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Mr. William Phebs war in sehr vergnügter Laune. Er kam soeben aus der Grunewaldvilla des Großindustriellen Kestenbeck, wo eine große Abendgesellschaft stattgefunden hatte. Nun, auf der Rückfahrt zu seinem Hotel, in den Fond seines Mietsautos gelehnt, pfiff er leise die Melodie des letzten Bostons vor sich hin, den er mit Fräulein Kestenbeck, der Tochter des Hauses, getanzt hatte. Mit dieser Melodie verband sich ihm die angenehmste Erinnerung des heutigen Abends. Unter ihren Klängen war er mit Margit Kestenbeck nach einem der im Augenblick menschenleeren Nebensäle abgeschwenkt und hatte seine Partnerin übermütig auf Hals und Nacken geküßt, während Fräulein Kestenbeck, immer im Pas des Bostons sich weiter mit ihm bewegend, das ruhig sich hatte gefallen lassen.
Diese Kußszene war von folgendem Dialog in englischer Sprache begleitet worden:
»Well, Mr. Phebs?«
»Ich glaube fast, Sie haben solide Absichten, Mr. Phebs?«
»Richtig erraten, Mrs. Margit, und, irre ich mich nicht, so darf ich einige Hoffnungen haben?«
»Können Sie schon haben, Mr. Phebs. Aber bitte, führen Sie mich in den Saal zurück. Ich möchte nicht, daß meine Eltern oder die Gäste etwas merken. Es wäre doch recht prosaisch, wenn schon nach unserem ersten Kuß ein beifälliges Gemurmel entstände und sich gar zu Verlobungsgerüchten verdichtete.«
»Ah, Sie lieben die Romantik, Mrs. Margit? Ich auch. Dann können wir uns vielleicht morgen heimlich treffen? Wo?«
Sie nannte eine Konditorei in einer südlichen Vorstadt von Berlin.
» As you like it, Mrs. Margit.«
Darauf waren sie beide, wie wenn nichts vorgefallen wäre, lachend in den Festsaal zurückgekehrt.
Während nun das Auto von Mr. Phebs über die Eisenbahnbrücke von Halensee rasselte, zündete er sich schmunzelnd eine Zigarette an. Er sah sich am Ziele oder wenigstens nahe daran. Sein Plan, eines der reichen Mädel aus Berliner Finanzkreisen zu heiraten, war der Verwirklichung nahe.
Der elegante wie ein Sportsmann aussehende Amerikaner hatte, kaum daß er nach Deutschland kam, gar bald die Chancen erkannt, die er, namentlich bei der Vorliebe der Deutschen für alles Amerikanische, auf dem Berliner Heiratsmarkt haben würde. Aber daß es so schnell gehen würde, hatte er doch nicht gedacht.
Man schätzte Margit Kestenbeck schon bei Lebzeiten des Alten auf fünfundsiebzigtausend Dollar, nach seinem Tode auf das Dreifache, nach dem Tode ihrer Mutter auf das Vierfache. Also eine Sache, die, je länger man sie besaß, desto wertvoller wurde. Unter diesen Umständen nahm er sich fest vor, Margit Kestenbeck sehr gern und mit der Zeit immer lieber zu haben.
Wie er nun jetzt im Hotel Astoria den Lift betrat, dünkte ihm sein lautloses Emporgleiten im Fahrstuhl wie ein Geschehen von symbolischer Bedeutung für die Zukunft. Er schritt über die dicken Läufer und öffnete die Korridortür zu seinen beiden Zimmern, kaum bemerkend, daß sie unverschlossen war. Als er jedoch das elektrische Licht anknipste, bot sich ihm ein überraschender Anblick: Die Koffer mit einem scharfen Instrument zerschnitten, ihr Inneres durchwühlt, die Schränke sperrangelweit offen, ein paar Kleidungs- und Wäschestücke in voller Unordnung auf dem Fußboden verstreut.
Erregt nahm er den Hörer des Haustelephons von der Gabel und mit hastig sich überstürzenden Worten meldete er den Vorfall nach unten.
Alsbald waren der Hoteldirektor, der Bureauchef, der Zimmerkellner, das Stubenmädchen und anderes Personal zur Stelle. Auch ihre Bestürzung war groß. Gerade im Hotel Astoria mußte das passieren und ausgerechnet einem der vornehmsten Gäste, der durch sein luxuriöses Auftreten und seine noblen Trinkgelder im Hause das größte Ansehen genoß.
