Beschützern, andere schwammen in ihrem Blut zwischen zertretenen Früchten und vergossenem Wein, welke Kränze im toten Antlitz. Die Schätze fielen den Plünderern in die Hände. Nachdem sie abgezogen waren, versammelten sich Rabenschwärme zwischen den rauchgeschwärzten Trümmern und fraßen das Fleisch vom Gebein der Leichen.

*

Eines Tages erschien in der flandrischen Stadt Antwerpen bei dem berühmtesten Edelsteinschleifer, dem Meister Schalander, ein alter Malteser namens Winighea und brachte ihm den Stein Tott, damit er ihm die richtige Brillantform mit »pavillon« und »culasse« gäbe, wie sie zur Zeit am französischen Hof verlangt wurde, seitdem der König selbst den Sancy, den größten und ältesten Diamanten seines ererbten Schatzes in dieser Weise hatte zurichten lassen. Meister Schalander machte darauf aufmerksam, daß durch das Schleifen nach der Mode der Stein an die 20 Karat Gewicht verlieren würde, aber der Malteser bestand darauf, da es sonst unmöglich sei, ihm dem König vorzulegen. Er betrog sich nicht in seinen Hoffnungen. Bald wurde er mit einem Unterhändler Seiner Majestät, wie sie sich stets in dem kunst- und gewerbereichen Flandern aufhielten, einig und begleitete ihn in des Königs Hauptstadt.

Eines Morgens wurde er in ein Kabinett zu dem großen König geführt. Es war ein glücklicher Tag für das schöne Frankreich, denn Se. Majestät hatte, wie man sich auf allen Korridoren des Schlosses erfreut zuflüsterte, heute eine vorzügliche Verdauung gehabt. In einem Alkoven kniete die Majestät auf einem Pupurkissen und ihre Lippen murmelten mit Gott. Zwei Prinzen von Geblüt stützten den König beim Aufstehen; in breiter blauer Schärpe und mit dem Degen stand er nun da. Der Aufseher über die königlichen Schnupftücher bot drei zur Auswahl und der königliche Finger wählte heute grün. Auf einen Wink des Kämmerers trat nun Meister Schalander hervor. Die königliche Hand hob den rotgelb schimmernden Stein gegen das Licht, verglich ihn mit dem wohl größeren aber ungleich weniger feurigen Sancy, der herbeigeholt worden war, und äußerte die Meinung, der Stein Tott sei ein Juwel, würdig eines Alexander oder Cäsar. Da nun aber diese beiden längst Staub waren, was blieb da jenem erhabenen Fürsten anders übrig, als den Tott selbst zu erwerben? Der Malteser empfing drei Millionen Livres, der Tott gehörte von nun an zu den französischen Kronjuwelen.

