Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Kapitel

Nun lag also der Stein Tott auf dem Grund des Meeres und hatte, wie das Buch Dzjan verkündigte, seine Kraft verloren. Aus dem Rabengeschlecht lebte zu dieser Zeit nur ein Einziger als Mensch und mußte es bleiben: der scharfäugige, gelbhäutige Ingenieur Winighea Blackcoffin in London. Als ihm der Untergang des »Thaltybius« aus den Zeitungen bekannt wurde, erschrak er sehr, denn er wußte, daß mit dem Talisman seines Geschlechts seine Kraft verschwunden war. Wie oft hatte sich Mr. Blackcoffins etwas verkümmerte Gestalt in einen Raben verwandelt und so die Geschäftsgeheimnisse oder die Entdeckungen anderer belauscht. Dies Verfahren brachte ihm großen Reichtum ein, und daraufhin hatte ihm die schöne, aber peinlich tugendhafte Miß Iphigenia Blubbercox, ein Stern der leichten Bühne, bereits ihr Jawort zur Vermählung gegeben. Nie wäre der einsichtige Winighea, der sich die geringen Vorteile seiner Gestalt keineswegs verhehlte, in ein so gefährliches Abenteuer gestürzt, hätte er nicht durch seine Verwandlungsfähigkeit als Rabe die Tugend seiner schönen Gefährtin leicht bewachen können. Durch das Versinken des Tott war nun diese Möglichkeit dahin. Aber so ist das Leben: weil ein feister Türke einen Stein in das bengalische Meer wirft, muß ein Londoner Ingenieur seine Heiratspläne aufgeben. Eine solche Welt ist unerträglich. Wie recht hatte also Habib gehabt, wenn er sich ihr in dem Gazellenwald von Benares entzog. Auch Mr. Blackcoffin konnte so nicht weiterleben, nur schlug er zur Bändigung des Schicksals den entgegengesetzten Weg ein: er verließ sich auf die technischen Errungenschaften seines stolzen Jahrhunderts. Wie alle großen Unternehmernaturen seines Zeitalters besaß er ein Buch, in welchem nichts als das Alphabet stand. Er blätterte eine ganze Nacht darin und suchte sich drei Buchstaben zu seinem Gebrauch aus, und zwar fiel seine Wahl auf T.O.P. So entstand der Top. Der Name wirkte wie alle Zauberformeln unwiderstehlich. Die am festesten verschlossenen Geldsäcke der Handelswelt öffneten sich für Mr. Blackcoffin, denn jeder wollte beim Top dabei sein. In allen Zeitungen sah man ganze Seiten, auf denen nur das eine Wort Top stand, entweder einmal mit Riesenbuchstaben oder 25 Mal in kleinem Druck. In einer belebten Straße wurde ein großes Kontor eingerichtet. Auf schwarzen Glasschildern und auf allen Fenstern stand mit Goldbuchstaben: Top. Ein feuriges Rad sprühte, sobald es dunkelte, das Zauberwort Top 16fach in die Nacht. In der Frühe erschienen in dem Kontor zwölf blonde Mädchen, um auf schwarzen klappernden Maschinen große Bogen vollzuschreiben, auf denen oben Top stand. Keine wagte zu fragen, was Top eigentlich sei, so ehrfürchtig fromm waren die Gemüter dieser Mädchen gegenüber dem Geheimnis, dem sie dienten. Täglich wurden Hunderte solcher Bogen von Mädchenhänden in die alte und die neue Welt geschickt, um immer mehr Menschen für den Top zu gewinnen. In einem fort kamen zustimmende, ja jubelnde Antworten, die dem Top wie einem mächtigen Heidengott huldigten. Den ganzen Tag tobten Menschen in zischenden, stinkenden Fuhrwerken heran, um mit Mr. Blackcoffin in einem kleinen üppigen Teppichgemach hinter Polstertüren über den Top zu sprechen. Manchmal rauschte auch die schöne Iphigenia Blubbercox in märchenhaften Gewändern herein. Dann schauten alle die blonden Mädchen voll schaudernder Bewunderung auf wie zu einer seligen Göttin. Abends, als Miß Iphigenia mit ihrem Bräutigam fortging, hörten die ehrfürchtigen Mädchen einmal, wie Mr. Blackcoffin zu ihr sagte: »Der Top läuft jetzt.« Die schöne Iphigenia aber erwiderte schmelzend: »O mein Liebling, du bist ein wahrhaft großer Mann.« »Welch ein Leben!« sagten die blonden Mädchen.

