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Der Kassasturz ergab das Resultat, daß er mit genauer Not noch die Fahrt nach F. bezahlen konnte, aber er durfte weiter keinen Pfennig mehr ausgeben; die Bezahlung der Hotelrechnung war ohnedies unmöglich. Um das Übel voll zu machen, verspürte er einen abscheulichen Reiz in der Kehle, seine Stimme war belegt, klang sogar rauh und heiser. Unter solchen Umständen war gar nicht daran zu denken, an diesem Abend eine zweite Vorlesung zu halten. Er mußte sich schonen, gewaltig schonen, wollte er nicht zum Vortrag in F. ganz untauglich sein. Und dieser Vortrag war für ihn jetzt zu einer Lebensfrage geworden, mußte ihn aus mancherlei Verlegenheiten erretten.
Er nahm all seine Weltweisheit zusammen, um ein Mittel zu finden, sich einstweilen anständig aus der Klemme zu ziehen. Dem Freunde wollte er sich nicht anvertrauen. Sein Nimbus müßte erblassen, befürchtete er, wenn dieser wüßte, wie es um seine Kasse stünde. Nach Hause telegraphieren? Das ging noch viel weniger an. Für heute war ja zu helfen: er durfte nur außer dem Hause nichts genießen und alle seine Bedürfnisse auf die Hotelrechnung setzen lassen. Morgen bei seiner Abreise nach F. würde er sich das Zimmer bis zu seiner Rückkehr von dort reservieren, 177 um dann noch einen Tag mit seinem Freunde, dem lieben, so lang entbehrten, verleben zu können! –
So ging's! die Hotelrechnung wuchs zwar durch diese Manipulation riesig an, aber das Decorum war gewahrt.
In der That merkte weder des Doktors Freund, noch sonst jemand das Verhängnis des doktorlichen Geldbeutels. Gleich nach dem gemeinsam eingenommenen Diner, das der Oberkellner heute unaufgefordert auf des Gelehrten Konto setzte, wurde eine Deputation des Armenrates gemeldet, welche sich einfand, um dem edlen Spender nochmals und in feierlicher Weise für seine Gabe zu danken. Der Freund stand hocherhobenen Hauptes neben ihm. Es war ein weihevoller Moment. –
Die Absage des zweiten Vortrages wurde zwar lebhaft bedauert, doch fand man es selbstverständlich, daß der Vortragende sich unter den obwaltenden Verhältnissen Schonung auferlegte. Um den Abend dennoch angenehm zu verbringen, bestellte Walser zwei Theaterplätze für sich und den Gefeierten.
»Ich sonne mich in deinem reichen Glanze,« sagte er.
»Thue das!« lächelte der Doktor. »Ich komme mir trotzdem dabei sehr arm vor.«
»Das ist die wahre Größe!« versetzte der Freund mit Hochachtung.
Nach dem Souper, bei welchem einige Flaschen Rheinwein die gute Laune erhöhten, nahmen die Freunde Abschied. Walser wollte es sich um keinen Preis nehmen lassen, morgen früh mit auf den Bahnhof zu fahren, um ihm dort ein letztes Lebewohl zu sagen. Aber der Doktor verbat sich das kategorisch. Walser dürfe sich nicht aus 178 seiner Morgenruhe stören lassen. Er versprach von F. hieher zurückzukehren und ihm noch einen Tag zu schenken.
Walser war von diesem Freundschaftsbeweise hoch entzückt und der Doktor war froh, ohne Zeugen abreisen zu können; mußte er doch ganz bescheiden dritter Klasse fahren. –
In F. hatte der Vortragende zwar nicht den gleichen Riesenerfolg zu verzeichnen, wie in C., immerhin aber konnte er mit seiner Aufnahme zufrieden sein. Und als ihm nach Schluß der Vorlesung ein Komitémitglied das bedungene Honorar von hundertundfünfzig Mark überreichte, griff er beinahe zu hastig darnach. Das sollte sein Christbaum sein!
Wieder mußte er eine bis lange nach Mitternacht währende Kneiperei mitmachen, aber er amüsierte sich köstlich und schlief dann so gut, daß er beinahe den um zehn Uhr durchfahrenden Schnellzug versäumt hätte.
Sein »Christbaum« war hier schon durch die beglichene Rechnung etwas entleert worden. Wenige Stunden später traf er wieder im »Elephanten« zu C. ein, natürlich schon erwartet von seinem Freunde. Wieder ward diniert, soupiert, eine Spazierfahrt gemacht, abends das Theater besucht, und dabei fanden es Kellner und Kutscher für ganz selbstverständlich, daß der so hoch Geehrte bezahle. Walser, dessen Einspruch früher zurückgewiesen worden war, machte keinen Versuch mehr, sich einer neuen Ablehnung auszusetzen. So kam es, daß im Gefolge der fröhlich verlebten Stunden eine lange Hotelrechnung erschien, so lang – ach, nennen wir keine Summe! Viel Wissen macht Kopfweh, und dem Doktor that in der That der Kopf 179 weh. Schon im Begriffe, in den Hotelwagen zu steigen, hielt ihn noch der Hausdiener mit den Worten zurück:
»Herr Doktor, verzeihen's, ich hab Se dee Droschke verkehrt.«
»Recht!« sagte der Doktor, der den Sinn dieser Worte nicht verstand. Er mochte wohl glauben, der Hausdiener habe etwa eine Droschke abbestellt, weil er den Hotelwagen benutze.
»Ich hab Se dee Droschke verkehrt!« rief der Mann nun etwas bestimmter.
