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Mit Gustav Kolberg war unerwartet auch Tante Christine auf einen Tagesbesuch aus Berlin gekommen. Siewert war ihnen auf halbem Wege entgegengegangen. Er, den nie etwas sonderlich überraschte, wunderte sich nicht weiter über das Eintreffen der alten Dame, bot ihr einfach den Arm und machte die Kurzsichtige auf die vielen Steine der holprigen Dorfstraße aufmerksam.
Die beiden anderen, Luise und Gustav, gingen in lebhaftem, leisem Gespräch voraus.
»Merken Sie was, Oskar?« fragte Christine, indem sie auf das Paar vor ihnen deutete.
»Ich merke,« erwiderte er lakonisch.
»Und was sagen Sie dazu?«
»Die Liebe der alten Leute! Mögen die Götter alles zum Besten wenden!«
»Ich glaubte schon, seit dem Unglück mit Egon hätte sie's aufgegeben.
»Ich nicht.«
»Und was wird Irma dazu sagen?«
»Ja und Amen, wenn sie vernünftig ist.«
»Und wenn sie unvernünftig ist?«
»Nein und Amen!«
»Siewert, Sie sind ein schrecklicher Mensch ...! Immer sind Sie ein schrecklicher Mensch gewesen ... Da komme ich alte Person extra hierher, um mich mit Ihnen einmal ordentlich über die Sache auszusprechen ...; es ist einem doch nicht gleichgültig! Es geht einen doch auch etwas an! ... Komme also, um mich mit Ihnen auszusprechen und Sie geben keine Antwort!«
»Doch, Tante Christine, ich gebe bloß kurze Antworten. Das ist doch sehr höflich; desto bester können Sie sich aussprechen.«
»Daß die Luise nach wie vor ans Heiraten denkt ...«
»Lauf der Welt, Tante Christine.«
»Mag sein. Ich werde ihn ja nicht ändern auf meine alten Tage, den Lauf dieser Welt. Aber wenn die Tochter sich mit ihr darüber entzweit? Man sollte Luise auf diese Wahrscheinlichkeit aufmerksam machen.«
»Achtung, Tante Christine! Sehen Sie, jetzt wären Sie bald gefallen. Das kommt davon, wenn man zu viel auf andere und zu wenig auf sich selbst achtet.«
»Also gut, also gut! Wenn Sie mich nicht für voll nehmen, so reden wir nicht mehr davon. Vielleicht bin ich schon so eine alte Mumie, daß man sich mit mir über ernste Dinge nicht mehr unterhalten kann. Vielleicht bin ich nur noch gut zum Einbalsamieren!« Sie suchte ihm verdrießlich ihren Arm zu entziehen.
Siewert gab sie aber nicht frei: »Erstens, liebe Tante Christine, sind Sie keine Mumie; zweitens kann man sich mit einer Mumie weder über ernste noch heitere Dinge unterhalten und drittens ist eine Mumie bereits einbalsamiert und braucht es nicht erst zu werden. Um aber auf unseren Hammel zurückzukommen – die Sache liegt so: Kolberg und Luise sind einig. Da, eben wie sie um die Ecke gingen, hat ihr der alte Knabe einen Kuß gegeben. Haben Sie gehört, daß sie geschrien hat? Ich auch nicht. Also sie sind einig. Und werden über kurz oder lang mit oder ohne Irmas Erlaubnis in den heiligen Stand der Ehe treten. Wohl bekomm's! ich wünsche ihnen alles Gute. Wir Menschen krabbeln hier auf Erden herum, alle ohne Ausnahme bemüht, so viel Glück zu erhaschen als möglich. Eines schönen Tages ist's vorbei mit dem Krabbeln: wir wünschen nichts mehr, hoffen nichts mehr, fürchten nichts mehr, werden eingesargt, verscharrt, mehr oder minder heftig betrauert, mehr oder minder schnell vergessen. Gut, das ist in der Ordnung so, unabänderlich, urvernünftig, wiewohl es manchen urblöd erscheint. Jedenfalls ist es Tatsache. Was folgt daraus? Es folgt daraus, daß wir alles genießen sollen, was das Leben uns Schönes und Gutes bereitet, ehe es zu spät ist ... alles, Tante Christine, wodurch wir die begründeten Rechte anderer auf Lebensfreude nicht verkürzen ... Achtung, Steine! Sie werden gleich wieder stolpern. Also ich meine, wenn das junge Pärchen da vor uns das bißchen Zeit, das ihm noch bleibt, lieber in Gesellschaft miteinander krabbeln will, als jedes für sich allein, so ...«
»Aber Irma wird nun und nimmer mehr begreifen ...«
»Aha, da haben wir's! Da liegt der Hase im Pfeffer. Aller Streit, aller Hader in der Welt kommt bloß davon, daß die Menschen einander nicht begreifen wollen oder können, daß sie sich anmaßen, anderen vorzuschreiben, was sie tun oder lassen sollen. Das geht bis zum Eingriff in die allerpersönlichsten Angelegenheiten, die jeder mit sich selbst abzumachen hat. Wie ich mir mein Dasein zimmere, das ist meine Sache. Ob ich zu Buddha oder Jehova bete oder gar nicht, ob ich lieber Eisbein mit Sauerkohl esse oder Kohlrüben, ob ich lieber Wasser trinke, wie der gute Gottfried Bögehold in S. oder Bier wie andere Sünder. Das geht niemanden etwas an, mit wie schönen Gründen er auch seinen Geschmack verteidige und meinen verurteile. Glauben Sie mir, Tante Christine, Unduldsamkeit ist das größte Übel. An diesem Übel leidet auch unser gutes Irmchen.«
Man war inzwischen an der Villa Quisisana angelangt. Irma kam den Gästen einige Schritte entgegen, bemüht, ihre noch nachzitternde Erregung zu verbergen. Sie duldete sogar den Handkuß Gustav Kolbergs, gegen den sie noch immer Mißtrauen hegte, obwohl sie überzeugt war, daß er alle Hoffnungen, die Mutter zu heiraten, aufgegeben hätte.
Frau Bögehold suchte das ihrige zu tun, um etwa noch vorhandene Gegensätze auszugleichen: »Denke dir, Irma, was Herr Kolberg erzählt. Die Fabrik geht so glänzend, daß Unterhandlungen in der Schwebe sind, sie in eine Aktiengesellschaft zu verwandeln. Ein Konsortium hat sich gebildet mit einem Grundkapital von zwei Millionen Mark. Wenn wir unseren Anteil verkaufen, bekommen wir jede rund und bar fünfmalhunderttausend Mark heraus ... Alles sein Werk! was sagst du dazu?«
Der also Gelobte suchte bescheiden seine Verdienste auf das richtige Maß zurückzuführen, während Frau Bögehold auf der Veranda eine Anzahl Pakete mit Lebensmitteln, Delikatessen, Leckerbissen öffnete, die der Sozius aus Berlin mitgebracht hatte. Ein Pfund feinste Pralinen war dabei, extra für Irma bestimmt.
Ja und was die Hauptsache wäre, meinte Frau Luise: da man doch einmal beschlossen hätte, zum Herbst fortzuziehen vom Belle-Alliance-Platz, so hätte Herr Kolberg in seiner Liebenswürdigkeit sich nach einer passenden Wohnung umgesehen, einer sehr netten Villa in Steglitz.
»Eine ganze Villa?« fragte Irma erstaunt.
»Gott, sie ist nicht gar zu groß,« erklärte Kolberg, »nur neun Zimmer im ganzen. Fünf Zimmer für Sie im ersten Stock und vier Zimmer im Parterre für Ihre Mutter.«
Irma stutzte. Was ihm denn einfiele? wozu sie, die beiden alleinstehenden Frauen, so viele Räumlichkeiten brauchten? Es sei doch immer nur von einer gemeinsamen Wohnung die Rede gewesen und nicht von zwei getrennten Quartieren.
Hier sahen Kolberg und Luise sich verlegen an, während Irma beide mit einem langen Blicke maß.
»Jetzt hat sie sich verplappert!« raunte Siewert der alten Christine ins Ohr, indem er sich nachdenklich den Kopf kraute.
»Wir haben doch nun einmal jede unsere hübsche Einrichtung,« sagte Frau Bögehold. »Wie sollen wir die anders unterbringen? mein Kind?«
»Eben, Sie werden doch Ihre schönen Möbel kaum verkaufen wollen, Frau Irma?« sekundierte schnell Gustav.
»Aber du, Mama, sprachst einmal davon, daß du deine Möbel verkaufen wolltest.«
»Ich? ... ja, ganz recht ...; ich würde mir aber natürlich neue anschaffen.«
»Soso ..., du würdest dir neue anschaffen? Du scheinst sehr unternehmungslustig, liebe Mama!«
Irma sagte das mit schneidender Ironie, sehr ruhig, sehr langsam; mit der Sicherheit eines, seiner Ziele sich gewissen Schützen, schleuderte sie ihr kampfbereit die spitzen Worte ins Gesicht.