Eines Morgens stieg vor den Fenstern des Top aus einem der zischenden stinkenden Wagen Mr. Dibs, ein untersetzter kräftiger Mann mit backsteinrotem Gesicht und kleinen, höchst lustigen blauen Augen. Er ging, einfach und herzlich einen guten Morgen wünschend, zwischen den ehrfürchtigen Mädchen durch, gefolgt von zwei Mohren, die Kisten und seltsames Gerät trugen, und verschwand hinter der Polstertür. Nach einiger Zeit kam Mr. Blackcoffin, der sonst Wortkarge, Gestrenge mit einem fast menschenfreundlichen Gesichtsausdruck heraus, gefolgt von einem Ungetüm über Menschengröße. Dessen ungeheurer kugelrunder Kopf mit schwarzen verglasten Höhlen statt Augen und Nasenlöchern, sein gedunsener Leib, wie von einem aufrecht gehenden Bären, doch haarlos und aalglatt, waren wirklich dazu angetan, auch Mutigeren, als jenen blonden Mädchen, Schrecken einzuflößen. Alle verließen ihre Plätze, einige schrieen auf, manche blieben wie angewurzelt stehen. »Dies ist der Top,« rief Mr. Blackcoffin mit einem Gelächter, das klang, als schlügen Totengebeine zusammen. Dann riß er plötzlich dem Ungetüm den Kopf herunter, und aus dem wulstigen Rumpf ragte das gemütliche, backsteinrote Gesicht des Mr. Dibs; auch er brach in ein lautes, aber gemütliches Gelächter aus, in das die Mädchen bald einstimmten. Nun wußten sie, daß der Top ihnen nichts tat, sonst aber wußten sie nichts und begehrten auch gar nichts mehr zu erfahren. Unter einander und zu Fremden sprachen sie von jetzt ab ganz vertraulich von »unserem Top.« Ihr Top gab ihnen ja genug für die Nahrung und die dünnen, bunten Fähnchen, die sie trugen, und darum war er ein guter Top. Mr. Blackcoffin aber war der Priester des Gottes Top, und der mochte wohl alles nötige wissen. Das genügte.

Nach einiger Zeit lasen die Mädchen in der Sonntagszeitung »Damenspiegel«, daß »ihr Top« über das Meer in das Land Indien gefahren sei. Auf der ersten Seite prangte sein Bild mit dem ungeheuren Kugelkopf und den verglasten Augen, wovor sie sich einst so erschreckt hatten. Jetzt schnitten einige das Bild aus und nagelten es an die Wand in ihren Kämmerchen über der schmalen Bettstatt. Inzwischen klapperten die Maschinen weiter, die stinkenden Wagen zischten nach wie vor unter den Fenstern des »Top,« Menschen rannten wie besessen aus und ein, und gegen Abend rauschte meist die mit immer mehr funkelnden Steinen behängte Göttin, Iphigenia Bluddercox, zwischen den ehrfürchtigen Mädchen hindurch.

Eines Morgens aber erschien wieder der gemütliche Mr. Dibs. Nun hatten die Mädchen alle Scheu verloren. Sie umringten ihn und riefen laut: »Unser Top ist wieder da! Unser Top! Er ließ sich's halb verlegen, halb erfreut gefallen und rief nur immer » How do you do? How do you do?« Dann eilte er hinein in das Teppichgemach zu Mr. Blackcoffin und überreichte ihm in einem Lederbehältnis den rotgelb schimmernden Stein Tott. Der Ingenieur betrachtete ihn aufmerksam, ohne eine Miene seines hohlen knochigen Gesichts zu verziehen, und legte ihn beiseite. »Es ist gut« war das einzige, was er zu Mr. Dibs sagte. Dann schrieb er etwas in ein langes Heft, riß die Seite heraus und gab sie dem darüber höchst befriedigten Mr. Dibs.

»O, ihr reizenden Geschöpft!« rief dieser lustig, als er wieder zwischen den jungen Mädchen durchging, die ihn von neuem umsprangen mit dem Ruf: »Unser Top, unser Top!«

Aus dem Nebenzimmer war inzwischen durch das Fenster der Rabe Winighea mit dem gelben Stein Tott im Schnabel davongeflogen. Von dem Ingenieur Blackcoffin hat niemand mehr etwas gesehen noch gehört.

