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Doktor Weiß war Doctor philosophiae und philosophischer Schriftsteller. Er hatte schon verschiedene Werke geschrieben, die allenthalben günstige Beurteilung fanden. Er wurde dadurch immerhin bekannt, wenn auch nicht reich; doch brachte ihm die Mitarbeiterschaft bei einigen wissenschaftlichen Blättern so viel ein, daß er für sich allein anständig leben konnte bis zu dem Tage, an welchem er sein fünfzigjähriges Jubiläum als Mensch feierte. An diesem Tage aber fing plötzlich sein philosophisches Junggesellenherz zu galoppieren an, es galoppierte hinüber zu seinem hübschen Vis-à-vis mit Namen Adelgunde, der Tochter seines um einige Jahre älteren Freundes, des Professors der Algebra an der Realschule. Die kluge Frau Professor sorgte für das Übrige: Abends Einladung, Punsch – Erklärung – Verlobung. Einen Monat später wurde die Hochzeit gefeiert. Der Himmel hing ihnen, wie man zu sagen pflegt, voller Baßgeigen und die junge Frau Doktor hatte, was sie im allgemeinen wünschte: einen Mann. Der Jubilar that ihr keinen Eintrag.
151 Da kam ihr Wiegenfest in Sicht, das erste, seit sie verheiratet war. Das erste Geschenk machte dem Herrn Gemahl Sorge, um so mehr, da auch Weihnachten in der Nähe. Die Schwiegermutter ward ins Vertrauen gezogen und diese wußte Rat.
»Wollen Sie Adelgunden eine besondere Freude machen,« sagte sie, »so kaufen Sie ihr eine mit Pelz besetzte Seidenplüschjacke, Mütze und Muff. Das ist längst ihr Wunsch – und muß sie reizend kleiden!«
»Bestellen Sie das Gewünschte!« bat der verliebte Doktor.
»Aber die Garnitur kostet mindestens –« wollte die Schwiegermutter etwas kleinlaut einwerfen.
»Bestellen Sie, Frau Schwiegermutter,« unterbrach der Doktor ihren Einwand, »ich werde diesen Posten durch Vorträge decken, die ich im Sachsenlande halte. Mein Freund, Doktor Welser in C., hat mich dieser Tage eingeladen, für einen erkrankten Redner in C. und F. einzuspringen. Ich erhalte per Abend hundertundfünfzig Mark, für die zwei Abende dreihundert Mark. Schwiegermama, bestellen Sie die Garnitur! In acht Tagen bin ich wieder hier, dann händige ich Ihnen das nötige Geld ein. Abgemacht!«
»Abgemacht!« echote die Schwiegermutter.
Sie beneidete beinahe ihre Tochter um das Glück, das dieselbe gemacht. Ihr eigener Mann war nie so galant gewesen. Aber freilich, wenn man in wenigen Stunden so viel verdient, da kann man schon ein Übriges thun. Als Adelgunde gelegentlich zu Besuch kam, beglückwünschte sie dieselbe dann auch in Gegenwart des Vaters und gab ihren Gedanken hiebei Ausdruck.
152 »Wie bist du beneidenswert,« sagte sie zu ihrer Tochter. »Dreihundert Mark erhält dein Mann für zwei Abende, dreihundert Mark! Ist das eine Summe! Dein Vater muß für die Hälfte einen ganzen Monat lang vortragen. Du bist wahrlich beneidenswert! Hab' ich nicht recht, Adular?«
Adular, der Professor der Algebra, aber zuckte die Achseln.