»Jetzt geht's los,« dachte Siewert und, obwohl nicht ohne Besorgnis um das, was nun kommen würde, rief er doch humorig: »Hört mal, Herrschaften: eine Frau auf der Wohnungssuche ist schon ein Malheur, aber gar zwei Frauen auf der Wohnungssuche, das ist überhaupt eine gar nicht auszudenkende Katastrophe. Kommen Sie, Kolberg, kommen Sie, Tante Christine; wir machen einen kleinen Spaziergang. Ich zeig euch beiden die historisch denkwürdige Stelle, wo ich vorhin mit dem Hecht gerungen habe.«
Indem er Kolberg unter den einen und Christine unter den anderen Arm nahm, führte er die sanft Widerstrebenden nach dem See hinunter.
Mutter und Tochter standen sich eine Weile stumm gegenüber.
»Darf ich dich vielleicht um Aufklärung bitten?« fragte Irma mit erzwungener Ruhe.
Frau Bögehold nickte bejahend.
Sie zögerte ein wenig, sagte gewissermaßen erst dem inneren Ohr die Worte vor, die sie erwidern wollte:
»Du weißt, was wir verabredet hatten, Irma. Die Angelegenheit sollte ruhen, bis das Trauerjahr vorüber wäre ... Nun, es ist jetzt zwanzig Monate her, daß wir den seligen Papa und über ein Jahr, daß wir den armen Egon begraben haben. Und darum, mein Kind ...«
»Schon zwanzig Monate und noch immer Witwe!« kam es beißend zurück.
Die andere zitterte: »Ich bin deine Mutter, Irma!«
»Es ist gut, daß du mich daran erinnerst, beinahe könnte ich es vergessen.«
»Mir scheint, du hast es bereits vergessen.«
»Deine eigene Schuld, Mutter! ... Wüßtest du, was in mir vorgeht!«
»Armes Kind, das Schicksal hat dich freilich arg angefaßt. Aber sage selbst: ist es nicht ein Unrecht, mich das entgelten zu lassen?«
»Wie wenig du mich verstehst!«
»Ich verstehe dich allerdings nicht. Das mit Kolberg ist dir doch nicht neu. Wir haben ja schon früher darüber gesprochen ... Lange vor Egons Tode. Damals schien dir der Gedanke nicht so entsetzlich. Man konnte wenigstens mit dir reden von der Sache früher. Aber jetzt ...«
»Früher! habe ich überhaupt gedacht früher? Egons Tod hat mich ernster und tiefer gemacht ... vielleicht auch strenger ... weil ich es selbst an mir so furchtbar erlebt habe, was es heißt, den Mann zu verlieren, will und will es mir nicht in den Sinn, daß die eigene Mutter – – Sieh, manchmal ist mir, als wenn Vaters treue Augen sich plötzlich mit Haß füllten und in euch beide sich hineinbohrten durch das Grab hindurch. Und manchmal kommt es mir vor, als wäre sein Blick hilfesuchend auf mich gerichtet, als wollte er rufen: ›Gib es nicht zu! gib es nicht zu, Irma!‹ – Mutter, ich bitte dich inständig, laß ab davon. Bring mir das Opfer, bring es seinem Andenken, wenn es überhaupt ein Opfer ist!«
Frau Bögehold stand und rang nach Worten. Endlich sagte sie: »Mein Kind, damit du meinen Entschluß nicht für eine flüchtige Laune hältst ... Du zwingst mich, es dir zu sagen: Unsere Ehe war keine glückliche, wenigstens für mich nicht: Frag Onkel Oskar; ihm hab ich's oft genug geklagt. Mein Leben war leer und freudlos an deines Vaters Seite.«
»An Vaters Seite?«
»Das mag dich wundern, denn dir hab ich es sorgsam verborgen. Zudem war ich schon apathisch und mürbe geworden, als du groß genug warst, um zu merken, wie es um uns stand.«
Ein plötzlicher Verdacht tauchte in Irma auf: »Und Kolberg? dem hast du wohl auch oft dein Leid geklagt? Als der Vater starb, sah ich dich in Schmerz und Tränen, Mutter. Du wirst es mir hoffentlich nicht verdenken, wenn ich jetzt weder den Schmerz noch die Tränen von damals für echt halte.«
»Darauf antworte ich dir mit deinen eigenen Worten: Wie wenig du mich doch verstehst! Nein, wirklich, Irma, du verstehst nicht mich und nicht das Leben. Ich habe zwanzig Jahre mit dem Vater gelebt, wir sind zusammen alt geworden, wir haben miteinander unser Kind aufgezogen und bei allem, was uns trennte, haben wir doch so unendlich viel gemeinsame Sorgen und auch ein wenig gemeinsame Freude um deinetwillen gehabt. Und dann, man wird im Angesicht des Todes unwillkürlich mild und weich; alles Schlimme vergißt sich für einige Zeit.«
»Du entwickelst heute eine mich befremdende Redegabe. Ich finde, du hattest deine Worte nie so zur Verfügung, wie gerade heute.«
»Was meinst du damit?«
»Nun, ich meine, du sprichst nicht ganz unvorbereitet. Was du da sagst, klingt vielleicht recht plausibel für – Unbeteiligte. Ich aber – ich kann mir nicht helfen – ich werde den Verdacht nicht los, daß du lange vor Papas Tode mit dem Gedanken an ... erneute Flitterwochen gespielt hast, bis er dir zu einer Gewohnheit geworden ist, dieser Gedanke, stärker als Mutterliebe und Vernunft.«
Frau Bögehold zitterte. Endlich stieß sie hervor: »O du ... du! ... das war gemein!«
»Dein Gustav zum mindesten, ich wette, er hat während Vaters Krankheit schon den Tag herbeigesehnt, an dem er sein Nachfolger werden könnte. Wenn Gedanken töten könnten, so wäre dein Herzerwählter ein Mörder.«
Frau Bögehold hob die Hand, wie um zum Schlage auszuholen, doch rasch ließ sie den Arm wieder sinken: »Jetzt ist das Maß voll! Meine Geduld ist zu Ende. Zu deiner Ehre will ich annehmen, daß du selbst nicht glaubst an deine wahnwitzigen Beschuldigungen. Eins aber merke dir. Wenn du mich durch solche Mittel von meinem Vorhaben abbringen wolltest, so hast du gerade den verkehrten Weg gewählt. Ich habe mich jetzt vor niemandem mehr zu rechtfertigen.« – Sie warf sich in einen Stuhl und fing bitterlich an zu weinen.
Irma stand regungslos vor ihr. Widerstrebende Gefühle der Erbitterung und der Kindesliebe kämpften in ihr. Plötzlich beugte sie sich zu Luise hinab, faßte bittend ihre Hand und sagte: »Mutter, sei gut, höre mich an, Mutter.«
Die schüttelte heftig, ohne aufzusehen, den Kopf.
»Mutter, ich will im Unrecht sein ... auf den Knien will ich abbitten, eine Lügnerin will ich mich nennen, eine Rasende, die im Wahnsinn Unverzeihliches, Unverantwortliches geredet hat ... Nur – laß ab davon, Mutter! ... So hör doch, Mutter, du sollst nie wieder über mich zu klagen haben. Ich will so sanft und demütig sein, so voller Reue und Hingebung! ... Wir sind doch aufeinander angewiesen ... durch Natur und Schicksal bestimmt, füreinander zu leben ... Auch ihn – meinetwegen – bitte ich in Gedanken um Verzeihung, aber bring das Opfer ... bring mir das Opfer, Mutter!«
Frau Bögehold erhob sich: »Es ist zu spät!« sagte sie ruhig, tränenlos.
»Nein, Mutter, es ist ja noch alles gutzumachen!«
»Es ist zu spät jetzt, Irma ... Nachgeben – ich könnte es nicht mehr, selbst wenn ich wollte. Das sähe ja so aus, als ob wir uns wirklich schuldig fühlten. Tun sie dir aufrichtig leid, deine häßlichen, deine abscheulichen Worte, nun, so beweis' es in Zukunft durch dein Benehmen gegen uns.«
»Verlang, was du willst, Mutter, bloß versprich mir ...«
»Du hast mich verhöhnt, du hast mich mißhandelt! Es soll alles vergessen sein. Aber daran hindern wirst du mich nicht, weder im Bösen noch im Guten.«
»Ich hab dich erzürnt; du bist erregt. Wir wollen ein andermal davon sprechen, wenn du ruhiger bist.«
»Ich bin ruhig, meine Antwort wird dieselbe sein morgen wie heute.«
»Ist das dein letztes Wort?«
»Mein letztes Wort ... in dieser Sache.«
»Du wirst es bereuen.«
»Wer weiß, wer mehr zu bereuen haben wird, ich oder du!«
Diese Antwort und noch mehr der Ton als der Inhalt ließ Irma keinen Zweifel, daß die Mutter ihren Heiratsplan verwirklichen würde um jeden Preis.
»Schön,« rief sie höhnisch, »so nimm ihn, den alten Gecken, dir selbst zum Spott und zum Gelächter der Leute ... Ich packe meine Sachen. Ich reise heute noch ab. Das holde Schäferspiel kann beginnen!«
Sie nahm das Paket Pralinen, an dem sie schon eine Weile nervös herumgefingert hatte: »Hahaha! Hier hab ich sein famoses Geschenk! Damit gedachte dein Herr Verehrer mein Wohlwollen zu erkaufen! Hahaha! Ein Pfund Pralinen für meinen Segen!«
Sie nahm das Paket und warf es über die Brüstung der Veranda, so daß die Hülle zerplatzte und der Inhalt ringsum im Garten zerstreut lag.