Am nächsten Tage herrschte in den Räumen des Top ungeheure Erregung. Die Mädchen weinten, da sie nun dem Hunger preisgegeben waren. Die Leute, die aus den zischenden Wagen ausstiegen, brachen in Verwünschungen aus wegen der großen Summen, die sie dem verräterischen Top geopfert hatten. Da erschien gegen Mittag Mr. Dibs selbst. Alle fielen über ihn her, er solle helfen, er sei der Top. Mr. Dibs aber bestritt das voll Zorn. Mr. Blackcoffin sei der Top. Der Zettel, den er gestern von ihm erhalten und gegen den ihm die Wächter von Mr. Blackcoffins Schatz Geld geben sollten, war gefälscht. Mr. Blackcoffins Schatzkammer sei leer. Schließlich erschien in hysterischer Erregung auch die schöne Iphigenia. Sie erklärte, vertrauend auf die steigenden Preise des Thees, worin Mr. Blackcoffin in letzter Zeit hoch spekuliert hatte, habe sie sich von ihm ihre Frauenehre rauben lassen, die ihr aber für weniger als 25 000 Pfund unter keiner Bedingung feil sei. Sie würde die Rechte ihres mißbrauchten Leibes schon durchsetzen. Die Mädchen erstarrten in Ehrfurcht vor der schwindelnden Zahl. O, welch' einen Stolz besaß doch diese Göttin Iphigenia.

Es dauerte noch einige Wochen, bis die Menschen ihre Hoffnung ganz aufgaben, in dem Heiligtum des weiland Top noch etwas von ihrem verlorenen Gut zu retten. Schließlich verödeten die Räume. Der Hausrat wurde fortgetragen, aber noch immer prangte in Goldbuchstaben das Wort Top an den Fenstern.

Nach einiger Zeit zog ein neuer Gott in die Räume ein. Ich glaube, er hieß F. J. R. G. oder so ähnlich, aber dessen Dichten und Trachten gehört nicht in diese Geschichte.

*

Eines Tages erschien im sagenumwobenen Rheinland in der chemischen Fabrik von Tüchtig und Lebgut der junge Doktor der Chemie Kraft Gotthold Schläulich. Er hatte eine neue Erfindung gemacht, die er den Herren Tüchtig und Lebgut vorlegen wollte, um sie in deren Fabrik ausführen zu lassen. Das Äußere des Dr. Schläulich war wenig einnehmend. Er hatte ein finniges, stets etwas blau angelaufenes Gesicht, eine niedrige querfaltenreiche Stirn und trug über den wasserblauen Augen eine goldene Brille. Der Körper verriet ein schlechtes Knochengerüst. Dafür aber waren die Papiere, die Dr. Schläulich vorwies, um so achtunggebietender. Er war der Sohn eines kinderreichen Schullehrers aus Thüringen, hatte sich aus eigener Kraft, nämlich mit Schreibarbeiten und Stundengeben, während des Studiums selbst die Mittel dazu erworben, besaß Empfehlungen der größten Gelehrten seines Faches und legte nun eine Erfindung vor, die den Herren Tüchtig und Lebgut das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Das bartlose Antlitz des Herrn Tüchtig, der sich ganz nach der englischen Mode trug, musterte den jungen Mann. »Sie glauben also wirklich, daß das möglich ist?« fragte er. Herr Lebgut, ein Mann mehr von älterem Schrot und Korn, strich sich den breiten blonden Vollbart und sagte mit ausgesprochen sächselndem Tonfall: »Nu, mein Lieber, da wärden Se aber dem lieben Gott höllisch ins Handwerk pfuschen.« »Über etwas anderes als starke Hitzegrade und hohen Druck verfügt der liebe Gott auch nicht«, erwiderte der junge Mann sachlich. »Richtig«, bestätigte Herr Tüchtig befriedigt und reichte Herrn Dr. Schläulich seine goldene Zigarettendose. Dieser dankte, er war Nichtraucher.