Seit dieser Zeit schien sich das Glück unzertrennlich an die Fahnen des Königs heften zu wollen, aber dann verlor er doch wieder viel von dem Gewonnenen und erlebte ein einsames Alter, wegen seiner Raubzüge, die er mit Verträgen in den Städten Rijswick und Nymwegen beschloß, in der ganzen Welt der Reißweg oder der Nimmweg genannt. Dennoch endigte er mehr als arm. Nachdem er das Land ausgesogen, mußte er im Alter, wie ein junger Taugenichts, sich mit allerlei Listen Geld beschaffen. Mitten im Glanz seines Hofes spürte er die Ohnmacht einer mißbrauchten Lebenskraft, bis er verdüstert in den Armen einer frömmelnden Beischläferin starb, die wie eine Amme ganz von dem Willen des alten Reißweg und Nimmweg Besitz ergriffen und ihn vermocht hatte, sie in geheimer Ehe zu heiraten. Seine Söhne waren längst tot, und so übernahm ein Enkel die Herrschaft über das durch Kriege verschuldete, mit Steuern bedrückte Land. Der neue König verschlimmerte diesen Zustand, denn er lebte nur seinen Lüsten. Sein heißester Wunsch war, der erste Koch des Landes zu heißen, und da er den Stein Tott besaß, erfüllte sich sein Begehren. Der König erfand die köstlichsten Gerichte. Eine geheime Krankheit aber verblödete seinen Geist, und zuletzt starb er an den Kinderblattern, die er von einer jungen Dirne erworben, halb verfaulten Leibes. Der Pöbel feierte seinen Tod durch Gassenlieder und Jubeltänze. Die Rache des Volkes traf erst seinen Nachfolger, der nichts als die Jagd liebte und seine schöne Gattin. Die Menge brach in die Spiegelgemächer ein, das Königspaar floh und hätte auch wohl die Grenze erreicht, aber da geschah es, daß sich die Kutsche um eine halbe Stunde verspätete, weil nicht so schnell auszumachen war, ob der grüne oder der blaue Kammerherr zur Rechten der Königin zu sitzen habe. So gerieten die Fliehenden in die Hände des johlenden Pöbels. Nachdem beide eingekerkert waren, wurden ihre Juwelen dem Volk gezeigt, mit deren Schweiß und Blut sie bezahlt worden waren. In der Zeit zwischen Ostern und dem Martinstag ließ man jeden Dienstag die Menge in die Prunksäle hereinfluten, wo einst die Könige geschwelgt hatten. Dort standen unter Glas, von einigen Männern der Bürgerwache beschützt, die königlichen Diamanten, darunter der gelbe Stein Tott. Dieser Anblick ließ die Wut der Massen wieder aufleben. An einem kochend heißen Augusttage erbrachen sie die Gefängnisse, in denen die Edelleute mit ihren Frauen und Kindern eingekerkert waren, erschlugen sie und warfen ihre Leichen den Raben hin. Auch stürmten sie wiederum das königliche Schloß, und bei dieser Gelegenheit verschwanden der Sancy und der Tott.

Ein neuer Reißweg oder Nimmweg stieg nun aus dem Volke selbst empor, ein zäher kleiner Mann, etwas dick und gelblich, unterwarf sich das Land der Franzen und führte seine Heere siegreich durch alle Länder. Am Abend eines Schlachttages, als sich bereits die gierigen Vögel zum Fraß niedergelassen hatten, fand man bei einem gefallenen Soldaten, einem Sohne der Stadt Paris, den Stein Tott. Man brachte ihn dem Kaiser, der ihn an sich nahm und dafür nun einen Monat lang seinem ganzen Heer doppelte Löhnung zahlte. Seit dieser Zeit wuchs der Übermut des Eroberers ins Unermeßliche. Hatte bisher sein Herz wenigstens einem Wesen gegenüber menschlich gefühlt, seiner Gattin, die mit ihm Siegesjubel und Gefahren geteilt, so verließ er sie nun, um eine in Purpur geborene leere Menschenlarve zu freien. Der Plan gelang, und der Eroberer wurde der Schwiegersohn des vornehmsten Fürsten der Erde, aber zugleich wich der Segen von ihm, der bisher von seinem Schutzgeist, der verstoßenen Gattin, ausgegangen war. Er verlor sein Heer im Eise des Nordens, und er selbst, der mit einer halben Million Menschen ausgezogen war, kam in einer Winternacht allein in sein Schloß zurück, den gelb blitzenden Stein Tott am Zeigefinger der rechten Hand. Es half ihm nichts, daß er den Schein des Glücks annahm und sich gleich am nächsten Tag dem Volk im Schauspiel zeigte: der Siegesgenius hatte ihn verlassen. Er wurde von seinen siegreichen Widersachern gleich einem Halbgott der grauen Vorzeit an einen einsamen Felsen im Weltmeer geschmiedet, wo ihm ein Rabe, der von seinen ärgsten Feinden, den Briten, zu seiner Bewachung bestellt war, langsam die Gedärme aus dem Leibe fraß. Manche glauben, er hätte, nachts qualvoll hingestreckt zwischen den leuchtenden Sternbildern und dem endlos rauschenden Meer, begnadet durch so großes Leid, plötzlich die Stimme Gottes aus der Stille des Himmels und dem Getöse der Flut vernommen, so wie die Kreatur zu Tibet, die nichts weiß vom Steine Tott. Doch wer will das bezeugen? Die Wissenden sagen es nicht, die Sagenden wissen es nicht.