»Unser Schwiegersohn mag ein guter Philosoph sein,« meinte er, »aber er ist kein Mathematikus; er wird keine dreihundert Mark mit nach Hause bringen, sondern x.«
»x?« fragte die Tochter. »Was ist denn das?«
»x ist eine unbekannte Größe.«
»Aber Papa!« rief Adelgunde, »zweimal hundertfünfzig macht dreihundert; das ist doch glatt.«
»Wohl,« entgegnete der Professor. »Aber die Rechnung deines Mannes ist nicht so glatt. Er erhält 300 Mark – setzen wir dafür a. Dieses a bringt er aber nicht mit nach Hause. Da kommen die Reisespesen, eine Menge anderer Ausgaben; ich nenne diese insgesamt b. Das Ersparnis oder das x des Doktors wird also nach seiner Heimkehr a - b = xa weniger b gleich x sein. Es kommt also darauf an, wie umfangreich dieses b ist. Es kann sein, daß x = nix wird.«
»Ach Väterchen, du bist ein Schwarzseher,« lachte Adelgunde sorglos. »Mein Mann hat alles genau berechnet. Im ungünstigsten Falle bleiben ihm 225 Mark. Wollte er die Vorträge fortsetzen, könnte er mindestens monatlich das Fünffache verdienen, also 1125 Mark und in zwölf Monaten 13 500 Mark –«
153 »Ja wenn das b nicht wäre,« behauptete lachend der Mathematikus. »Dieses b macht wir Sorge. Nun, in acht Tagen wissen wir ja genau die Werte einzusetzen und das x zu finden.«
Der Doktor wollte von den mathematischen Skrupeln des Schwiegervaters auch nichts wissen und packte seinen Handkoffer. Mit dem Nachtzuge wollte er nach Sachsen abreisen. Den Tag über hatte er fein säuberlich sein Thema geschrieben und wohlgefällig blickte er nun auf sein Geisteswerk, das den Titel führte: »Über die Bildung der Seele.«
Die Schwiegermutter war voll Entzücken.
Die junge Frau stimmte der Abschied freilich traurig; war es doch die erste Trennung in ihrer jungen Ehe. Hätte sie geahnt, was die eigentliche Ursache dieser Reise sei, sie hätte nie und nimmer darein gewilligt.
Der Doktor mußte es sich gefallen lassen, daß ihm Frau und Schwiegermutter das Geleite nach dem Bahnhof gaben. Vor Abgang des Zuges wurde feierlich Abschied genommen und mit den Taschentüchern nachgegrüßt, so lange die Visierlinie frei war. Dann warf sich der Doktor in die Ecke des Coupees und durchflog die verschiedenen Zeitungsblätter, welche er vom Kolporteur erworben. Sonderbarer Weise fiel sein Blick bei jedem Blatt immer zuerst auf die Notiz: »Ein durchgegangener Bankdirektor. Tausend Mark – Finderlohn.«
»Von mir aus kann er verloren bleiben,« sagte der Doktor für sich; »ich vertraue meine Kapitalien niemand an, ich trage sie mit mir, sie sind meine Bildung, mein Geist – in zwei Stunden 300 Mark Zinsen! Rothschild, du hast deinen Konkurrenten gefunden!« Und nun schwelgte 154 er ob der kommenden Freuden. Er war allein, er konnte sich's bequem machen. Draußen stürmte der November, die Wärme im Coupee that ihm wohl; er schlief ein und träumte.
Es war ein sonderbarer Traum. Er stand vor dem Auditorium, welchem er Vortrag zu halten hatte, doch als er beginnen wollte, fand er nirgends das Heft, in welches er so sauber und fein sein Thema geschrieben. Und auswendig konnte er nichts. Unter dem Hohngelächter seines Traum-Auditoriums erwachte er.
»Gottlob, es ist nur ein Traum gewesen! Ich vergaß mein Thema nicht!« sagte er sich wie zum Troste, »ich –«
Da stieg es plötzlich siedend heiß in ihm auf. Er hatte das Manuskript kurz vor seinem Weggehen noch einmal aus dem Koffer genommen, um einige Worte einzusetzen. Hatte er es da auch wirklich wieder eingepackt? Hatte er es nicht etwa auf dem Schreibtische liegen lassen? Einen Eid hätte er nicht darauf schwören können.
Diese Ungewißheit ward ihm immer peinlicher, sie fing an, ihn zu foltern. Um ihr ein Ende zu machen, nahm er seinen Handkoffer herab, um nach dem schwarzen Hefte zu suchen.