Frau Bögehold sah Irma sprachlos nach, die unter höhnischem Gelächter in der Villa verschwand. Sie barg den Kopf in beide Hände und weinte.
Gleich darauf kam pfeifend, bald auf dem rechten, bald auf dem linken Beine hüpfend, Otto hinter dem Hause hervor. Er hielt eine Gießkanne in der Hand und wollte damit zum Wasser hinunter. Er bemerkte die Schokoladenstücke, blieb stehen und sah sich erstaunt um. Da er niemanden, auch die durch die Verandabrüstung seinen Blicken entzogene Frau Bögehold nicht gewahrte, so kauerte er schnell nieder und stopfte sich gierig eine Handvoll Schokolade nach der anderen in den Mund.
*
Die Nachricht von dem Zerwürfnis der beiden Witwen gelangte auf Umwegen bald nach S. Daß der Rektor die Schwägerin aufs schärfste verurteilte und bedingungslos für seine Nichte Partei nahm, verstand sich bei seiner Lebensanschauung von selbst. Jeder Versuch der Rektorin, eine zweite Ehe Luisens zu entschuldigen oder gar zu verteidigen, erregte seine Entrüstung. Er fand es einfach unerhört, daß diese »alte Schachtel« an so etwas auch nur zu denken wagte, zumal jetzt, wo ihr nach seiner Ansicht nur noch die eine Lebensaufgabe zufiel, sich mit aller Entsagung, deren sie fähig wäre, dem Schmerze der Tochter zu widmen.
Seltsam, wie in diesem Manne ein Geist längst vergangener Zeiten wieder lebendig war, ein Geist, der einem von härenem Büßergewande umhüllten Körper anzugehören schien und der das Fleisch verdammte, ob es nun nach Alkohol, nach Liebe oder sonstigen Sinnesfreuden verlangte.
Ohne von der Schwägerin um seine Meinung befragt zu sein, wollte er ihr seinen grundsätzlichen Standpunkt klarmachen und sie von diesem verhängnisvollen Schritte abhalten. Vergebens, daß die Rektorin Einspruch erhob: er glaubte das schon dem Andenken des Bruders schuldig zu sein, von dessen Vorzügen er auf einmal nicht genug Rühmens machen konnte, obwohl das Verhältnis der beiden Brüder durchaus kein besonders harmonisches gewesen war. Diese private Angelegenheit anderer, er machte sie zu einer Gewissensfrage für sich selber. Er fühlte ein Apostolat in sich, er mußte eifern, mußte kämpfen für etwas, das er für seine Sendung hielt. Seinen Ingrimm zu entladen, schrieb er einen Brief an Luise, worin jedes Wort eine Anklage war und der besonders heftige Ausfälle gegen Kolberg enthielt.
Auf dieses Schreiben kam nach langem Warten folgende Antwort:
Bögehold las den Brief zwei-, dreimal durch. Er fand ihn ungemein geschmacklos und albern, ersichtlich eine Überlegenheit posierend, die die Absenderin nicht besaß. Zu seiner Genugtuung glaubte er am Schluß noch einen stilistischen Fehler entdeckt zu haben. Den strich er mit roter Tinte an. Dann gab er den Brief seiner Frau zu lesen. Die zuckte die Schultern. Zu aufrichtig, um ihrem Manne recht zu geben, zu vorsichtig, um seine ohnedies schon gereizte Stimmung noch zu verschlechtern, zog sie es vor, sich in diplomatisches Schweigen zu hüllen. Für eine andere Auseinandersetzung, die sie kommen sah, brauchte sie Kraft, Ruhe, Besonnenheit. Lisbeth hatte nämlich vor kurzem wieder geschrieben und die Mutter gedrängt, nun endlich dem Vater doch zu sagen, daß sie verlobt sei und heiraten wolle. Doktor Brenner habe die Absicht, nach S. zu kommen, sich den Eltern vorzustellen und ihre Einwilligung zu erbitten, da sie die Hochzeit nicht länger aufschieben wollten. Aus Angst vor dem bevorstehenden Kampfe um das Glück der Tochter hatte die Rektorin die Erörterung des Themas immer wieder verschoben. So zermürbt war die Ärmste von dem Leben, das sie in S. an der Seite dieses Mannes führte.
»Nun, was sagst du zu dem Weibe? Hast du denn kein Wort des Tadels für Luisens Brief?« fragte Bögehold.
»Ach, lieber Gottfried, mich beschäftigen andere Sorgen!« erwiderte sie. Damit brachte sie Lisbeths letzten Brief und erwartete zitternd die Wirkung der Lektüre.
Bögehold nahm das Papier, schob die Brille auf die Stirn, zog sie wieder über die Augen und so ein paarmal hin und her, hüstelnd und grunzend, während er Kenntnis von dem Inhalt nahm. Endlich ließ er sich vernehmen:
»Lisbeth? Lisbeth verlobt? Unsere Tochter Lisbeth verlobt? ... Und du weißt es schon lange? Und du sagst mir keinen Ton, daß sie sich, ohne uns zu fragen, gebunden hat? Ohne unsere Einwilligung?«
»Die Hauptsache, daß sie mit unserer Einwilligung heiratet. Das aber, lieber Gottfried, hängt nur von dir ab. Er ist Arzt und der Sohn eines wohlhabenden Mannes. Du wirst doch gewiß dem Glücke deines Kindes nicht im Wege sein wollen!«
Es dauerte wieder eine Weile, bis er sich äußerte: »Nun, wenn er der ehrenwerte Mensch ist, für den Lisbeth ihn hält, so bin ich nicht der Tyrann, nein zu sagen.«
»Nicht wahr, Gottfried, das brächtest du nicht übers Herz, auch wenn ...«
»Was wenn ...?«
»Die Sache nämlich, lieber Gottfried, mußt du wissen, hat einen Haken.«
»So? Was für einen Haken?«
»Sein Vater hat ...«
Sie zögerte.
»Na? Heraus mit der Sprache.«
»Sein Vater hat eine große Brauerei in Schlesien.«
Rektor Bögehold glaubte nicht recht gehört zu haben.
»Was?« rief er ... »Was hat der Vater?«
»Eine große, ausgezeichnet gehende Brauerei. Es sind nur zwei Kinder da; Lisbeths Verlobter wird einmal sehr, sehr viel erben.«
»Das könnte mir fehlen! Mein Kind die Schwiegertochter eines Bierbrauers? ... Niemals! ... Niemals, sage ich! Wie kann mir das Mädel so etwas antun wollen? Sie blamiert mich ja bis auf die Knochen vor allen meinen abstinenten Freunden! Macht mich zum Gelächter meiner Gegner, kompromittiert mein Lebenswerk!«
»Gottfried, sei vernünftig, Gottfried! Es handelt sich um das Glück deiner Tochter. Wenn die beiden Leutchen sich heiraten, so wird darum nicht ein Tropfen mehr oder weniger getrunken in der Welt.«
»Niemals! ... Nie–mals!« rief er und sich beide Hände an die Ohren legend, stürzte er aus dem Zimmer.
Frau Bögehold seufzte tief. Für heute gab sie alle Versuche auf, ihn umzustimmen. Aber morgen und jeden folgenden Tag wollte sie von neuem Sturm laufen gegen diesen Chimborasso von Unvernunft, der sich da vor ihr auftürmte.
*
Monate waren vergangen.
Irma hatte keinerlei Notiz von der Wiederverheiratung der Mutter genommen. Um ja recht fern zu sein von dem Eheglück des »jungen Paares«, wie sie die beiden spöttisch nannte, um nichts von ihnen zu sehen und zu hören, hatte sie in Nikolassee eine Wohnung gemietet. Hier lebte sie einsam und zurückgezogen. Hin und wieder kam Besuch aus Berlin. Hin und wieder auch, wenn die junge Witwe, um Besorgungen zu machen, nach der Hauptstadt fuhr, sprach sie bei Siewert und Tante Christine vor, nicht ohne sie vorher von ihrem Kommen verständigt zu haben, damit ja kein leidiger Zufall eine Begegnung mit Frau Kolberg herbeiführte.