Der junge bisher darbende Chemiker wurde bei Tüchtig und Lebgut angestellt mit einem Gehalt, das ihn schwindeln machte. Die Fabrik widmete ihre Kräfte seiner Erfindung. Der Gewinn sollte geteilt werden. Die Erfindung des Dr. Schläulich war nichts geringeres, als ein Verfahren Diamantenstaub zu schmelzen und aus der gewonnenen Masse neue Steine in beliebiger Größe zu bilden. Nachdem die ersten Versuche gelungen waren, beriet man, welcher Name den künstlichen Brillanten verliehen werden sollte. »Brillantin« wurde sofort fallen gelassen, um Verwechselungen mit den Erzeugnissen eines anderen Gebietes zu vermeiden. Herr Tüchtig, der seine besten Jahre in England zugebracht hatte, schlug als Name vor »Prince of Wales«. Herr Lebgut dagegen war für einen echt deutschen Namen und wollte die neuen Steine schlicht »Steinole« nennen. Das roch aber dem geschmackvolleren Herrn Tüchtig wieder zu sehr nach Stiefellack oder Putzmitteln. Seine Tochter hieß Mabel. »Nennen wir die Steine Mabel«. »Nein, dann lieber Gretchen,« warf Herr Lebgut wehmütig ein, denn so hieß sein Töchterchen, das er kürzlich im Alter von sechs Monaten begraben hatte. Wie schön schien es ihm, die Erinnerung an das aufgeweckte Kind in einer Erfindung fortleben zu lassen, die ein Triumph des Fortschritts war. Dr. Schläulich machte dieser Meinungsverschiedenheit schnell ein Ende. »Was denn für ein Name?« rief er. »Meine Steine sind echte Brillanten, und als solche geben wir sie in den Handel.« So geschah es denn auch.

Das Gehalt des Dr. Schläulich wurde verdoppelt. Zum erstenmal in seinem arbeitsreichen Leben gönnte er sich etwas Ruhe und fuhr, wovon er zeitlebens geträumt hatte, in die Berge des Landes Engadin, weil dort um diese Zeit reiche Leute aus der ganzen Welt zusammenkamen, um im sonnigen Schnee Schlitten zu fahren und auf Schneeschuhen zu laufen. In jener Welt war es, wo Dr. Schläulich zur Krönung seiner Laufbahn sich einmal die Gattin suchen wollte. So war denn die Reise nicht nur Erholung und Vergnügen, sondern, wie er sein Gewissen beruhigte, in einem höheren Sinne doch auch Geschäft und gut angewendete Zeit.

Der findige Dr. Schläulich lernte trotz seinem schwachen Körper schnell die »Sport« genannten Künste der reichen Leute. Eines Mittags stand er auf Schneeschuhen unter einer einsamen Tanne in blitzendem Weiß. Die Stimme Gottes rief in dieser Stille, als habe sie es eigens auf den Dr. Schläulich abgesehen, um ihn aus dem Gefängnis seines gehetzten Lebens zu erlösen; aber er hörte sie nicht, obwohl sie so vernehmlich war, wie im Lande Tibet. Dagegen schien ihm, als habe er den ungeheuren, von ihm selbst hergestellten Brillant an seinem Finger nie so lebhaft funkeln gesehen, wie unter dieser reinen Sonne des Hochgebirgs. Er zog den Ring ab, legte ihn auf einen Baumstumpf ins hellste Licht und entfernte sich einige Schritte, um die Wirkung zu prüfen. Er hatte nicht bemerkt, daß einige Raben, die ihm zu Häupten flatterten, sein Tun aufmerksam beobachteten. Plötzlich flog einer auf den Baumstumpf zu, bemächtigte sich des Ringes und mischte sich wieder in den Schwarm ... »Verfluchtes Aas,« rief Dr. Schläulich und blickte dem schreienden Rabenvolk nach, das sich gegen einen nahen Hochwald entfernte. Da ließ sich nichts ändern, der Ring war verloren. Beim Abstieg gesellte sich zu Dr. Schläulich ein anderer Schneeschuhläufer, ein fast fleischloser Mensch mit starrem Gesicht, in dem die Haut unmittelbar über die Knochen gespannt schien, und überreichte ihm den verlorenen Ring. »Hier, dies habe ich Ihnen zurückzugeben«, sagte er kurzerhand. »Wir wollten uns Ihr Erzeugnis nur einmal ansehen. Ich bin der Zeitungsbesitzer Winighea Mischief aus New York und finde Ihren Stein geradezu vollkommen. Ich selbst habe einen gelben Diamanten, wie er nur einmal in der Welt vorkommt. Das ist aber ein äußerst unsicherer Besitz. Kürzlich ist er mir bei einem Schiffbruch abhanden gekommen. Nur unter großen Opfern konnte er durch einen Taucher wieder gefunden werden. Seitdem ich von Ihrer vorzüglichen Erfindung weiß, habe ich beschlossen, meinen Stein von Ihnen vervielfältigen zu lassen. Hier, nehmen Sie ihn an sich und machen Sie mir davon sieben ähnliche Exemplare. Den gelben Diamantenstaub, den Sie zur Verdünnung brauchen, finden Sie in diesem Säckchen.« Dr. Schläulich traute seinen Ohren nicht. Was ihn noch mehr verwunderte, ja erschreckte, als die Rückgabe seines Steines, war die Tatsache, daß dieser Mischief das Geheimnis seiner Erfindung kannte. Der schien seine Gedanken zu erraten. »Erschrecken Sie nicht. Unter der Bedingung, daß Sie mir die sieben rotgelb schimmernden Diamanten liefern, werde ich Ihr Geheimnis bewahren. Sie brauchen übrigens Ihren Urlaub nicht abzubrechen, aber wenn Sie nach Hause kommen, machen Sie sich gleich an die Arbeit. Ich zahle Ihnen eine Million Franken dafür, hier ist die Anweisung auf die Hälfte. Einer Quittung bedarf es nicht zwischen uns, Sie sind mir sicher. Ich werde selbst an den Rhein kommen, um mir zur rechten Zeit die Steine zu holen und die andere halbe Million bringen. Good by.« Damit jagte der Amerikaner auf seinen Schneeschuhen eine sonnige Halde hinab und verschwand dann hinter den Tannenstämmen. Dem verwunderten Dr. Schläulich fielen die Raben auf, die noch eine Zeit lang zu seinen Häupten schwärmten.