Er suchte mit nervöser Hast – endlich fand er es. Gottlob, er hatte es also nicht vergessen. Da er nun einmal aus dem Schlafe gestört war, studierte er seinen Vortrag nochmals durch. Der Koffer stand offen auf dem Sitze, die ausgepackten Gegenstände lagen in malerischer Unordnung rings umher – Da pfeift es. Die Wagenthüre ward aufgerissen und der Schaffner ruft:
»In der Richtung auf C. Wagenwechsel, awwer 155 schnell! Der Zug geht Se gleich wieder ab, denn wir haben gefälligst Verspätung.«
Der Doktor wollte Einwendungen machen, aber der höfliche Schaffner rief unerbittlich und dringend:
»Aussteigen! sonst müssen Se gefälligst mit nach Berlin.«
Nun schoppte der Doktor die Dinge eiligst in den Koffer, wie ihm alles gerade in die Hand kam. Er brachte infolge dessen den Koffer nicht mehr zu und mehrere Sachen entfielen ihm beim Aussteigen. Indem er sich bückte, dieselben aufzuheben, rutschte das kleine schwarze Heft hinter die Heizdampfröhre. Deshalb fiel er dem Schaffner in den Arm, als dieser die Wagenthüre schließen wollte und rief:
»Mein Thema! Mein Thema liegt noch drinnen!«
»Ich seh Se nischt nich!« erwiderte der Kondukteur, in das Coupee blickend.
Das Zeichen zur Abfahrt wurde gegeben.
»Mein Thema! Mein Thema!« rief der Doktor mit allen Zeichen jammervollsten Schreckens. »Sehen Sie denn nicht?«
»Ach Herrcheeses nochemal!« rief der Schaffner. »Was ist Se das – ein Thema für ein Ding? Ich seh Se keenes.«
»Ein Thema! Eine Abhandlung!« rief jammernd der Doktor.
»Ich seh Se keene Handlung!« entgegnete der Schaffner. »Glooben Se, die Coupees sein Se Trödlerbuden? Da is 'ne Zippelkappe – ist das die vermaledeite Thema? Herrcheeses, was is das für 'ne Plag mit Se!«
»Einen Thaler für mein Thema!« schrie der Doktor wieder.
156 »Und wenn Se mir noch önen Groschen uffgebe, ich seh Se nischt.«
Jetzt pfiff die Lokomotive heiser, wie eine Nachteule und der Zug setzte sich in Bewegung. Der Doktor, in beiden Händen Reisegepäck, lief nebenher.
Der Schaffner suchte noch immer im Coupe nach dem verloren gegangenen Thema.
»Mein Thema! Ein Heft in schwarzem Umschlag – unterm Sitz – um Gotteswillen, sehen Sie nicht?«
Endlich hatte es der Schaffner erblickt.
»Wenn Se das der Pfifferling is, da haben Se Ihr Thema,« sagte er. »Awwer jetzt geht Se der andere Zug ooch schon fort, jetzt sind Se man angefroren bis morgen früh. He da – fangen Se zu!«
Damit warf er ihm aus dem Wagen das Heft zu; aber der Doktor, der alle Hände voll hatte, konnte nicht fangen und so fiel es auf den von Schnee und Regen durchweichten Boden. Der Schreckensschrei des Doktors verhallte in dem Getöse des abgehenden Zuges. Er suchte in der Dunkelheit das Thema herauszuschälen aus dem weichen, schmutzigen Bette. Ein Schmerzensseufzer entrang sich seiner Brust.
»Ach,« meinte er, »das ist schon das erste b, das mir mein Schwiegervater prophezeite.«
Doch gab es jetzt keine Zeit zu solchen Betrachtungen. In raschem Laufe ging es hinüber in den anderen Teil des Bahnhofes, wo es in der Richtung nach C. weiter ging. Aber o weh! da ertönte schon das Zeichen zur Abfahrt, der Zug setzte sich in Bewegung, des Doktors Rufen war vergebens, ehe er ganz zur Stelle, war der Zug zum Bahnhof hinaus.
157 Entsetzt starrte der Doktor dem davonbrausenden Zuge nach.
Der dienstthuende Bahnbeamte gab lächelnd Bescheid.
»Der nächste Zug geht morgen früh um acht Uhr; es ist ein Güterzug. Wenn Sie in den Ort hineinfahren wollen, müssen Sie sich eilen; der Hotelomnibus fährt gleich ab.«
»Ich danke!« entgegnete der Doktor. »Das ist ja schrecklich! Ich habe für Schnellzug bezahlt und jetzt muß ich mit dem Bummelzug weiterfahren.«
»Sie können auch mit dem Kourierzuge reisen,« erklärte der Beamte.