Während der in den Staub gesunkene Kaiser von seiner einstigen Hauptstadt an das Meer gebracht wurde, um ihn nach jener Insel einzuschiffen, riet ihm einer seiner Vertrauten, einige Juwelen, die er bei sich führte, lieber zu Gold zu machen. In der kleinen, schmutzigen Hafenstadt fand sich ein armenischer Händler, namens Winighea; er kaufte dem Kaiser für einige Hunderttausend Franken seinen Besitz ab, darunter den Stein Tott, dessen wahren Wert und Zauber der Gekrönte nie erfahren hatte. Solches Unwissen machte ihn fast einem Kind ähnlich, und darum ist es gar nicht so unwahrscheinlich, daß er manchmal auch die Stimme Gottes vernahm, denn nur der Nichtwissende hört sie.

*

Winighea, der Armenier kannte genau die Kraft des Steines. Lange genug, so dünkte ihn, war er nun bei den Großen der Erde gewesen, wo er nur langsam den Besitzer wechselte; nun sollte er wieder schneller von Hand zu Hand gehen. Er verkaufte ihn daher zu Barcelona dem jungen Don José Ruiz y Margal, vom König von Spanien aus Madrid verbannt, da er durch sein leidenschaftliches Blut zu viel Unfrieden in die Ehen der Hauptstadt gebracht hatte. Nun sollte er die unruhige Provinz Catalonien zügeln. Seine unwiderstehliche Liebenswürdigkeit öffnete ihm alle Herzen. Auf einem Frühlingsfest, wo die Dichter des Landes sich um den Ehrenkranz für dieses Jahr bewarben, verschwand Don José plötzlich mit einem schönen Blumenmädchen von der Rambla. Die Eifersucht der Brüder aber wußte das Paar nachts in einer Hafenschänke ausfindig zu machen. Nachdem ihm das Mädchen entrissen worden und er erschlagen war, wurde er von einem Matrosen ausgeraubt, der an seinem Finger einen Ring mit dem Steine Tott fand. Der Räuber flüchtete auf einen Westindienfahrer, um erst in der Neuen Welt, wo man ihn nicht kannte, seinen Reichtum zu entfalten, aber die Überstrenge des Kapitäns machte ihm diesen Vorsatz schwer. Sollte er, gegen den jener nun ein armer Hungerleider war, sich dessen Befehle länger gefallen lassen? Es gelang ihm, seine Genossen zur Gehorsamsverweigerung anzustiften, indem er ihnen für den Fall der Ankunft in Veracruz hohe Belohnung versprach. Eines Nachts drangen sie in die Kajüte des Kapitäns ein. Dieser aber und der Steuermann waren mit Pistolen versehen und wurden der Haupträdelsführer Herr; die andern sanken vor der Übermacht angstschlotternd in die Knie. Der Besitzer des Steines wurde an den Raaen des Schiffes aufgeknüpft und hing dort noch manche Sturmnacht zwischen Himmel und Erde, bis eines Morgens Krähenschwärme, welche die Leiche umflatterten, die Nähe des Landes verrieten. Der Kapitän ließ den Gehenkten herunterholen; ehe er ihn ins Meer zu werfen befahl, entdeckte er den Ring, den er begierig an sich nahm. Am Abend in einer Spielhölle hatte er märchenhaftes Glück, aber er verstand es, seine Leidenschaft zu beherrschen und wollte gegen Morgen die Beute auf das Schiff bringen; die Geschädigten indessen lauerten ihm auf, erschossen ihn von rückwärts, beraubten ihn und warfen ihn in einen Straßengraben. Der, in dessen Hände der Stein Tott geriet, war ein amerikanischer Seiltänzer, namens Stewart. Er war außerordentlich zeichen- und wundergläubig. Eine kreolische Wahrsagerin hatte ihm vor kurzen prophezeit, er würde sein höchstes Wagnis erst dann mit Erfolg unternehmen können, wenn er in den Besitz eines rotgelben Glückssteines gelangt sei. Am Abend noch trat Stewart mit sieben Silberkugeln auf das in schwindelnder Höhe aufgespannte Seil, bis in dessen Mitte er sicheren Schrittes ging. Dann blieb er stehen, warf die sieben Kugeln gleichzeitig in die Luft, fing sie geschickt wieder auf, den Blick stets nach oben gekehrt, als gäbe es keinen Abgrund zu seinen Füßen. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Der Amerikaner machte nun einen Siegeszug durch die Neue Welt, und ungeheure Summen flossen ihm zu. Als er fast fünf Millionen Dollars beisammen hatte, kündigte er seine letzten drei Vorstellungen an, welche ihm sein Vermögen abrunden sollten. Dann wollte er sich ins Privatleben zurückziehen und der wohlverdienten Ruhe pflegen. Bei der ersten jener drei geplanten Vorstellungen riß das Seil, der Amerikaner lag zerschmettert unter der Menge.