Auf den Gemütszustand Irmas übte solche Einsamkeit keine gute Wirkung. In guten Stunden der Selbsterkenntnis gestand sie sich wohl ein, daß sie nicht der Mensch war, auf alle Geselligkeit zu verzichten. Sie ertappte sich mit gelindem Schrecken auf allerlei Untugenden, die sie früher nicht besaß. Um die Langeweile zu töten, las sie am Tage einen bis zwei Romane, die sie sich wahllos aus einer Berliner Leihbibliothek schicken ließ. Sie ärgerte sich oft ohne Grund bald über die Köchin, bald über das Stubenmädchen und bildete sich ein, daß jede kleinste Ungeschicklichkeit, jedes geringste Versehen, jede Nichtbefolgung ihrer Anordnung im Haushalte auf eine absichtliche Tücke des Personals zurückzuführen sei. So trat ein häufiger Wechsel der Bedienung ein, die es nicht lange bei ihr aushielt. Das machte sie, die sich so schwer an neue Gesichter gewöhnen konnte, vollends nervös. Sie kam auf den Gedanken, sich eine Gesellschafterin ins Haus zu nehmen, um wenigstens einen Menschen um sich zu haben, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden ließe. Es dauerte aber nicht lange, so gab sie nach einigen mißglückten Versuchen diese Neuerung wieder auf. Wenn sie wenigstens Lisbeth bei sich gehabt hätte! Gerade jetzt, wo sie ihrer so dringend bedurfte, mußte die unabkömmlich sein, in Stellung bei fremden Leuten, als ob sie sich hier im Hause nicht nützlicher machen konnte. Lisbeth mußte doch erfahren haben, wie die Dinge standen. Na ja, Undank war eben der Welt Lohn.
Am härtesten kam sie der Verzicht auf die Freundschaft Hartmanns an. Einen Vorwurf zwar konnte sie sich in dieser Beziehung nicht machen. Nach ihrer felsenfesten Überzeugung hatte sie durchaus so handeln müssen, wie sie gehandelt hatte damals in der Villa Quisisana. Schuld an dem Zerwürfnis war allein nur Onkel Oskar gewesen und wer sonst noch etwa von den Verwandten ihre rein geistigen Beziehungen zu dem Jugendfreunde des armen Egon in einer Weise auszulegen gewagt hatte, die ihren Witwenschmerz aufs tiefste beleidigen mußte.
Aber wenn sie auch mit der Verabschiedung Hartmanns dem dummen Gerede ein für allemal ein Ende gemacht zu haben glaubte, wenn sie sich auch oft und mit Genugtuung der Szene auf der Veranda erinnerte – die Kosten des Triumphes über die Lästerzungen hatte allein sie zu tragen.
Was Hartmann nur denken mochte von ihr? Ob er auch wohl die Gründe ihres Benehmens zu würdigen wußte? War dies der Fall, so blieb ihr nur eins unerklärlich, nämlich, daß er, wie sie nun doch einmal miteinander gestanden hatten, freundschaftlich und kameradschaftlich, es nicht der Mühe für wert hielt, trotz einiger Verstimmung ihr ein paar Zeilen zu schreiben, die ihr die gewünschte Gelegenheit zur Rechtfertigung geben konnten. Billigte er ihre Handlungsweise nicht, so sollte er immerhin Achtung davor haben.
War es nun Stolz, gekränktes Ehrgefühl oder Hochmut, daß er trotzdem kein Lebenszeichen von sich gab?
Am Ende gar weniger als alles das: Gleichgültigkeit?
Nun ja, du lieber Gott, warum sollte er anders sein als die meisten anderen Menschen? Altes Sprichwort das: »Aus den Augen, aus dem Sinn.«
Anfangs hatte er eben ein wenig Mitleid gehabt mit ihr. Dann waren ihm die Besuche bei ihr so ein bißchen Gewohnheit geworden, und die Gewohnheit war allmählich zur Langweile abgeflaut.
Wer weiß – wenn sie ihn nicht fortgeschickt hätte, über kurz oder lang wäre er von selbst fortgeblieben. Darum, bei Lichte betrachtet, was lag an seinem Verlust? Ein grausames Geschick hatte ihr den Mann entrissen, ein widriges Geschick sie mit der Mutter für immer entzweit, ein gütiges Geschick hatte ihr den Freund genommen, noch ehe sie an ihm eine herbe Enttäuschung zu erleben brauchte.
So blieb ihr wenigstens die Möglichkeit, an die Echtheit dieser Freundschaft zu glauben, wenn sie überhaupt an Menschen noch zu glauben mitunter die Schwäche überkam.
Nein, nein! Nur nicht sentimental sein! Nicht denken und nicht grübeln. Sie war zu ernst, zu tief, zu innerlich. Das war ihr Fehler, daher rührte all ihre Qual.
Der Doktor hatte gesagt, sie sollte reisen, andere Leute sehen, andere Länder; neue Eindrücke empfangen, die alten vergessen.
Zuerst hatte sie sich dagegen gesträubt, hatte den immer dringlicher wiederholten Rat des Arztes mit krankhafter Reizbarkeit zurückgewiesen: für sie gäbe es nur eins, Ruhe und Einsamkeit. Man solle sie um Gottes Himmels willen zufrieden lassen mit allen guten Vorschlägen. Sie müsse sich doch schließlich am besten kennen. Für sie gäbe es überhaupt keine Heilung. Das Übel säße tiefer als da, wohin der Verstand der Ärzte zu dringen vermöchte. Geradezu Gift für ihren Zustand: das Rasseln der Eisenbahn, das lärmige Treiben in den Hotels, das ewige Hasten von einem Ort zum anderen ohne Zweck und Ziel.
Plötzlich aber war sie wieder anderer Meinung geworden. Nur heraus aus diesem Verließ, das sie bislang ihre Wohnung, ihr Heim genannt hatte. Fort, nur fort, so schnell und so weit wie möglich. Am liebsten eine Reise über den Ozean, eine Reise von vielen, vielen Monaten. Wochenlang kein Land sehen, nur Himmel und Wasser. Ach, die See, das geheimnisvolle unendliche Meer, auf dem einem die Bedeutungslosigkeit, die Kleinlichkeit und Nichtigkeit menschlichen Seins so recht zum Bewußtsein kam. Sie liebte es, das Meer, mit der großen Liebe, womit ihr Egon es immer geliebt hatte.
Die junge Witwe betrieb den Plan mit großem Eifer, ließ sich Prospekte kommen, Karten, Bücher und studierte alle jene Schriften, machte sich Notizen, Auszüge und kalkulierte die Kosten ohne große Genauigkeit. Nun, es kam ihr schließlich auf ein paar tausend Mark mehr oder weniger nicht an. Nach der Umwandlung der väterlichen Fabrik in eine Aktiengesellschaft besaß sie ein beträchtliches Vermögen, zumal für eine alleinstehende Frau. Und wenn sie gar mehr als die Zinsen verbrauchte und das Kapital angriff? Sie hatte niemandem Rechenschaft zu geben. Wozu sparen? Für wen?
Lachende Gesichter hinterlassen? Als reiche Wohltäterin sterben? Etwa der Kinder, der Stiefgeschwister, die, wenn die Natur einen schlechten Witz sich erlaubte, aus dieser Ehe einer Matrone mit einem alten Gecken vielleicht noch entstehen konnten?
Halt, das war ein Fingerzeig, daran hatte sie ja gar nicht gedacht. Sie wollte – man konnte ja nicht wissen, was unterwegs passierte – sie wollte beizeiten ihr Testament machen zugunsten, lediglich zugunsten der Hinterbliebenen jener braven Männer, die wie ihr Egon im Kampfe um die Eroberung der Luft ihr Leben ließen.
Sobald als tunlich, in den nächsten Tagen schon, wollte sie zu einem Notar nach Berlin fahren, um die Sache zu erledigen. Und bei dieser Gelegenheit konnte sie auch gleich noch einige Kostüme bestellen und einkaufen, was für eine weite Reise vonnöten wäre.
Was er bloß für ein Gesicht machen würde, der Herr von Hartmann, wenn er erführe, die verwitwete Frau Döring habe aus eigenem Entschlusse und ohne Begleitung eine lange Fahrt über den Ozean angetreten.
»Eine längere Reise? Wahrhaftig? ... Wohin denn?«
»Ja, denken Sie sich bloß, nach Ostasien, Herr von Hartmann.«
»Nach Ostasien? ... Wohl gar nach Japan, für das sie immer so schwärmte?«
»Ganz recht, nach Japan.«
»Nein, so was! ... Da wird sie wohl am Ende ein Jahr fortbleiben?«
»Ein Jahr oder ungefähr.«
»Hm ... seltsam, so viel Energie und Selbständigkeit hätte ich der stillen, weichen Frau nun und nimmermehr zugetraut ... Schade!«
»Schade? ... Warum schade?«
»Nun ... ich meine bloß so ...«
Das war der Dialog, den sie in allerlei Varianten und mit heimlicher Genugtuung des öfteren zwischen Hartmann und Onkel Oskar sich vorstellte.
Sie sah Hartmann vor sich, wie er verblüfft die Nachricht aufnahm, wie er sich verfärbte; sie hörte, wie seine Stimme leise zitterte, sie dachte sich aus, was er für Vorwürfe sich machen würde, daß er das arme Weib so hilflos seinem traurigen Schicksal überlassen hätte.
O, sie würde wer weiß was darum gegeben haben, wenn sie, mit einer fabelhaften Tarnkappe versehen, leibhaftigen Ohres und leibhaftigen Auges einer solchen Unterhaltung hätte beiwohnen können. Ob ein gewisser Jemand wirklich so desperat dreinschauen würde bei der Nachricht von ihrer Ozeanfahrt?