»Wann?« fragte der Doktor.
»Morgen um diese Zeit. Aber Sie müssen rechtzeitig einsteigen.«
»Nein, da reise ich doch mit dem Güterzuge. Ich werde mit dem Omnibus in den Ort fahren,« entschied der Doktor.
»Der Omnibus ist Se schon alle!« rief jetzt ein Bahndiener;»er ist Se ganz leer heimgefahren. Herrcheeses, da hätten Se sich's bequem machen können.«
»Ist denn keine andere Fahrgelegenheit da?« fragte der Doktor ärgerlich.
»Keene eenzige nich!« versetzte der Bahndiener. »Awwer ich will Se aus 'ner Verlegenheit reißen, mei' kutestes Herrche, ich trag Se Ihr Gepäck hinein um drei Groschen. Da haben Se doch eene Unterhaltung, wenn mer zu zwee sein.«
»Nehmen Sie!« sagte der Doktor mit einem tiefen Seufzer; »b Numero 3.«
»Nee, nich Numero 3!« rief der Bahndiener; »ich 158 bin keen numerierter Lohndiener, ich thu Se nur aus Gefälligkeit.«
»So gehen wir!« sagte der Doktor.
»Ja, machen mer!« wiederholte der Diener. »Ich weeß Se 'nen kürzeren Weg über die Wiesen, da gleich hinter den Stauden; sehr finster is es zwar, und der Weg is Se schmal und schmutzig, awwer zweemal kürzer als die Landstraße.«
Der Doktor folgte wortlos dem geschwätzigen Führer. Er dachte über seine neue, unerwartete Lage nach und hörte kaum, was der andere ihm vorplauderte.
»Wie heißt der Gasthof, in den Sie mich führen?« fragte er nach einiger Zeit. »Kann man dort anständig übernachten?«
»Im Gasthof zu Dräsden, meenen Se? Na', das will ich glooben! Im Gasthof zu Dräsden is es sehr nobel. Er hat erst geheiratet aus dem Plauenschen Grund, ja, ja, aus dem schönen, herrlichen Grund.«
»Aus was für einem Grund hat er geheiratet?« fragte der Doktor zerstreut.
»Herrcheeses, sind Se so weit her, daß Se das nich eemal wissen?«
»Das geht mich ja gar nichts an,« antwortete der Doktor ärgerlich und abweisend, »oder, wie man bei uns zu Hause sagt, das ist mir Wurst.«
»Was?« rief der Bahndiener verletzt. »Also sind Se keen Freund von unserm schönen Sachsenlande, von Plauen und Dräsden?«
»Wer spricht denn von Plauen und Dresden?« entgegnete der Doktor gereizt. »Ich will nichts mehr hören. In den Gasthof sollen Sie mich führen, sonst nichts.«
159 »Sonst nischt? Ja nu freilich sonst nischt, sonst müßten Se noch önen Groschen dazuthun. Oder wünschen Se gar nicht nach Dräsden?«
»Natürlich will ich nicht nach Dräsden, sonst wäre ich ja mit dem direkten Zuge weitergefahren.«
»Ja, wenn Se nich nach Dräsden wollen, so führ' ich Se zu die »Rote Hirsche.«
»Sie haben mich in den Gasthof zu führen,« fuhr jetzt der Doktor auf. »So einen geschwätzigen und verrückten Sachsen habe ich noch nie gesehen.«
»Was? Se schimpfen mich eenen geschwätzigen, verrückten Sachsen? Herrcheeses noch ämal, das will ich Se gedenken! Das leid ich nich, und wenn Se mich sechs Groschen geben – das beleidigt mein nationales sächsisches Gefühl. Ei – i ja, da haben Se eere tausend Sache – ich mag nimmer – hören Se, ich verzicht auf dieses Pläsier! Mahlzeit!«
Mit diesen Worten schleuderte der beleidigte Sachse das Reisegepäck des Doktors in den Kot und eilte schleunigen Schrittes zurück zum Bahnhof.
Der Doktor stand allein da in der Nacht.