Sein Nachlaß wurde von den Erben versteigert, der Stein Tott kam an einen fetten türkischen Händler, namens Habib.

*

Habib beschloß, den Stein Tott dem Sultan selbst zum Verkauf anzubieten. Er schiffte sich nach Stambul ein und wurde bald mit seinen Juwelen vor den Herrscher aller Gläubigen geführt. Der alte Kalif galt draußen als böse und grausam. Oft hatte er solche, die ihm gefährlich schienen, auf ein Schiff zum Essen eingeladen und sie dann auf hoher See heimlich versenken lassen; ja er bewahrte die blank geputzten Schädel vieler Feinde in samtenen Behältnissen, wie Bücher auf langen Wandbrettern aufgestellt, und es hieß, daß er in schlaflosen Nächten davor auf- und niederwandelte, einen nach dem anderen herausnehmend und sich freuend, daß die wenigstens unschädlich seien. Er war so mißtrauisch, daß er einmal, um einem möglichen Angriff zuvorzukommen, einen Gärtner erschoß, der rasch auf ihn zukam, um ihm eine seltene Blume zu reichen.

Habib fand in dem Sultan einen schönen Greis von hoher aufrechter Gestalt mit breit wallendem, noch dunklem Bart. Seine schlanken, weißen Hände prüften die Steine voll Mißtrauen. Den Tott wies er immer wieder zurück, wenn ihn Habib reichen wollte. Am Schluß kaufte er den ganzen Vorrat des Händlers, nur von dem rotgelben Diamanten wollte er ganz und gar nichts wissen. Habib verwunderte sich sehr. Er merkte wohl, daß der Sultan ein ganz ungewöhnlicher Kenner von Juwelen war, deren Wert er genau festzusetzen wußte. Wie kam es nur, daß er die Seltenheit des Tott so völlig verkannte? Aber Herrscher haben nun einmal ihre Launen.

Nachdem Habib gegangen war, ließ sich der Sultan die drei persischen Schwestern kommen, elf-, zwölf- und dreizehnjährig, deren Erziehung für den Harem seit gerade einem Mond vollendet war, und in denen der Herrscher neuerdings die Vollkommenheit selber zu besitzen glaubte. Wie junge Tauben flogen sie auf seine Knie und liebkosten ihn. Sie waren so glücklich, in ihm nicht, wie sie gefürchtet hatten, einen Wüterich zu finden, sondern einen freundlichen Vater, der ihre Künste und Reize so wohl zu würdigen verstand, während die Erzieherinnen doch immer gesagt hatten, sie wären zu nichts gut, als grobe Küchenarbeit zu tun; der Kalif würde sie nie eines Blickes würdigen, sondern peitschen lassen wie freche Hündinnen. Nun rief sie ihr Freund wieder herbei, gewiß, wie er zu tun pflegte, zu einer Überraschung. Während sie sich an seine Knie lehnten, behing er die Jubelnden mit dem neuen Geschmeide; dann mußten sie ihm wälsche Duette singen, die der Herrscher zum Staunen der einheimischen Musikanten mehr als alles liebte; die Dritte begleitete die beiden Sängerinnen auf einem von einem Fürsten gen Sonnenuntergang geschenkten schwarzen Holzschrank mit weißen Tasten, den man Piunufort nannte.