Der Einbruch mußte in der Zeit zwischen neun Uhr abends und zwei Uhr nachts geschehen sein, während Mr. Phebs Abwesenheit.
Ein Rennen und Laufen, ein Durcheinander der Angestellten, Weisungen, Befehle werden gegeben und hastig befolgt. Der Direktor läßt sich sofort mit der Zentrale des Polizeipräsidiums verbinden und erstattet telephonisch die Anzeige, während Mr. Phebs verwirrt bald auf diesen, bald auf jenen der Gegenstände losstürzend, bald in Schränken, bald in den Schubladen kramt und zu konstatieren versucht, was ihm von seinen Sachen noch geblieben sei.
Der Hoteldirektor stammelt tausend Entschuldigungen, sucht zu beschwichtigen, zu trösten. Er bittet den Gast, sich nicht aufzuregen. Derartiges käme leider trotz aller sorgsamen Bewachung immer und immer wieder vor und gerade in den allerersten Hotels. Dieses sei übrigens seit Jahren wieder der erste Fall:
»Haben Sie nur die große Freundlichkeit festzustellen, was alles abhanden gekommen ist und welchen Wert es hat. Wir sind aufs beste versichert. Sie bekommen alles auf Heller und Pfennig ersetzt, Mr. Phebs.«
»Darum ist mir nicht bange, durchaus nicht,« rief Mr. Phebs nervös. »Für den Schaden muß das Hotel selbstverständlich aufkommen, soweit er sich in Zahlen ausdrücken läßt. Aber meine Aktentasche! Ich finde meine Aktentasche nicht. Es sind Schriftstücke von größter Wichtigkeit darin, die allerdings für niemand anders Wert haben. Die Aktentasche lag hier ganz unten in diesem Koffer, in diesem mit dem neuesten amerikanischen Kunstschloß versehenen Koffer, den der Einbrecher aufgeschnitten hat!«
Bald darauf erschien ein Kriminalkommissar vom Hoteleinbruchsdezernat, ein bekannter Spezialist auf diesem Gebiete. Zwei Beamte begleiteten ihn. Sie konstatierten, daß das komplizierte Schloß der Zimmertür unversehrt, also einfach mit einem Nachschlüssel geöffnet war. Die Art der Öffnung des großen Koffers zeugte von rascher, aber roher Arbeit. Ein besonders raffinierter Täter kam nicht in Betracht.
Der Kriminalkommissar wünschte nun ein wenn möglich vollkommenes Verzeichnis der fehlenden Stücke und deren genaue Beschreibung, da die Aufklärung des Verbrechens und die Wiederbeschaffung der geraubten Gegenstände desto aussichtsvoller wäre, je präzisere Angaben Mr. Phebs darüber machen würde. Solche Angaben waren indessen von ihm nur unter größten Schwierigkeiten herauszubekommen. Er schien vollständig kopflos, gab verwirrte Antworten, die er fortwährend abänderte und richtigstellte. Immer wieder kam er auf die Aktentasche zurück und war verzweifelt über ihren Verlust.
»Waren Banknoten in der Aktentasche?« fragte der Kommissar.
»Nein, nicht ein Cent.«
»Effektenwerte?«
»Auch nicht.«
»Was sonst?«
»Korrespondenzen, nichts als Korrespondenzen.«
»Worüber?«
»Über Angelegenheiten, die hier in Deutschland absolut für keinen Menschen Interesse haben können als für mich selbst.«
»Immerhin, mein Herr, es wäre mir sehr wünschenswert, Genaueres, womöglichst Genauestes darüber zu erfahren, da gerade solche Details erfahrungsgemäß die Auffindung einer Spur erleichtern ...«
»Geheimnisse, die ich nicht preisgeben darf, da sie mir nicht allein gehören.«
»Hm, schade. Halten Sie es für wahrscheinlich oder auch nur für möglich, daß der Einbruch überhaupt lediglich nur zu dem Zwecke versucht wurde, um in den Besitz der Aktentasche zu gelangen?«
»Ausgeschlossen.«
»Ich glaube es ja auch nicht,« meinte der Kommissar, »sonst würde wohl kaum diese Garnitur Perlenknöpfe hier liegen gelassen worden sein.«
»Die Perlen waren ... waren nicht echt,« sagte zögernd und etwas kleinlaut Mr. Phebs.