Vergebens rief er den Diener mit schönen Worten zurück, der Beleidigte reagierte nicht. So blieb dem Verlassenen nichts übrig, als seine Sachen zusammenzuraffen und so gut, oder vielmehr so schlecht es ging, den Weg zu suchen nach dem Örtchen, das ihm durch einige hell erleuchtete Fenster entgegengrüßte. Erschöpft kam er mit Hilfe des Nachtwächters, der ihm am Eingange des Ortes wie ein rettender Engel erschien, im Gasthofe zur Stadt Dresden an.
160 »Awwer warum hamm Se nich unsern herrlichen Omnibus benützt?« fragte der Wirt neugierig.
»Ich habe ihn versäumt,« entgegnete der Doktor. »Lassen Sie mir rasch ein Zimmer heizen. Mich friert.«
»Sie werden doch noch gefälligst zu Abend essen? Unterdessen lasse ich Se das Zimmer warm heizen.«
»Meinetwegen.«
Die verschiedenen Reisegegenstände wurden aufs Zimmer getragen, der Doktor aber in das Gastlokal hineinkomplimentiert, wo noch einige Bürger des Ortes, Stammgäste des Hauses, anwesend waren. Sie trugen sämtlich Tuchmützen mit großen Schirmen, wie sie vor Jahrzehnten in kleineren Städten noch in Mode waren und rauchten aus mittellangen Tabakspfeifen. Neugierig betrachteten alle den Fremdling, neugierig und mißtrauisch, denn der Doktor sah in Wirklichkeit sehr verstört aus. Es waren ehrbare, spießbürgerliche Handwerksleute, der Schneider, der Spuldrechsler, Weber, Schuster und Schmied des Ortes, und diesen kam der sonderbare, aufgeregte Mann verdächtig vor.
Der Doktor setzte sich an einen Tisch, entfernt von den übrigen Gästen und nahm keine Notiz von diesen. Sie aber desto mehr von ihm Sie warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Der eine nahm ein Zeitungsblatt zur Hand und zeigte es mit vielsagender Miene den andern.
Dieses Zeitungsblatt enthielt die Nachricht von dem flüchtig gegangenen Bankdirektor und den auf seine Habhaftwerdung ausgesetzten tausend Mark. Das Signalement paßte nach ihrer Meinung Haar auf Haar: Grau meliert und sehr üppig, das waren des Doktors Haare auch; Gesicht und Nase regelmäßig; dieses beliebte Signalement 161 traf auch bei ihm zu, denn regelmäßig war sein Gesicht, er hatte die Nase zwischen den Augen und den Mund unter der Nase, darüber war ja kein Zweifel für die kleinstädtischen Sachsen. Und der Flucht verdächtig war er auch. Warum hätte er sonst den beleuchteten Omnibus leer abfahren lassen, um sich in finsterer Nacht durch ein Kotmeer in das Städtchen hineinzutappen. Warum, fragten sie sich, sitzt er jetzt allein an dem hinteren Tische, während er an dem ihrigen Gesellschaft haben könnte? Warum blickte er, während er seinen Kalbskopf verzehrte, immer nur auf diesen und nicht auch auf die Gäste? Und hob er hin und wieder seinen Kopf, so sahen sie nur ein verdrießliches Gesicht. Natürlich, ein Flüchtling ist immer verdrießlich. Einer der Gäste entfernte sich auf Verabredung leise und begab sich zur Polizei und die anderen harrten gespannt der Dinge, die da kommen sollten.
Der Doktor hatte abgespeist. Er zündete sich eine Zigarre an und sah einige Augenblicke prüfend zu dem Stammtisch hinüber, dann stand er auf und lenkte seine Schritte schnurgerade zu den darob nicht wenig Erschrockenen.