Nur von seinen Frauen war der Sultan geliebt, die alle jung und schlank waren. Er begehrte nicht, wie die meisten seiner Glaubensgenossen, die mit Mehl und Süßigkeit gemästeten, unbeweglichen Schönheiten. Manche seiner Lieblingsfrauen hatten sich aus Gram getötet, wenn sie seine Ungnade erweckt hatten. Er kannte ihnen gegenüber keine andere Strafe, als die schwerste für eine Liebende, die der Verbannung aus seiner Gegenwart. Erschraken sie auch alle zuerst, wenn der bärtige Greis plötzlich unter ihnen stand, – er liebte es, sie beim Musiküben zu überraschen und hinter ihnen stehend zu lauschen, ohne daß sie sich dessen versahen – so merkten sie doch bald, daß dieser Furchtbare für sie voll Süßigkeit war. Mit ihnen konnte er wie ein Kind werden und, auf Teppichen sitzend, sie geduldig allerlei Spiele lehren. Darum vernahm er wohl auch manchmal die Stimme Gottes, die ihn heute vom Ankauf des Steines Tott bewahrt hatte.

*

Der dicke Habib kaufte für das empfangene Geld neue Juwelen und schiffte sich nach Indien ein, in der Hoffnung, mit ihnen den Stein Tott einem der dortigen Vasallenfürsten zu verkaufen, deren Reichtum sagenhaft ist. Er pilgerte von Hof zu Hof, wurde überall in Ehren empfangen, auch gelang es ihm die Juwelen, die er für das Kaufgeld des Sultans neu erstanden hatte, gut anzubringen; nur den Stein Tott wollten die Maharadschas nicht einmal berühren. Einer wandte sich mit Entsetzen von ihm ab, ein anderer besprengte ihn mit heiligem Wasser, ein dritter ließ das Gemach räuchern, in dem der Stein eine Viertelstunde gelegen hatte. Ein vierter murmelte Zaubersprüche, der Fünfte aber, der Habib in seinem Gesellenhain empfing, ergriff den Stein lächelnd und gab ihn dem Bringer zurück, mit den Worten: »Vergiß nicht das Glück mitzunehmen.« »Ich wollte es Euch lassen,« erwiderte Habib dienstfertig. »Was soll es denen, die Brahma besitzen?« sagte der Maharadscha; »hier läge dieses Juwel wertlos, wie taubes Gestein, indessen es im Westen Menschen gibt, die ihre eigenen Wünsche anbeten und ihnen Blutopfer bringen. Ihnen diene der Stein als Talisman, für sie hat er Kraft.« Habib, dessen Wissen von der Kraft des Steines nur auf Gerüchten beruhte, sagte: »Ihr glaubt also an eine Zauberkraft des Steins, Herr?« »Nicht für mich,« erwiderte der Weise lächelnd, »aber für die, welche an Glück und Unglück außerhalb ihrer selbst glauben.« »Also auch Unglück bringt der Stein?« fragte der dicke Habib erschreckt. »Wer an Glück glaubt,« schloß der Fürst, »glaubt doch wohl auch an Unglück. Was aber einer glaubt, das schafft er sich.«