»Außerordentlich wichtig,« rief erfreut der Kommissar und gab den ihn begleitenden Beamten einen Wink, dies zu notieren: »Wir haben es also hier mit einem Kenner zu tun. Doch nun möchte ich Sie dringend bitten, mir ungefähr den Charakter der Geheimpapiere etwas näher zu bezeichnen. Wir sind ja hier unter uns und Sie dürfen das größte Vertrauen zu unserer Diskretion haben.«
Um seine Verlegenheit zu verbergen, befleißigte sich der Amerikaner eines möglichst unbefangenen Tones, ja, er versuchte sogar zu lächeln:
»Nehmen wir an, die Korrespondenz beträfe zum Beispiel eine wichtige Erfindung ... sagen wir auf dem Gebiete der ... na, das tut ja weiter nichts zur Sache ... also es handelt sich um eine Korrespondenz mit Beschreibungen und Zeichnungen, deren Preisgabe dem Urheber der Erfindung den größten Schaden zufügen würde.«
»Aber Sie behaupteten doch soeben, daß niemand in Deutschland Interesse an der Kenntnis der Schriftstücke haben kann?«
»Stimmt, stimmt vollkommen, mein Herr ... Es handelt sich auch in Wirklichkeit um keine Erfindung, ich führte das nur so zum Beispiel an.«
Mehr war aus Mr. Phebs nicht herauszubringen.
Die Beamten verabschiedeten sich von ihm.
Auf dem Rückwege zum Polizeipräsidium tauschten sie ihre Ansichten über das Verhalten des Amerikaners aus, das ihnen merkwürdig vorkam. Dieser Mr. Phebs hatte offenbar Grund, vor der Behörde sein Geheimnis zu wahren, auf die Gefahr hin, daß dadurch der Einbruchsdiebstahl unaufgeklärt blieb. Was war das für ein Geheimnis? Es lohnte sich am Ende, sich mit der Aktentasche und auch mit der Persönlichkeit des Mr. Phebs etwas näher zu befassen.
Wie verabredet, traf sich Margit Kestenbeck am nächsten Tage mit Mr. Phebs.
Sie fand ihn zerstreut, verstimmt, fast ein wenig langweilig. Allmählich erst wurde der Wortkarge etwas gesprächiger und rückte nun mit der unangenehmen Sache heraus, die ihm gestern im Hotel passiert wäre; wobei er indessen den Verlust der Aktentasche mit keinem Worte erwähnte, um sich nicht unbequemen Fragen auszusetzen:
»Sie werden übrigens wahrscheinlich heute schon in den Abendblättern davon lesen,« sagte er so nebenbei.
So ärgerlich die Geschichte auch war – Fräulein Kestenbeck freute sich, daß Mr. Phebs Name durch alle Zeitungen gehen würde. Ihr guter Bekannter, ihr Freund, ihr zukünftiger Verlobter eine Persönlichkeit, von der plötzlich alle Leser sprechen würden – das fand sie sehr interessant.
»Ich finde das durchaus nicht interessant,« sagte Mr. Phebs ziemlich verdrießlich, bei sich aber dachte er: Gott, was ist sie für eine dumme Gans!
»Schade, daß Sie so schlechter Laune sind, Mr. Phebs. Ich hatte mich auf einen feschen, ausgelassenen Nachmittag gefaßt gemacht. Wenn wir hier unseren Tee getrunken hätten, wollte ich vorschlagen, daß wir irgendwo hinfahren, wo was los ist – in eine Tanzdiele oder so ... Es macht mir gar nichts, wenn wir von Bekannten gesehen werden, im Gegenteil, es würde mir einen Heidenspaß machen. Es ist ja gerade blamabel, was für einen guten Ruf ich habe.«
»Verzeihen Sie, Miß Margit, aber ich bin heute wirklich nicht in Jazzstimmung.«
Ein Zeitungsverkäufer trat ins Lokal und bot die ersten Abendblätter aus.
Mr. Phebs riß sie ihm förmlich aus der Hand.
Sie suchten jeder in einer anderen Zeitung.
»Hier! Hier steht ja die Sache schon!« rief plötzlich Fräulein Kestenbeck, ganz glücklich darüber, daß sie die Notiz zuerst gefunden hatte. Sie wandte sich mit dem Blatt etwas beiseite, als ob sie fürchtete, daß er ihr sonst mit den Augen den Inhalt vorwegnähme. Dann las sie vor, hastig, mit fliegendem Atem, so etwa wie jemand, der es nicht abwarten kann, anderen seine Aufsehen erregenden Neuigkeiten mitzuteilen:
Mr. Phebs schlug mit der Hand auf den Tisch, daß die Tassen klirrten. Um die Mundwinkel seines hageren, glattrasierten Gesichtes zuckte es. Ein paar Gäste in der Konditorei sahen sich nach dem Paare um.