»Meine Herren, erlauben Sie, daß ich an Ihrem Tische Platz nehme?« fragte der Unbekannte artig. »Ich bin Dr. Weiß aus N., versäumte den Zug nach C. und muß daher wohl oder übel hier übernachten.«
»Ei Herrcheeses!« erwiderte der Schneider, »das wird Se wohl von Übel sein. Nehmen Se nur Platz bei uns. Ei – i ja!«
»Also ä Doktor sind Se?« fragte der Spulendrechsler. »Hamm Se viele Patienten? Ä Doktor is Se ä schwerer Stand, wenn er keene Patienten nich hat und hat er eene, 162 so is es ooch so eene Geschichte, ich meen, bis man sie alle begraben sind –«
»Ich bin ja kein Doktor der Medizin,« fiel Dr. Weiß dem Schwätzer in die Rede; »ich bin Doktor der Philosophie.«
»An was für äne Krankheit leidet die – Sophie? dee is Se wohl äne Brinzessin?« fragte der Spulendrechsler, der nicht recht verstanden hatte.
»Philosophie hab ich gesagt – das ist Weltweisheit,« erklärte der Doktor lächelnd.
»Ach Herrcheeses, än Gelehrter sind Se?« staunte der Schneider. »Ach, da sind Se än gar großes Tierche und wir fühlen uns sehre hochgeehrt, sehre! durch Ihre Anwesenheit. Nich wahr, Nachbarn, und och du, Spule, nich wahr? es is sehr schön von dem Herre Weltweisen, daß Se mit uns Tisch und Trank teilen? Wo geht Se die Reise hin, Herr Doktor? Nach C.? Was gedenken Se in C. zu thun? Ich bin nich neugierig, nur des Diskurses halber Ei – i ja!«
»Ich halte einen Vortrag in C.,« erwiderte der Doktor.
»Anen Vortrag?« fragte der Spulendreher, »wie unser Herr Pastor –«
»Schweig, Spule!« fiel der Schneider ein; »nich wie unser Herr Pastor, nich in der Kerche, ich weeß's schon, in der Verheiterung oder wie die Gesellschaft heeßt, da spricht man und die anderen applaudieren.«
»So ist es,« pflichtete der Doktor lachend bei. »Ich lese dort ein populär-philosophisches Thema: Über die Bildung der Seele.«
»Ah, das is Se een schöner Titel!« rief der Schneider. 163 »Da möcht ich ooch dabei sein, wenn Se über das sophistische Thema sprechen. Du auch, Spule, nich wahr? Awwer das verstehst du nich, was über dein' Horizont hinausgeht.«
»Heere, mach mer'sch nich zu bunt, du Schafskopp!« entgegnete der Angezogene;»machst immer deene rebedierten Späße, du Groschenflicker –«
»Stilanz!« rief der Schuster, »än jeder flickt, so gut er's kann.«
»Und jeder trägt vor, so gut er's kann,« meinte der Doktor, und plötzlich kam ihm ein weiser Gedanke. Wenn er hier probeweise seinen Vortrag hielte? Für ihn wäre das eine Übung im lauten Sprechen und für die anderen – mußte es ein Genuß sein.
»Meine Herren,« sagte er resolut, »Sie nehmen so viel Anteil an meinem philosophischen Vortrag, daß ich gerne bereit bin, Ihnen denselben hier zu halten.«
»Ach herrcheeses!« riefen die Stammgäste. Sie nahmen die langen Pfeifen aus dem Munde und rückten an den Mützen. »Se wollten wärklich? –«
»Is Se das mit Unkosten für uns verbunden?« fragte der Spulendreher geradezu.
»Warum nicht gar,« erwiderte der Doktor. »Es muß Ihnen aber eine Freude machen.«
»Ei – i ja! Sehr viel Freude, ei – i ja!« rief der Schneider. »Da trink ich gleech noch eene Kanne. He, Wirt, eene frische! Bei so etwas muß man se feucht bleiben.«
»Mir ooch! mir ooch!« tönte es in der Runde.
Der Wirt schmunzelte. Ihm war es recht, daß der schlechte Rest im Fasse noch heute geleert wurde. Der 164 Doktor aber eilte auf sein Zimmer, das Manuskript zu holen.
Inzwischen kam der abgesandte Bote mit dem Polizeirottmeister zurück.
»Ei scheen guden Awend, meine Herren! Wo is se der Flüchtling?« fragte der letztere mit erhobener Stimme.