Er hätte seinen eigenen, naturwissenschaftlich geschulten Sinnen nicht getraut, wäre nicht der ordnungsmäßige Scheck in seiner Hand gewesen. Im Städtchen bezahlte man ihm sofort einen beträchtlichen Teil davon aus und entschuldigte sich, daß man den Rest erst in einigen Tagen da haben werde. Dr. Schläulich verfügte, daß das Geld nach Deutschland gesandt würde. Am Abend hielt er, den glückbringenden Stein Tott in der Tasche, um die Hand der schönen Miß Violett Mouthpiece aus Philadelphia an, die ihm, der nicht begriff, wie er zu solchem Glück kam, mit ihrer vertrockneten Mutter sogleich nach Deutschland zu folgen versprach, da sie dieses Land längst hatten besuchen wollen. Nach einigen Monaten erschien Mr. Winighea Mischief am Rhein, erhielt seine sieben dem Tott in ihrem rotgelben Schimmer völlig gleichen Steine und brachte die zweite Hälfte der Million. Von den weiteren Schicksalen des Dr. Schläulich, weil ihn der Leser gewiß lieb gewonnen hat, nur noch so viel: Miß Violett Mouthpiece hielt nicht, was sie versprochen hatte. Zunächst war sie doch nicht ganz so vornehm, wie sie dem in der großen Welt unerfahrenen Dr. Schläulich anfangs geschienen hatte. Was ihn als amerikanische Flottheit zuerst fesselte, machte ihm nach einiger Zeit keinen rechten Eindruck mehr. Vielmehr langweilte er sich bei ihren eintönigen und inhaltslosen Gesprächen, denn er gehörte zu den Männern, die von Frauen überrascht und angeregt werden wollen. Im Lande Engadin war dies der ihm fremdartigen Violett auch gelungen. Kaum war sie dem Einfluß der Hochgebirgsluft entzogen, als sie plötzlich um mehrere Jahre gealtert erschien. Ihre Haut wurde gelb und welk, die Züge schienen spitz. Ein bißchen unangenehm war auch, daß ihr an jeder Hand der kleine Finger fehlte, was sie im Lande Engadin gut unter Handschuhen zu verbergen gewußt hatte. Obwohl Dr. Schläulich jetzt nicht mehr auf eine Mitgift zu sehen brauchte, so war es doch peinlich, seine Braut und besonders ihre Mutter, in dauernden Geldschwierigkeiten zu sehen, die sie stets anders begründeten. Was hätten sie denn wohl angefangen, wenn sie ihm nicht begegnet wären? erwog er erst im stillen, bald laut. »Dann hätten wir einen anderen Wohltäter gefunden, Mr. Schläulich«, sagte Violett kurz, und ihres Wertes bewußt, »es gibt viele edle Menschen in der Welt.«