»Ja, mein lieber Hartmann, nun bin ich unterwegs. Hätten Sie sich gefälligst eher um mich gekümmert! Jetzt haben wir schon eine hübsche Etappe hinter uns. Eben landen wir in Singapore, und ein vielgereister, sehr interessanter Engländer, dessen Bekanntschaft ich auf dem Schiffe vergebens auszuweichen suchte, an dessen liebenswürdiges Geplauder ich mich schließlich doch gewöhnt habe, und dessen Flirt ich mir ein wenig gefallen lasse, erbietet sich, mir die Sehenswürdigkeit der Stadt zu zeigen. Sie machen große Augen, mein Herr? Du lieber Himmel, ich habe mich halt auch ein wenig geändert mittlerweile. Ich versuche jetzt des Lebens Überdruß so leicht und so vergnüglich als möglich zu ertragen. Übermorgen reise ich mit bewußtem Engländer ins Land; er wird mir zeigen ... aus gefahrloser Ferne selbstverständlich, wie man einen Tiger schießt. Er wird mir das Fell des Gewaltigen respektvoll zu Füßen legen. Ich will nicht hoffen, daß er sich selbst mir zu Füßen legt. Oder vielleicht tut er's doch? Wer kann wissen, was so ein spleeniger Engländer im Schilde führt? ... Nun, fürchten Sie nichts; ich bin gefeit ... gefeit fortan gegen Engländer und Deutsche. Ich bin und bleibe, äußerlich heiter vielleicht und lachend, im Herzen doch aber immer tieftraurig, die treue Witwe des unglücklichen Ingenieurs Egon Döring.«
So oder so ähnlich würde sie, unsichtbar unter der imaginären Tarnkappe hervor, zu dem verdutzten, zu dem perplexen, zu dem völlig konsternierten Ottokar von Hartmann sprechen.
An einem Novembernachmittage, während sie mit diesem Capriccioso ihre Phantasie umschmeichelte, saß Irma vor dem kleinen Damenschreibtisch im Erker ihres Wohnzimmers zu Nikolassee. Ihre Blicke irrten nachdenklich durchs Fenster und blieben an den abendlichen Wipfeln einer Fichtengruppe des Grunewalds haften. Ihre Finger, die ein Papiermesser hielten, zerkratzten nervös die graue Ahornplatte des Gueridons. Froschgequake, Unkengeklage tönte aus dem Rohr des Wassers herüber, das sich stolz der Nikolassee nennt. Sie stand auf, schloß das Fenster und machte dem ihr unausstehlichen Tümpelkonzert ein Ende.
Ach, wenn doch erst die Wogen an die Planken des Schiffes schlügen! Einen Sturm wünschte sie sich, ein tobendes, brausendes Meer, das mit gewaltiger Lunge alle Stimmen ihres Inneren niederbrüllte.
Noch einige unerträgliche Wochen Wartezeit.
Über den Wipfeln des Grunewalds glühte noch die längst versunkene Sonne.
In Irmas Erkerzimmer begann es dunkel zu werden. Stimmungen, Empfindungen, wie sie zwischen Wachen und Träumen zu liegen pflegen, zu flüchtig, zu schattenhaft, um in Worten sich ausdrücken zu lassen, zu subtil, um deutlich in der Erinnerung haften zu bleiben, umschleierten allmählich die Seele der einsamen Witwe.
Ihr war zumute, als ob die tiefe Stille ringsum leise zu klingen anfinge in einer seltsamen Musik des Schweigens, der sie atemlos lauschen mußte, gütigen und versöhnlichen Herzens. Ihr war, als ob ein Lied des Friedens ertönte von fernen, kaum hörbaren Chören gesungen.
Das dauerte nicht lange. Die Melodie in ihr verstummte. Irma trat vom Fenster zurück, an das sie gelehnt gestanden hatte, und schaltete mit schnellem Handgriff das elektrische Licht ein.
Nachdem sich das geblendete Auge an die Helligkeit gewöhnt hatte, setzte sie sich wieder an ihren Schreibtisch und nahm die Feder zur Hand. Einen Briefbogen nach dem anderen holte sie aus dem Karton hervor, begann ein paar Worte hinzukritzeln und zerriß ihn wieder.
Endlich kamen anstatt des langen Schreibens, das sie zu verfassen beabsichtigte, die folgenden kurzen Zeilen zustande:
Sie las die Zeilen durch.
Sie gefielen ihr ganz und gar nicht, aber sie kuvertierte den Brief und schickte ihn nach einigem Zögern fort.
*
Einige Tage darauf kam Hartmann.
Er kam, als ob nicht das Geringste vorgefallen wäre zwischen ihnen.
Sie wollte kurz die Szene auf der Veranda der Villa Quisisana in Baumgart erwähnen. Er aber ging so rasch darüber hinweg, daß sie nicht recht wußte, wie sie das zu deuten habe, als Taktgefühl oder als überlegenen Stolz.
Nicht den allermindesten Eindruck schien ihm die projektierte Reise zu machen. Er nahm davon flüchtig Notiz und erbot sich, falls sie noch irgendeiner Auskunft bedürfe, ihr die nötigen Informationen zu verschaffen. Er benahm sich überhaupt so ganz anders, als sie gewünscht hatte, daß er sich benehmen möchte. Gar nicht weich, nicht ein bißchen traurig schien er gestimmt in dieser Abschiedsstunde, eher heiter und aufgeräumt.
Irma fragte sich, ob er sich etwa verstellte. War dem so, so wußte er meisterhaft Komödie zu spielen. Schließlich, da die Unterhaltung im Gleise konventioneller Höflichkeit zu verlaufen drohte, war es ihr ein Bedürfnis, bevor er ging, ihm zum Andenken eine Photographie Egons zu überreichen.
Er nahm das Bild mit freundlichem Danke, verriet aber mit keiner Silbe, keiner Miene, daß ihm etwa ein Porträt der Geberin gleichfalls lieb gewesen wäre. Es stand unweit von ihnen auf dem Salontische, ihr Bild. Sie blickte unwillkürlich hinüber, als sie ihm die Photographie Egons gab, legte ihm den Wunsch danach förmlich in den Mund.
Hartmann stand auf, küßte ihr die Hand und wünschte ihr lächelnd eine glückliche Fahrt.
Dann ging er.
Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Als er fort war, weinte sie laut.
Nun erst stand es ihr unumstößlich fest, daß sie wirklich reisen würde, wirklich und unwiderruflich, denn vorher – das wurde ihr jetzt klar, hatte sie mit dem Gedanken nur gespielt.
Sie schrieb an das Reisebüro und bestellte die Fahrkarte.
*
Es waren acht Tage, bevor der Lloyddampfer »Bismarck« von Bremen aus via Singapore nach Nagasaki in See ging.
Die alte Tante Christine saß bereits seit einer geschlagenen Stunde draußen bei der Großnichte in Nikolassee und suchte vergebens eine Versöhnung zwischen Mutter und Tochter anzubahnen: sie könnten doch beide nicht ewig böse sein miteinander. Das dauere jetzt bereits seit Monaten. Die Mutter leide unter dem Zerwürfnis und härme sich ab. Irma sollte nicht störrisch sein. Sie würde noch mancherlei Erfahrungen machen in ihrem Leben und noch manches Mal umlernen müssen.
Geduldiger, als es von ihr zu erwarten gewesen war, hatte Irma die beredten Argumente, die Mahnungen, Bitten und Vorwürfe Christines angehört. Sie brauche nicht umzulernen, sagte Irma abgespannt von dem vielen Hin- und Herreden: sie verlasse sich lediglich auf ihr Gefühl, und das richtige Gefühl habe nichts zu vergessen und nichts zu lernen.