Von diesem Tage ab war es um die Ruhe des sonst schwer zu erschütternden Habib getan. Bisher hatte er einem rosigen, fetten Riesensäugling geglichen, nun aber magerte sein Vollmondgesicht zusehends ab und seine Wangen wurden bleich. Der Boden dieses rätselhaften Landes Indien brannte ihm unter den Füßen; des verfänglichen Steines aber wollte er sich sobald als möglich entledigen. O, der bisher glückliche Habib glaubte an Glück und folglich auch an Unglück. Der Gedanke an den Tod z. B. war ihm keine Kleinigkeit, und wenn er ihm bis jetzt auch nicht nachgehängt hatte, so kam das nur daher, daß ihn das Glück seines ununterbrochen wachsenden Reichtums geradezu betäubte. Auf dieses Glück hatte er fest vertraut. Die Worte des Maharadscha aber leuchteten nun plötzlich in die Tiefe seiner Seele, und dort lag wie ein dunkles Bündel, in den Winkel gedrängt, die halb vergessene Todesangst. Nein, nein, nein, es war garnicht so ausgemacht, daß das feiste Habibglück immer dauern sollte! Je mehr es wuchs, desto näher rückte zugleich das Unglück. Das war eine furchtbare Entdeckung. Wie beneidenswert schien jener Maharadscha; ihm vermochte das Unglück nicht zu nahen, aber freilich auch nicht das Glück. Habib hatte böse Nächte. O, alles lag an dem verfluchten Stein.

In Kalkutta bestieg er den Dampfer »Thaltybius,« um nach Holländisch Indien zu fahren, in der Hoffnung, den Tott dort einem der reichen Landbesitzer zu verkaufen. In den feuchten schwülen Nächten irrte Habib schlaflos auf dem Verdeck hin und her. Sollte er sein Glück opfern, um dem Unglück zu entgehen? Wie wäre es, wenn er sich des Tott mit kühnem Wurf in die Flut entledigte und sich für den Rest seines Lebens mit dem Reichtum begnügte, den er besaß? Aber hieß dies wirklich das Glück opfern, nicht vielmehr es erkaufen? Und dann, war nicht der Maharadscha selber märchenhaft reich? Also aufs Opfern kam es gar nicht an? So viel wußte Habib aus der Lehre der Brahmanen: Man durfte besitzen, aber nicht von den Dingen besessen werden. »Besitze,« hieß es, »als besäßest du nicht.« Habib aber besaß die Dinge nicht, er wurde von ihnen besessen.

Während ihm dies eines Nachts, als er in seiner Kajüte den Tott anstarrte, bis zur Verzweiflung klar wurde, erhob sich ein heißer Monsunsturm. Das Schiff ächzte in allen Fugen. Die Gäste eilten aus ihren Kajüten, auf dem Verdeck von einem Wolkenbruch empfangen, die Schiffsoffiziere beruhigten. Ein furchtbares Krachen erfüllte die Luft. Habib verlor fast die Besinnung in dem Getümmel, das ihn umgab. Da schrie er plötzlich verzweifelt: »Ich opfere alles ... das Glück,« stürmte auf das Verdeck, den Tott und seine sonstigen Schätze in der Kajüte zurücklassend. Unter dem Getöse des Sturmes sank der »Thaltybius«. Einige überfüllte Rettungsboote schaukelten bei Sonnenaufgang auf der Flut. Nach mehreren Tagen wurden sie von einem nach Kalkutta zurückkehrenden Schiff aufgenommen. Der fette Habib erschien nicht mehr unter den Juwelenhändlern der Erde, wo er eine bekannte Figur gewesen war; auch in den Bankhäusern der alten und neuen Welt, wo er sein Geld aufbewahren ließ, hörte man nichts mehr von ihm. Dagegen will ihn einer als Einsiedler, arm und mager, in dem Gazellenwald unweit Benares gesehen und von ihm den Spruch gehört haben:

»Wann er das Reich erschaut, das wahre, reine ew'ge,
das frei vom Leiden ist, das frei von allem Wähnen,
und jedes Daseinsband von ihm durchschnitten ward:
Das ist die höchste Lust, der keine andre gleicht.

Wann mitten in der Nacht im tiefen, stillen Walde,
wann Tau zur Erde fällt, die wilden Tiere brüllen,
in sichrer Bergeshöhl' der Selbstvertiefte sinnt:
Das ist die höchste Lust, der keine andre gleicht.«


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