Schon überlegte er, wie er sich aus dieser Angelegenheit herauswickeln könnte, als Miß Violett einen Brief aus der amerikanischen Stadt ABC (sprich Ehbiszi) erhielt von ihrem Vetter Jimmy Delightfull, dem sie einige Andeutungen über ihres Bräutigams Erfindung gemacht zu haben gestand. Dieser Jimmy versprach Milliarden von Dollars, wenn Dr. Schläulich sofort selbst nach ABC käme, um dort eine Fabrik zu gründen. Nach einigen Monaten, wenn alles im Gang sei, könne er dann ruhig nach Deutschland zurückkehren. Die Reize der Miß Violett stiegen sofort wieder auf die Höhe, die sie im Lande Engadin erreicht hatten, und bald saß das glückliche Paar auf einem Dampfer nach Amerika. Angesichts der aus dem Nebel auftauchenden Freiheitsstatue der Stadt New York schwur Dr. Schläulich seiner Violett, daß er sie in ABC heiraten würde. Als sie dort angekommen waren, erfuhr Violett, daß Mr. Delightfull sich zur Zeit auf einer Geschäftsreise in den Südstaaten befand. Aber was schadet das? Inzwischen konnte man die Wartezeit ja zum Heiraten benutzen. Dr. Schläulich wurde mißtrauisch. Es kam zu Auseinandersetzungen, und schließlich zog er in einen anderen Gasthof. Eines Morgens erschien Jimmy Delightfull bei ihm in Person. Dr. Schläulich gefiel die gemütlich unbefangene Art des breitschultrigen Mannes gleich ausgezeichnet. Nichts von den überflüssigen Förmlichkeiten Europas, sondern alles Offenheit, ja Herzlichkeit. Der Amerikaner sagte, er sei ein Advokat, und Dr. Schläulich schlug vor, die Beratung gleich zu beginnen. Das war es, was Jimmy gerade gewollt hatte. Er zog Papiere und Briefe hervor, aber statt von der Diamantenherstellung zu sprechen, eröffnete er, daß Dr. Schläulich, nachdem er Miß Violett mehrmals die Ehe versprochen, zum letztenmal in amerikanischen Gewässern angesichts der Freiheitsstatue der Stadt New York, dieses Versprechen in Kürze zu vollziehen habe, andernfalls er Amerika nicht verlassen dürfe, ohne die Hälfte seines Vermögens sicher gestellt zu haben, über dessen Höhe Miß Violett genaue Aufzeichnungen besaß.

Dr. Schläulich wollte aufbegehren, man habe ihn in eine Falle gelockt usw. Jimmy gab dies freundlich zu, erklärte aber, Leute zum Zweck geschäftlicher Unternehmungen nach Amerika zu rufen sei nach dem Gesetz erlaubt, seine Braut sitzen zu lassen hingegen nicht. »Alter Freund,« sagte der gutherzige Jimmy, »seien Sie lustig. Sie sind uns in die Falle gegangen, aber was macht es? Ein Mann wie Sie mit Ihrem Gehirn hat eine große Zukunft.«

Der Advokat ließ ihn allein. In Brüten versunken hörte er kaum, daß sich die Tür des Zimmers öffnete. Violett kam herein. Sie war wie umgewandelt. Die Stolze fiel vor ihm auf die Knie, vergoß Tränen und flehte, er möge sie nicht für seine Feindin halten. Nur Liebe habe sie zu dieser List veranlaßt. Er solle sehen, daß sie ihm eine treue, aufopfernde Gattin sein werde. Jeden Wunsch würde sie ihm von den Augen absehen. So hatte Dr. Schläulich die stolze Violett freilich nie erblickt. Er äußerte dies. »Ja, Lieber,« erwiderte sie, ihre Tränen langsam bekämpfend, »so sind wir Amerikanerinnen nun einmal; stolz bis zur scheinbaren Herzlosigkeit, so lange wir eines Mannes nicht ganz sicher sein können. Haben wir aber Gewißheit, dann sind wir ebenso gefühlvoll wie eure deutschen Mädchen.« »Hm,« dachte Dr. Schläulich, der auch die deutschen Mädchen in dieser Hinsicht noch nicht erprobt hatte. Es muß hier nachgetragen werden, daß des arbeitsreichen Dr. Schläulichs bisherige Erlebnisse in der Liebe wenig geeignet sind, ans Licht gezogen zu werden. Wofür er schwärmte, das waren stark entwickelte weibliche Formen. Mochte Violett Mängel haben, ihre Büste und die Fortsetzung ihres Rückens ließen in Dr. Schläulichs Blicken nichts zu wünschen übrig. Und jetzt behauptete sie gar gefühlvoll zu sein, was der Vielbeschäftigte noch nie bei einer Frau erlebt hatte. Nun, so übel war das alles nicht! So wurde denn die Hochzeit vorbereitet. Violett blieb die hingebende Zärtlichkeit selber, Jimmy erschien täglich, ja er begann sogar Vorbesprechungen wegen der Diamanten.