»Hm, hm, hm, du machst mir Spaß, du kleines, aberwitziges Frauchen ... Haha, nichts zu vergessen, nichts zu lernen! Das hört sich gut an, es klingt fast richtig und ist doch falsch, ach, so grundfalsch wie vieles, was gut klingt ... Aber ich sehe schon, es ist dir nicht beizukommen, du Dickkopf ... Jawohl, Dickkopf habe ich gesagt!«
Christine schüttelte unwillig den Kopf mit dem grauen, aufgesteckten Scheitel, rutschte auf ihrem Sessel dicht an Irma heran, und in verändertem, halb ärgerlich befehlendem Tone räsonierte sie:
»Ihr sollt euch vertragen, wenn nicht euretwegen, so meinetwegen! ... verstanden? Ich will es haben, ich alte, wacklige Person! ... Ob du unrecht hast oder sie oder alle beide mitsammen, das ist mir egal ... Pscht, ruhig mal, du Kieckindiewelt ... Unterbrich mich nicht; jetzt rede ich ... Ich weiß nicht, wie lange ich's noch machen werde ... vielleicht noch 'n paar Jahre, vielleicht 'n paar Monate ... Luise, Oskar, du – ich hab euch alle drei lieb ... jawohl, lieb ... darfst mir's schon glauben, wenn ich's auch niemals ausposaunt oder euch's ins Gesicht geschmeichelt habe. Ich habe euch lieb schon deshalb, weil ich euch nacheinander hab großpäppeln helfen ... Na, und ihr seid die einzigen von allen Verwandten, die mir nicht gestorben und verloren sind. Ich will euch alle beieinander haben wie früher im Hause deines Vaters. Ich mit meinen alten klapprigen Beinen kann nicht mehr rumkraxeln, heute zu dem einen, und morgen zu dem andern. Ich hab das Recht auf Bequemlichkeit ... an einem Fleck will ich euch beisammen haben. Und darum bitt' ich dich, Irma – du weißt, ich bitte sonst nie – darum bitt' ich: vertrag dich wieder mit der Mutter.«
Unter dem Eindruck dieser Worte, die bei aller Wärme, die bei aller zittrigen Hilflosigkeit doch etwas Energisches hatten, wich jeder Trotz von Irma. Sie senkte den Kopf und sagte leise: »Tante, ich kann das Haus dieses Mannes nicht betreten. Wenn ich das täte, wenn ich seine Schwelle überschritte, dann wäre ich wert ...«
Eine Hand, eine vergilbte, blaugeäderte, von braunen Flecken bedeckte greise Hand schloß ihr den Mund: »Pscht, nichts voraussagen, nichts verschwören. Es kommt im Leben alles anders, als man sich's vornimmt. Ich will nicht – bei Leibe nicht die Vorsehung spielen. Aber wenn ihr euch vor deiner Abreise zufällig treffen solltet bei mir, und das wäre möglich ... zufällig natürlich, rein zufällig, dann gebt ihr euch die Hände und das übrige wird sich schon finden.«
Irma, abgewandten Blickes, saß eine Weile, dann seufzte sie resigniert wie nach einem schweren Entschlusse: »Ich will es mir überlegen, Tante.«
»Ja, mein Kind, überleg dir's in aller Ruhe. Aber nicht zu lange. Aber noch vor deiner Reise, nicht wahr? Man weiß ja nicht ... man ... Na, adieu, Irmchen!«
Sie war bereits draußen im Vorraum, da fiel ihr ein, daß sie noch etwas vergessen hatte, etwas Wichtiges, das sich nicht so zwischen Tür und Angel erledigen ließ. Sie humpelte ins Zimmer zurück:
»Ja richtig, was ich noch fragen wollte. Da gerade von Aussöhnung die Rede ist – – mit Herrn von Hartmann hast du, höre ich, dich ja auch wieder ausgesöhnt?«
»Wir sind eigentlich nie böse miteinander gewesen,« antwortete Irma so ruhig sie vermochte.
»Desto besser, mein Kind, desto besser!«
»Ich mache durchaus kein Hehl daraus, ich hatte ihn damals in der Sommerfrische, ohne es zu wollen, verletzt. Ich meine, es war nur meine Pflicht, ihm vor meiner langen Reise die Hand zum Abschied zu reichen.«
»Desto besser, desto bester!« – Christine mit den eingekniffenen Lippen der alten Leute lächelte ein wenig wie ein verschmitzter Diplomat.
Da begehrte die junge Witwe auf: »Was verziehst du das Gesicht, Tante? O, ich weiß schon, was du damit sagen willst. Ich kann mir lebhaft denken, wie ihr alle, namentlich Mama und ihr werter Gatte, das ausgelegt habt. Ich sehe euch förmlich die Köpfe zusammenstecken und wispern und pispern.«
Schlicht und ruhig erwiderte die Alte: »Brauchst dich gar nicht über uns ereifern. Freilich haben wir darüber gesprochen, ist das nicht natürlich? Wir haben uns davon unterhalten, haben unsere Freude darüber gehabt, haben gewisse Hoffnungen daran ge – –«
»Hoffnungen? Ei, sieh doch einmal an, also Hoffnungen habt ihr daran geknüpft. Habt vielleicht gar schon Polterabendscherze gemacht? Habt vielleicht gar schon Hochzeitstoaste verabredet? Hahaha; ja, das glaub ich! das möchte meiner jungen Frau Mama so passen, die Genugtuung möchte sie erleben ... die Schadenfreude!«
»Schadenfreude? Irma? wenn sie glücklich sein würde über dein Glück!«
Irma hielt sich die Ohren zu: »Hör auf!« rief sie erregt. »Ich bitte dich, hör auf ... Mein Glück ... – was weiß die Frau von meinem Glück? Ich kenne kein Glück mehr nach Egons Tode und will keins kennen; sag ihr das! Sag ihr, daß ich in Egons Grab alle Wünsche und Hoffnungen eingesargt habe.« –
Die junge Witwe weinte, ergriffen von ihren eigenen Worten.
»Und auf diesem Grabe,« erwiderte Christine sanft, »will etwas Neues wachsen, eine frohe, schöne Gottesblume. Sie hat aber nicht Platz, sie hat nicht Luft und nicht Licht wegen des Gärtners Zierblumen ... Denk nur mal darüber nach, Kind, denke genau darüber nach, Kind, denke genau darüber nach. Vielleicht, daß du einsiehst, ich habe nicht ganz unrecht ... Na, und nun will ich gehen für heute ... – Doch halt, noch eins: deine Nervosität, dein gereiztes Wesen ... Irma, im Vertrauen, du gefällst mir nicht. Du solltest mal zu einem tüchtigen Spezialisten gehen, zu einem erfahrenen Arzt, der die Weibsbilder aus dem FF kennt. Denn mit dir darf man nicht so drumherum sprechen wie dein vornehmer Hausarzt in Lackstiefeln. Mit dir muß einer mal ein deutliches Wörtchen reden, meint Oskar, und damit hat er recht.«
Die Lippen der jungen Frau kräuselten sich spöttisch: »Der gute Onkel Oskar hat mir schon einmal eine gründlich verfehlte Diagnose gestellt. Grüß ihn bestens; er soll sich daran erinnern.«
»Schön, mein Kind, ich werd's ihm ausrichten. Und deiner Mutter? was kann ich der ausrichten?«
»Was du auf Grund unserer heutigen Unterredung mit deinem Gewissen vereinbaren kannst.«
»So werde ich ihr sagen, daß ich dich versöhnlicher als sonst gefunden habe, liebe Irma.«
*
Am Nachmittage des folgenden Tages bekam Irma wiederum Besuch. Als man ihr Hartmann meldete, wurde sie so verwirrt, daß einige Zeit verging, ehe sie die klare Weisung geben konnte, ihn in den Salon zu führen. Dort ließ sie ihn warten, um inzwischen die nötige Sammlung zu finden, ihm mit gesellschaftlicher Unbefangenheit entgegenzutreten.
Er kam lächelnd auf sie zu und überhob sie der in Eile vorbereiteten Begrüßungsformel. Vor einigen Wochen, sagte er, habe sie ihn gerufen, heute käme er ungerufen wie früher. Damit er jedoch nicht allzu unmotiviert erscheine, habe er für seine Visite lange nach einem Vorwand gesonnen und diesen Vorwand endlich auch unter den Büchern seiner Bibliothek in einem Werke über Japan gefunden. Also sprechend, packte er ein dickes, schweres Volumen aus und überreichte es ihr mit komisch feierlicher Verbeugung.
Irma fand nicht alsbald die passenden Worte des Dankes. Sie stand ziemlich hilflos vor ihm mit dem wohl seine zwei Pfund schweren Bande, den sie an allen Ecken und Enden betrachtete. Nicht einmal die Hand vermochte sie ihm zu reichen, da sie beide Arme brauchte, um das seltsame Geschenk zu umklammern.
Er, strahlenden Auges, weidete sich an ihrer Verlegenheit und wurde seiner selbst immer sicherer. Man könnte es auch weglegen, wenn man nicht drin lese, meinte er fast übermütig und befreite sie von dem Buche.
Die junge Witwe empfand, daß sie in ihrem Leben noch nie so wenig Herrin des Wortes gewesen war wie in diesem Augenblick. Denn, wie sehr es sie auch freute, daß Hartmann vor ihrer Abreise den Drang fühlte, sie noch einmal zu sehen, so störte sie doch sein leicht spöttischer, persiflierender Ton. Es war keine Ehrerbietung in ihm wie früher.
»Ich werde es auf dem Dampfer eifrig studieren,« stotterte sie, um wenigstens etwas zu sagen.
»O, es ist ein sehr merkwürdiges Buch, gnädige Frau. Denken Sie nur, man kann es auch ganz gut zu Hause lesen, innerhalb seiner vier Wände und zwar noch viel bequemer als auf einem schwankenden, geräuschvollen Schiffe, wo es außerdem noch die leidige Seekrankheit gibt, bei der einem die Lust zu jeglicher Lektüre vergeht.«
»Sie glauben also, daß das Buch unnötiger Ballast für mich auf dem Dampfer sein wird?«
Er zuckte die Achseln, schaute sich vielsagend um und erwiderte ein klein wenig malitiös: »Oder der Dampfer unnötiger Ballast für das Buch!«
War das ein Witz, so verstand sie ihn nicht. Sie hatte nur das bestimmte Gefühl, daß man sich über sie lustig machen wollte, und gab ziemlich kühl zurück: »So werde ich also das Buch hierlassen und es erst lesen, wenn ich von meiner Reise heimkehre, denn bis zu meiner Reise werde ich kaum damit fertig werden, zumal da ich noch wichtige Vorbereitungen zu treffen habe in diesen acht Tagen.«
»So, so ... in acht Tagen schon geht es los?«
»Allerdings.«
Die gleichgültige, lässige Art, wie er über die lange Trennung sprach, verletzte sie. O, wenn es durchaus sein mußte, so konnte auch sie darüber reden wie über eine Bagatelle. Oder noch besser vielleicht war es, davon zu schweigen. Sie lenkte also das Thema etwas gewaltsam auf ihren gewöhnlichen Gesprächsstoff, auf Egon.