»Eure Polizei ist aber auch zu blöd!« rief Mr. Phebs erregt auf englisch. »Die Diebe auch noch darauf aufmerksam zu machen, daß sie einen ganz besonderen Coup ausgeführt haben. Vielleicht hätten sie mir sonst die Tasche als für sie wertlos mit allem Inhalt zurückgeschickt.«
»Was sind denn das für Dokumente, Mr. Phebs?«
»Höchst wichtige Familienpapiere,« erwiderte er beinahe barsch. »Es handelt sich um ... nun ja. Ihnen kann ich es ja ruhig sagen: um Unterlagen für einen Millionenprozeß.«
»In Deutschland?«
»Jawohl, in Deutschland, Miß Kestenbeck,« gab er brummig zurück. »Unglaublich, diese Geschwätzigkeit Ihrer Zeitungen! Die Einbrecher mit der Nase darauf zu stoßen, welche ausgezeichnete Gelegenheit zur Erpressung sie jetzt haben!«
»Erpressung?«
»Ich muß sofort aufs Polizeipräsidium.«
Er winkte der Kellnerin und zahlte, dann rief er ein Auto herbei, stopfte Margit hinein und nannte dem Chauffeur ihre Adresse. Er selbst setzte sich in ein zweites Auto und fuhr rasch davon.
»Merkwürdiger Mensch!« murmelte Fräulein Margit Kestenbeck und strich sich nachdenklich mit dem Rotstift über die Lippen.
*
Auch Lisbeth Bögehold hatte eine Bekanntschaft gemacht.
In der Hochbahn hatte sie einer fixiert, immerzu fixiert die ganze Strecke vom Halleschen Tor bis zum Ohlendorf-Platz und von da an erst recht, als der Zug in den Bauch der Erde hineinglitt. Bei Tageslicht und Nachtbeleuchtung hatte er keinen Blick von ihr verwandt, so daß ihr die Sache nachgerade anfing lästig zu werden.
Er saß mit einem Buch ihr gegenüber, in das er wohl zeitweilig hineinblickte, aber nur um fortwährend darüber nach ihr hinwegzublinzeln.
Nun pflegen ja die Mädel der Weltstadt nicht eben die Fassung zu verlieren, wenn sie die Aufmerksamkeit oder gar das Gefallen eines fremden Mannes erregen, zumal nicht, wenn so ein Mann nett und manierlich aussieht. Nein, auch Lisbeth war nicht zimperlich, aber der da mit seiner Glotzerei trieb es denn doch zu arg.
Am Wittenbergplatz mußte sie den Zug verlassen, der nach Richtung Thielplatz ging. Sie stieg aus und wartete auf den nächsten.
War es Absicht, war es Zufall –: auch der Herr vis-à-vis steigt aus. Wieder verfolgt er sie mit den Augen, geht einmal hin, einmal her an ihr vorbei, zögert einen Augenblick, zieht dann den Hut und sagt:
»Verzeihung, mein Fräulein, aber mir ist, als müßten wir uns kennen.«
»Oh nein, daß muß durchaus nicht sein,« gibt Lisbeth ziemlich schnippisch zur Antwort, wendet sich ab und geht ein Stückchen weiter den Bahnsteig entlang in der Hoffnung, den Zudringlichen jetzt endlich los zu sein.