Violetts Ehrentag wurde im ersten Gasthof von ABC in engem Kreis gefeiert. Außer der Mutter, die dem Whisky tapfer zusprach, und Jim, der nur Mineralwasser trank, waren einige Herren und Damen geladen, deren Sprache der sonst das Englische gut beherrschende Dr. Schläulich kaum verstand. Ihm gefielen sie wenig in ihrer lauten Lustigkeit, obwohl sie mit ihm sprachen, als seien sie Freunde und ihn sogar manchmal »alter Kerl« anredeten. Oft fühlte er Violetts Hand auf seinem Knie.

Endlich waren beide allein auf ihrem Zimmer. Die Stunde kam, da Dr. Schläulich zum ersten Mal eine anständige Frau der guten Kreise besitzen sollte. Er war etwas befangen, aber ein Blick auf Violetts Formen machte ihn entschlossen. Auch solche ehrbare Wesen – ermutigte er sich – waren, wenn man ihnen in der Vertraulichkeit nahte, Frauen wie sie die Natur erschaffen hat. Diese Annahme bestätigte sich aber in dem Falle Violetts nicht. Als der junge Gatte in der Dunkelheit ihr Lager teilte, vermißte er die schwellenden Formen, die ihn an ihr so sehr gefesselt hatten. Damit aber war der Tiefpunkt seiner männlichen Erniedrigung erreicht. Der Mann der Wissenschaft erwachte in ihm. »Erkenntnis der Wahrheit,« war das Einzige, woran ihm jetzt noch lag. Trotz Violetts hysterischem Geschrei, drehte er das Licht auf, durchwühlte die von ihr abgelegten Kleider, und fand darunter verborgen das, was er an anderer Stelle vermißt hatte. Die Wut des enttäuschten Männchens kannte keine Grenzen mehr. »Deine Schuld!« schrie sie noch obendrein; »in Amerika hätte ich das nicht nötig gehabt. Aber in Deutschland sind die Männer so entsetzliche Materialisten, da hat man mir geraten ...« Er wollte Violett an den Haaren aus dem Bett reißen, doch diese blieben ihm wie ein Strohwisch in der Hand; er schlug ihr ins Gesicht, ihr Gebiß flog durch das Zimmer. Violett richtete sich mit erhabener Gebärde auf und mummelte zahnlos: »Ich bin eine Amerikanerin! Diese Mißhandlungen werden Sie mir teuer bezahlen!« Dr. Schläulich aber brach in Hohngelächter aus. Seine ganze Würde war vergessen, der Thüringer Dorfbub erwachte wieder in ihm. »Sch...amerikanerin,« rief er, »du kannst mich ...« und nun folgten Ausdrücke, die sich nicht wiedergeben lassen. »Das werden Sie mir bezahlen,« mümmelte Violett in einem fort, vergeblich ihr Gebiß suchend. Dr. Schläulich aber warf seinen Mantel über den Nachtanzug und eilte hinaus. So groß die Schamhaftigkeit der Stadt ABC in Fragen der Liebe ist, so unumwunden prunkvoll zeigt sie sich in der Ausstattung der heimlichen Räumlichkeiten. In einer solchen, deren elektrischer Lichterglanz sich auf Wände von himbeerfarbenem Marmor ergoß, verriegelte sich Dr. Kraft Gottlieb Schläulich, der große Erfinder. Am anderen Morgen fand man ihn erhenkt an dem goldbronzenen Hirschgeweih, das die Fülle der Glühlampen trug. So starb der Letzte, der den allein echten Tott eine Zeit lang im Besitz gehabt hatte.


 << zurück weiter >>