»Ach schrei nich so mächtig,« entgegnete der Schneider; »nischt is es mit dem Bankdirektor. Mer haben uns geirrt. Der Fremde is Se än Doktor, der in Vorlesungen macht, ä ganz ungefährliches, ganz gemeenes Subjekt. Er holt eben sein Buch und hält uns eenen Vortrag über – wie heeßt's?«
»Über die populäre Sophie!« ergänzte der Spulendreher.
»Seh doch eener den Naivitätsschwindel an!« rief der Schneider. »Wer sagt denn von Sophie? Philosophie heeßt's.«
»Ich verbitt' mir awwer jetzt ernstlich jede weedere Beleidigung!« versetzte der Spulendreher gereizt, »sonst krieg ich vor lauter Ärger die Gelbsucht, weeßt du, du Schneidersziegenbock.«
»Stilanz!« rief der Schuster.
»Wo is der Mensch?« fragte jetzt der Rottmeister wiederholt. »Kann mer ihn nich gefälligst zu Gesicht bekommen? Am Ende is er dorch!«
»Gloobs nich, bestes Rottmeesterle!« rief der Schneider.
»Wie soll ich mich davon überzeugen?« meinte der erstere. »Wie erfahre ich Gewißheit?«
»Weeßt du was, Polizeiorganismus,« entgegnete der Schneider, »setz dich her zu uns. Kommt er wieder, so is er nich dorch, kommt er nich mehr, so is se das eene kitzliche Frage.«
165 »Stilanz!« rief der Schuster. »Er is nich dorch!«
Der Doktor war zurückgekehrt. Die Stammgäste erhoben sich von ihren Plätzen, um ihn zu begrüßen. – Der Doktor stellte sich hinter einen Stuhl, das Manuskript in der Hand. Auf sein Zeichen, daß sich die Anwesenden wieder setzen sollten, fielen alle zu gleicher Zeit auf ihre hölzernen Stühle zurück, um dann mit offenem Munde den fremden Gelehrten anzustarren. Der Wirt aber setzte sich an den Schenktisch und spielte mit einem großen Kater, der ihm auf Schultern und Nacken herumkrabbelte.
»Meine hochverehrten Anwesenden!« begann nun der Doktor mit lauter Stimme, und angestaunt von seinen Zuhörern hielt er seinen philosophischen Vortrag.
Er vermied es wohl, seinem Auditorium in das Gesicht zu sehen, denn dies hätte ihn sicher zum Lachen gebracht. Er sah und sprach also ins Blaue hinein, sich ganz in seine morgige Lage versetzend.
Er mochte ungefähr eine halbe Stunde gesprochen haben, da fühlte er sich ganz unangenehm gestört durch ein abscheuliches, schnarchendes Geräusch. Ein Blick auf seine Zuhörer und – sollte er lachen oder sich ärgern? Sie waren sämtlich eingeschlafen. Selbst der dicke Wirt am Schenktisch hinten nickte ganz bedenklich mit dem Kopfe und der Kater, mit dem er gespielt, lag mit ausgestreckten Pfoten neben ihm. Mensch und Vieh verspürten die Wirkung des philosophischen Vortrages.
Ein ironischer Zug flog über des Doktors Gesicht.
»Perlen für die Säue!« sagte er zu sich. »Schlaft zu, ihr Kannegießer, euern Dank begehr ich nicht!«
Er nahm ein Licht und begab sich auf sein Zimmer.
Lange konnte er sich in dem feuchtkalten Bette nicht 166 erwärmen, und als er endlich eingeschlafen war, schreckte ihn ein lautes Gepolter unter seinem Zimmer, untermischt von Lachen und Schimpfen, wieder auf.
Seine Zuhörer waren erwacht. Ihnen mochte es zu Mute sein, wie den Studenten in Auerbachs Keller, nachdem sie Mephisto und Faust verlassen.
»Morgen hauen wir ihm!« rief der Schneider unter der Hausthüre, laut genug, daß es der Doktor hören konnte.
Das war sein Dank! – Was aber die Wirkung seines Vortrages betraf, so waren ihm ganz bedeutende Skrupel aufgestiegen. Sollte der richtige Titel für sein Werk etwa »Philosophisches Morphium« sein? Nein, nein! Morgen wird er ja zu Gebildeten sprechen, morgen werden ihm die Augen schöner Damen entgegenleuchten – morgen – – 167