Er erwiderte, es hätte keinen Sinn, ein Leid, das sterben wolle, künstlich am Leben zu erhalten. Sie möge sich nicht darüber täuschen, daß der Schmerz um ihren Mann naturgemäß in einige Ferne zu rücken beginne. An dieser Tatsache würde nichts geändert, auch wenn sie eines künstlichen Mittels sich bediene, gewissermaßen eines seelischen Krimstechers, um ihn sich immer wieder nahe zu bringen, den Schmerz.
Irma war frappiert davon, wie klar Hartmann im leichtesten Konversationstone den innersten Widerstreit formulierte, worin sich seit Monaten ihr Fühlen und Denken bewegte. Im Lichte dieser Worte tat sie einen Blick tief in die eigene Seele.
Hartmann entging der Eindruck seiner Bemerkung nicht. Ernster, sanfter und wärmer fuhr er fort: »Und weil Sie es sich selber verbergen, was in Ihnen vorgeht, möchten Sie es auch anderen verheimlichen. Dadurch kommt eine kleine Portion Unwahrhaftigkeit in Ihr sonst so ehrliches, sympathisches Wesen. Als Sie einst nach Verzweiflung und Selbstmordgedanken mit mir brieflich und mündlich über Egon zu reden den Drang hatten, schon damals hatten Sie, ohne es noch selbst zu ahnen, so eine Art Lust an Ihrem Schmerz, eine stille Genugtuung oder ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Damals begnügte ich mich aus Achtung vor Ihrer Trauer mit der mir zugedachten bescheidenen Rolle, in unseren Dialogen über Egon Ihnen die Stichwörter zu bringen.«
Sie erhob lebhaften Einspruch.
»Nein, nein, keine Widerrede, Frau Irma,« wehrte er ab, um in herrlich mahnendem Tone fortzufahren:
»Doch nun hüten Sie sich davor, daß Ihnen die Erinnerung an den Verstorbenen nicht zur banalen Gewohnheit wird. Halten Sie sein Andenken in Ehren, wie er es verdient, aber sparen Sie Schmerz und Trauer für die seltenen Stunden der Weihe auf, damit nicht der fromme Kult Wert und Inhalt verliert.«
Sie hatte während seiner letzten Sätze nicht mehr gewagt, ihn anzusehen; sie blickte zu Boden.
»Irma, Ihre Jugend hat das Leid überwunden. Brauchen Sie sich des wiedererwachenden Willens zum Leben zu schämen? ... Warum wollen Sie ihn mit Gewalt niederzwingen?«
Er legte unwillkürlich seine Finger an ihr Handgelenk. Sie duldete einen Moment die Berührung. Doch, plötzlich aufspringend, sich die Ohren zuhaltend, rief sie:
»Ich will es nicht hören! Ich darf nicht ... kann nicht! Ach, Hartmann, nun haben Sie unsere Freundschaft für immer zerstört ... ich hab's gefürchtet, ich habe es kommen sehen. Das war es, wovor ich schon damals solche Angst hatte. Darum bat ich Sie, nicht wiederzukommen.«
»Und haben mich doch wieder gerufen? ... Irma, geben Sie den Kampf auf gegen sich und gegen mich!« Die weiche Zärtlichkeit seiner Worte drang wie Frühlingssonne in ihr winterliches Herz. Sie wehrte sich, suchte ihrem schmeichelnden Klange zu trotzen, ihrem Eindruck mit verdoppeltem Eifer sich zu entziehen.
»Seien Sie kein Kind,« bat er.
»Fortgehen sollen Sie!« rief sie nervös und wich, da er sich ihr näherte, bis an die Wand des Zimmers zurück, wo sie mit zitternder Hand den Kronleuchter einschaltete, damit die einbrechende Dämmerung ihn nicht noch kühner machte.
Elektrisches Licht glühte auf und erleuchtete den Salon.
Er stand einen Augenblick bezaubert vor der Schönheit des jungen Weibes. Ihr Gesicht war in dunkle Blutröte getaucht; ihre Augen, weit und groß, waren voll Schreck hilflos auf ihn gerichtet. Nicht fähig zu reden, bewegte sie nur die Lippen, während kurze, schnelle Atemzüge ihren Körper erbeben machten. Über die linke Stirnhälfte glitt ein Büschel des Blondhaares, worein der Glanz der Glühbirnen bunte, tanzende Lichter warf.
»Und wenn du eine Sonne entzünden könntest, es wird nicht eher Licht in dir, bis du dich selbst erkennst. Kann man vor sich selber fliehen ... vor den eigenen Gedanken und Wünschen?«
Er hätte nicht den Mut gehabt, so zu ihr zu reden, wenn er nicht längst gemerkt hätte, daß sie ihn liebte. Er umfaßte sie, versuchte sie zu küssen.
Irma entwand sich ihm, mit geschlossenen Augen flehentlich bittend ... »Weg! ... lassen Sie mich ... haben Sie Erbarmen! ... Fort, fort; Egon sieht es.«
Und er mit ihr ringend: »Die Toten sehen nicht, die Toten segnen nicht, fluchen nicht!« – Seine Lippen berührten ihre Wangen.
Sie stieß ihn zurück: »Ich schreie um Hilfe! Ich rufe meine Mädchen, Herr von Hartmann.«
Das gab ihm die Besinnung wieder.
»Nun denn, Frau Irma – ein letztes Wort. Sie sind kein Backfisch, ich kein Gymnasiast. Ich kam heut hier herauf mit dem festen Vorsatz, eine Entscheidung herbeizuführen ... so oder so. Wie denken Sie sich in Zukunft unsere Beziehungen? sollen sie überhaupt eine Zukunft haben oder wollen wir einen dicken Strich machen hinter dem Heute?«
Sie stand verlegen und antwortete nicht.
»Bitte, reden Sie; ich muß endlich wissen, woran ich bin mit Ihnen!«
Daß sie beide gute Freunde bleiben würden, habe sie gedacht, und er möge doch nicht mit Gewalt einen Zwist herbeiführen vor ihrer Abreise.
Da sagte er ihr rund heraus, daß er an diese Reise nicht glaube und auch schon beim vorigen Besuche nicht daran geglaubt habe.
»Ah!« rief Irma, »Sie glauben nicht an meine Reise?«
Nun hatte sie die Erklärung für sein rätselhaftes Betragen, nun begriff sie mit einem Schlage, warum er das erstemal die Nachricht so gleichgültig hinnahm und warum er heute so spöttisch, so ironisch, so witzig sich eingeführt hatte.
Ha, die Niederlage, die sie jetzt seiner Anmaßung bereiten wollte.
»Also Sie glauben nicht an meine Reise? Also Sie halten mich für eine Komödiantin, für eine Lügnerin halten Sie mich?«
Sie entgegnete das nicht entrüstet, nicht zornig, sondern mit stolz erhobenem Haupte. Ein Lächeln von triumphierender Schadenfreude begleitete diese Frage, die sie langsam, jede Silbe dehnend und betonend an ihn richtete.
» Eh bien, Herr von Hartmann, ich trete mir zwar selber ein wenig zunahe, wenn ich es der Mühe für wert halte zu beweisen, daß ich keine Komödiantin, keine Lügnerin bin. Doch Sie sollen ihn haben auf der Stelle, den Beweis!«
Wie um die Vorfreude ihres Triumphes zu verlängern, ging sie ganz sacht, ganz langsam ins Nebenzimmer, wo sie, ihm sichtbar bei geöffneter Tür, ein Fach ihres Schreibtisches aufschloß, um daraus mit einem Papier zurückzukommen, das sie ihm mit spöttischer Verbeugung überreichte.
Hartmann traute seinen Augen nicht, als er den ordnungsmäßig abgestempelten und auf den Namen der verwitweten Frau Döring ausgestellten Fahrschein in der Hand hielt.
Sie weidete sich an seiner Bestürzung. Sie sog mit flammenden Blicken jede seiner Bewegungen ein, trank mit rachedurstiger Seele den blassen Schrecken von seinem Gesicht. Sie konnte die Zeit kaum erwarten, bis er reden, bis er demütig Abbitte leisten würde.
Einen Moment lang fühlte er auch die Verpflichtung es zu tun.
Aber mit einem jener impulsiven Entschlüsse, die plötzlich ein halb noch unbewußtes Wollen des Menschen in das gerade Gegenteil verkehren, wandelte sich ihm Zerknirschung und Demut in männlichen Trotz. Er verschränkte die Arme über der Brust. Ob sie sich etwa einbilde, er werde sie – sich selbst zum Trotz – reisen lassen, wider die eigene Stimme im Herzen, einer rein krankhaften Laune zuliebe, umschwärmt zu Wasser und zu Lande von fremden Laffen, während man ihn jede Woche mit einer bunten Postkarte abspeisen würde?