»Ich habe ja auch keine nötig,« sagte der Doktor. »Hier haben Sie ein Trinkgeld für Ihre Mühe.« Damit reichte er ihm etwas Kleingeld.
»Eiherrjewersch, nee,« versetzte der Sachse, »ich hab Se dee Droschke verkehrt, hören Se, bezahlt hab ich dee Droschke, neulich, wie Se gefälligst angekommen sind in der Mitternacht und doch nicht angekommen sind. Die Droschke war Se pünktlich uff dem Bahnhof! Ihr kutester Herr Freund dahier hat mer das strenge befohlen.«
Die Droschke kostete abermals einen Thaler. Und in jener Nacht hatte er höchsteigenhändig sein Gepäck durch Wind und Wetter ins Städtchen geschleppt!
Jetzt kam noch ein letzter Kampf. Es galt, den Freund abzuschütteln, der ihm durchaus das Geleite geben wollte. Was brauchte der zu wissen, daß der so viel Gefeierte wie ein ganz ordinärer Reisender, sich's abermals mit der III. Klasse genügen ließ? Es war ein harter Kampf, den er zu bestehen hatte, aber endlich ging er doch siegreich daraus hervor. Ein herzlicher Kuß, eine kräftige Umarmung, ein lautes, letztes Lebewohl und – der Freund blieb zurück.
180 Auf der kurzen Fahrt zum Bahnhof sah sich der Doktor wie ein echter Wohlthäter verehrt, überall hochachtungsvollst gegrüßt. In gehobener Stimmung und voll Selbstbewußtsein dankte er. Dieses Selbstbewußtsein kam aber stark ins Wanken, als er auf dem Bahnhofe anlangte.
Der Expeditor wollte ihn durchaus nicht verstehen, als er ein Billet III. Klasse verlangte; der Hoteldiener konnte nicht begreifen, warum er durchaus sein Gepäck selbst zum Wagen tragen wollte, und als das Signal zum Einsteigen gegeben wurde, da beeilte er sich, ein Koupé für Nichtraucher zu erobern.
Schon war der Zug zur Abfahrt fertig, da erschien auf dem Perron der Vorstand des Armenrates mit einer Schar Kinder.
»Wo ist Herr Dr. Weiß? Herr Dr. Weiß! Herr Dr. Weiß!« so rief es den Zug entlang. Da wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben. Die Kinder schwenkten Mützen und Tücher und riefen unisono ein lautes »Vivat!« dem abgehenden Zuge nach.
Der Doktor aber hatte sich in die Ecke gedrückt. Er atmete erleichtert auf, als er die Bahnhofhalle hinter sich hatte. Dann rief er: »Der Herr bewahre mich vor meinen – doch nein, er bewahre mich vor künftigen Vorlesungen. Schwiegerpapa, dein Rechenexempel wird mich vernichten!« –
Zur selben Stunde lasen Frau und Elternpaar mit Stolz im Hauptblatte eine von Walser herrührende Notiz über des Doktors Vortrag, welche von dem glänzenden Erfolge Zeugnis gab, den derselbe errungen.
Der Tag der Heimkehr war auch der Geburtstag der jungen Frau. Doch hatte man den Doktor, der schon am Mittag eintraf, erst am Abend mit dem Kourierzug 181 erwartet. Mit schmerzenden Gliedern, gepeinigt von heftigem Kopfweh und starkem Katarrh, kam er an. Doch als er seine hübsche Frau umarmte, vergaß er alle Schmerzen, selbst den Mangel an Kleingeld, um den Kofferträger zu zahlen.
Der Schwiegervater ordnete das.
»Darf ich die Plüschjacke holen lassen?« fragte die Schwiegermutter, als sich ihre Tochter auf einen Augenblick entfernt hatte.
»Noch nicht, Mama,« entgegnete der Doktor rasch. »Ich möchte meine Frau zuvor das erste Geschenk genießen lassen, das ich ihr heute gebracht, nämlich mich selbst; alles andere kommt – ein ander Mal. Heute gestattet es das bewußte x nicht.«
»Du bist doch nicht ganz ohne x gekommen?« fragte der Mathematiker.
»x ist gleich nix!« entgegnete lachend der Doktor, und er erzählte während des Mahles seine Reiseerlebnisse, die ganz besonders den Mathematikus höchlich ergötzten.
»Was hab' ich gesagt?« rief dieser mit triumphierender Miene. »Aber das thut nichts; Adelgunde erhält von mir das bewußte Geschenk. Die Hauptsache ist, daß du wieder gesund zurück bist! Der Kourierzug, mit dem du reisen wolltest und mit welchem wir dich auch erwarteten, blieb, wie die soeben ausgegebene Zeitungsnummer unter ihren Telegrammen berichtet, im Schnee stecken und muß ausgeschaufelt werden. Der glückliche Umstand, der dich vor diesem Ungemach bewahrte, indem er dich zwang, mit dem Postzuge zu fahren, war das x.«
»So lassen wir das x leben!« rief die junge Frau, indem sie die Gläser mit duftendem Rheinwein füllte.
182 Die Mutter drohte zwar mit dem Finger, aber sie stieß doch mit an; nur meinte sie:
»Wie kann man ein x, das nix ist, leben lassen?«
»Verzeihung, Frau Schwiegermutter,« bemerkte der Doktor, »für was wäre meine Adelgunde die Frau eines Philosophen? Es giebt kein x, das »nix« wird; etwas bleibt von allem: die Erinnerung – sei sie nun peinlich oder freundlich. Mein x ist allerdings eine von jenen Erinnerungen, die mich deshalb am besten amüsieren, weil sie sich auf Begebenheiten beziehen, die gottlob! – vorüber sind.« 183