»Ach,« erwiderte sie ironisch, »wenn ich weiß, ich tue Ihnen einen Gefallen damit, sende ich Ihnen auch zweimal in der Woche eine Ansichtskarte.«
»Zu gütig! nein wirklich, zu gütig! Aber Sie können das Porto sparen ... einfach so ...!«
Und blitzschnell, ehe sie sich dessen versah, hatte er den Fahrschein in tausend Stücke zerrissen.
Sie begehrte auf: »Sind Sie wahnsinnig? Was soll das heißen?«
»Das soll heißen: Es wird nicht gereist! ... Und nun werd ich auch endlich erfahren, woran ich bin mit dir, ob ich deinen Haß habe oder deine Liebe?«
Er wartete lange der Antwort.
Schließlich, von ihm in die Enge getrieben, schluchzte sie: »Meinen Haß haben Sie! ... jawohl, Hartmann, ich hasse Sie ... ich has – – se Sie!«
Die beiden hatten überhört, daß es ein paarmal geklopft hatte.
Oskar Siewert trat ein.
Hartmann und Irma fuhren erschreckt auseinander.
Onkel Oskar tat, als hätte er nichts gesehen, nichts gehört.
»Ich komme, liebe Irma,« sagte er, »von deiner Mutter. Ich soll dir ausrichten, daß sie für dich einen Kranz mit auf deines Vaters Grab niedergelegt hat ... du weißt doch, heute vor zwei Jahren ist er gestorben.«
»Der selige Papa!« rief Irma bestürzt ... »Mein Gott, daran ... das hatte ich vergessen!«
Onkel Oskar lächelte gütig in beredtem Schweigen. Dann drückte er erst Irma, dann Hartmann die Hand.
*
»Die beiden – Luise und Irma, sind einander wert,« sagte Rektor Bögehold zu seiner Frau, als er von der freundlichen Wendung des Schicksals der Nichte und von ihrer Aussöhnung mit der Mutter erfuhr. Die Tatsache, daß im Hause seines verstorbenen Bruders der Wille zum Leben wieder sein Recht erlangt hatte und worüber er sich eigentlich hätte herzlich freuen müssen, fand seine schärfste Mißbilligung.
Er war innerhalb eines Jahres ein alter vergrämter Mann geworden, hatte nichts als Haß und Verachtung gegen diese jämmerliche Welt, in der er zu leben verdammt war und die ihm eine Enttäuschung nach der anderen brachte. Und nun war das Allerärgste passiert: Der Reichstag hatte den Antrag der Antialkoholiker auf Einführung des Gemeindebestimmungsrechtes in Deutschland abgelehnt und damit die Hoffnung der Abstinenten auf eine allmähliche Trockenlegung zunichte gemacht.
Diesen ihm durchaus unerwarteten Ausgang des jahrelangen, erbitterten Kampfes empfand der Rektor als eine persönliche Niederlage, als eine vaterländische Schmach. So mochte einem Feldherrn nach verlorener Schlacht zumute sein, der bis zum letzten Augenblick an den Sieg geglaubt hat. Dazu die hämischen Gesichter der guten Leute in S., das freche Grinsen seiner Gymnasiasten. In Wirklichkeit war es vielleicht gar nicht so schlimm mit der Schadenfreude der anderen. Hie und da hatte man sogar Mitleid mit dem vergrämten Manne. Aber der Rektor bildete sich jetzt ein, überall Gespenster zu sehen und zu hören. Jedes harmlose Lachen in seiner Nähe deutete er als Hohn. Jedes halblaute unschuldige Wort als eine Ironie. Sein Zustand fing an krankhaft zu werden. Als einmal ein Ball von Hartgummi von Jungen, die gar nicht seine Schüler waren, versehentlich gegen das Fenster seines Arbeitszimmers geworfen wurde und eine Scheibe zertrümmerte, glaubte er an ein Attentat auf seine Person. Ein anderes Mal – und dieser Fall mußte schon bedenklicher erscheinen – konnte Bögehold sich nicht entschließen, ein kleines Paket zu berühren, das ihm mit der Post ins Haus gekommen war. Er meinte, ein verdächtiges Ticken darin zu vernehmen und dachte an eine Höllenmaschine. Wie er nun die Polizei benachrichtigte und diese durch die Feuerwehr die verdächtige Sendung abholen und öffnen ließ, stellte sich heraus, daß der Inhalt ein für das physikalische Kabinett der Anstalt bestimmter Zeitmesser war.
In solcher seelischen Verfassung trat an Bögehold die nunmehr unabweislich gewordene Entscheidung über Lisbeths Herzensangelegenheit heran. Ein letzter Versuch sollte gemacht werden, die Einwilligung des Vaters zu erlangen. Wenn dieser Versuch scheiterte, so wollten die jungen Leute im Einverständnis mit der Mutter sich heimlich trauen lassen.
Lisbeth war mit Brenner nach S. gekommen, um den Verlobten vorzustellen. Sie hatten sich als Helfer Onkel Oskar mitgebracht, der drei volle Tage dazu brauchte, Bögehold dazu zu bringen, den verhaßten Bewerber überhaupt zu empfangen. Auf Siewerts Rat hatte der sich einen ganz unmodernen Backenbart wachsen lassen, damit er nicht als der Opponent aus jener Berliner Abstinentenversammlung von dem zukünftigen Schwiegervater wiedererkannt würde.
Das Versteckspiel schien gelingen zu wollen.
Nachdem Doktor Brenner sich einen langen Vortrag über die verderbliche Wirkung des Alkohols mit jener himmlischen Geduld angehört hatte, deren nur ein Liebender fähig ist, sagte Bögehold zu ihm: »Wollen Sie mir jetzt auf Ehrenwort und durch Handschlag in Gegenwart meiner Frau, meiner Tochter und des Herrn Siewert versprechen, daß weder Sie noch Lisbeth in dieser Ehe je einen Tropfen Alkohol trinken werden?«
Lisbeth überhob den Verlobten der Antwort.
»Selbst wenn er dazu bereit wäre,« rief sie, »ich würde nicht dulden, daß er so ein törichtes, so ein verrücktes Versprechen gibt, das kein gesunder, vernünftiger Mensch halten könnte!«
Auch Onkel Oskar legte sich ins Mittel.
Der Ernst der Situation hinderte ihn nicht, alle Register seines liebenswürdigen Humors zu ziehen. Vielleicht, daß es ihm doch noch gelang, eine friedliche Lösung herbeizuführen.
Die Rektorin hatte beide Hände ihres Mannes erfaßt, die sie weinend, bittend liebkoste und streichelte.
»Wollen Sie mir auf Ehrenwort und durch Handschlag ...?«
»Nein!« sagte jetzt entschlossen auch Doktor Brenner.
Damit war der Tragikomödie erster Teil zu Ende.
Bögehold machte eine unzweideutige Geste. Der Mediziner verließ das Zimmer, ging in sein Hotel zurück und packte seine Sachen. Dann begab er sich zu einem Friseur und ließ sich den schrecklichen schwarzen Backenbart wieder abnehmen.
Eine Stunde später reiste das Brautpaar in Begleitung Onkel Oskars nach Berlin zurück, wo einige Tage darauf mit Irma und Siewert als Zeugen die standesamtliche Trauung stattfand.
Der Segen der Mutter begleitete die unglücklich glückliche Frau auf die Hochzeitsreise nach Italien.
*
Seit dieser Zeit ging es mit dem bedauernswerten Fanatiker rasch abwärts. Zunächst auffällig still und in sich gekehrt, tat er der Rektorin gegenüber des Geschehenen keinerlei Erwähnung. Als wenn nichts vorgefallen wäre, ging er seiner beruflichen Tätigkeit nach, korrigierte Hefte, gab Unterricht, erledigte gewissenhaft alle direktorialen Geschäfte. Eines Tages aber war er plötzlich nicht mehr zu bewegen, zur gewohnten Stunde das Haus zu verlassen und die Anstalt zu betreten. Vergebens, daß die Lehrer, die Schüler auf ihn warteten. Rektor Bögehold blieb in seinem Arbeitszimmer sitzen und erklärte, keinen Schritt mehr in das Gymnasium zu tun, weil dort, in allen Ecken und Winkeln versteckt, die ruchlosen Bengel mit Gummischleudern und Revolvern auf ihn lauern. Von einer schrecklichen Ahnung gepeinigt, versuchte die geängstigte Frau ihm freundlich zuzureden.
Da bekam er einen Tobsuchtsanfall.
Laut schreiend ergriff er eine große Papierschere und stürzte damit auf sie los, zum Glück ohne Unheil anzurichten. Auf ihre Hilferufe kamen Leute herbei und überwältigten den Rektor.
Als der Kreisarzt dem Patienten sagte, draußen vor dem Tore der Stadt warte eine große Menschenmenge, um eine Predigt von ihm zu hören, folgte er willig und selig lächelnd wie ein Kind.
Er wurde in die »Drehscheibe« gebracht.
Um das Glück der Hochzeitsreise nicht zu stören, schrieb die stille Dulderin kein Wort von der Katastrophe.
Sie würden ja alles zeitig genug erfahren.