Doch schon ist er ihr nach. »Sind Sie nicht Fräulein Bögehold aus S.?«
Nun betrachtet auch Lisbeth den Herrn näher. In der Tat, auch er kommt ihr bekannt vor. Und schon nennt er seinen Namen:
»Doktor Brenner,« sagt er und lüftet von neuem lächelnd den Hut. – »Wenn Sie ein klein wenig Ihr Gedächtnis bemühen wollen: Sie haben gewissermaßen schon an meinem Herzen geruht ... Ja, ja, wahrhaftig, Fräulein Bögehold, bei einem Tanzvergnügen der Bürgerresource in S., wo ich bis vor fünf Vierteljahren als Assistenzarzt an der Provinziallandesirrenanstalt tätig war.«
»Herrjeh, ja! jetzt erinnere ich mich!« ruft sie vergnügt: »Der kleine Doktor von der Drehscheibe!« – Und lächelnd reicht sie ihm die Hand. »Nein, so was! Ist das ulkig! Was machen Sie denn in Berlin?«
»Ich habe mich hier als Neuropath niedergelassen.«
»Was ist das?«
»Nervenarzt, zu deutsch. Ich sitze und warte darauf, bis Leute, die einen Komplex haben, an Verdrängungen leiden und so weiter, zu mir kommen. Die nehme ich dann, wenn sie es sich gefallen lassen, in psychoanalytische Behandlung, das heißt, ich quäle sie so lange mit neugierigen Fragen, bis sie mir wieder davonlaufen oder gesund oder ganz verrückt werden.«
Lisbeth lachte hell auf: »Also immer noch so lustig wie damals! Es freut mich, Sie wiederzusehen.«
»Anfangs war ich im Zweifel, ob Sie es auch wirklich sind, Fräulein Bögehold. Sie haben sich famos herausgemacht. Kaum zum Wiedererkennen. Ein scheues, gedrücktes Mauerblümchen sind Sie gewesen, aus reinem Erbarmen habe ich Sie damals zum Tanz aufgefordert in S. Und jetzt – – – – eine Dame sind Sie geworden, eine elegante Großstadtdame. Allerhand Hochachtung.«
Sie standen in lebhaftem Geplauder auf dem Bahnsteig, als wenn sie wer weiß wie alte gute Bekannte wären. Liesbeth erzählte, daß sie bei Verwandten wohne und einen Handelskursus durchmache. Bald sei das Jahr um. Wenn sie dann nicht gleich eine Anstellung kriege, werde sie wohl vorläufig bis auf weiteres nach S. zurück müssen. Davor graue ihr schon.
Der erwartete Zug fuhr ein.
»Wohin fahren Sie, Fräulein Bögehold?«
»Nur bis zur nächsten Station, nach Zoologischen Garten; ich muß in die Joachimsthaler Straße, wo ich für die Tante Einkäufe zu besorgen habe.«
»Dann schlage ich vor, Sie machen den Weg zu Fuß über die Tauentzienstraße, und ich begleite sie.«
»Aber gern, Herr Doktor.«
Als sie sich zehn Minuten später an der Joachimsthaler Straße verabschiedeten, fragte Dr. Brenner zwanglos, ganz natürlich, ob und wann man sich wiedersehen könnte, und ebenso schlicht, wie wenn es sich von selbst verstünde, daß diese Begegnung nicht die letzte sein würde, gab sie die Antwort, daß er sie nur gelegentlich anrufen möge bei ihrer Tante, der verwitweten Frau Luise Bögehold, Belle-Alliance-Platz 15. Er fände den Namen im Telephonbuch.
So war es gekommen, daß Lisbeth und Doktor Brenner sich in der Folgezeit wiedersahen, öfter als sie beide gedacht hatten.
Wie von selbst hatte es sich gefügt, daß sich harmlose, freundschaftliche Beziehungen zwischen ihnen knüpften, ein kameradschaftliches Verhältnis in aller Unbefangenheit. So empfanden sie es beide. Mangels anderer Herrenbekanntschaften ihres Alters freute sich Lisbeth des zwanglosen Umganges mit Doktor Brenner in den Freistunden, die sein Beruf und ihre Tätigkeit ihnen gestatteten. Sie machten miteinander Ausflüge in die schöne Umgebung von Berlin, die Lisbeth nur erst wenig kannte. Sie wußte ihm Dank dafür, daß er so taktvoll war, nie die mißlichen Verhältnisse in der Heimat zu berühren, unter denen die Familie des Rektors zu leiden hatte. So oft sie auch Gedanken und Erinnerungen an die kleine Stadt austauschten – nie war von der Marotte des Vaters die Rede. Eines Tages aber fing Lisbeth selber davon an. Es interessierte sie plötzlich zu erfahren, wie Doktor Brenner über den Vater dachte.
»Ich kenne Ihren Herrn Vater kaum vom Sehen, wie sollte ich mir ein Urteil über ihn erlauben.«
»Über Papas Eigentümlichkeit, meine ich. Sie werden doch Näheres schon darüber gehört haben.«
»Ah so, seine Einstellung zum Alkohol, meinen Sie?«
»Ja.«
»Gott, Fräulein Lisbeth, das ist nun mal die Ansicht des alten Herrn, und dagegen läßt sich wohl nichts machen.«
»Sie sollen mir nicht ausweichen, Herr Doktor. Sie sollen mir unumwunden sagen, was Sie von Papa halten, ob Sie auch eine so schlechte Meinung von ihm haben wie die anderen alle in S.«
»Er tritt für seine Überzeugung ein, und das imponiert mir immerhin. Weniger allerdings imponiert mir, daß er die Überzeugungen, Gewohnheiten und Bräuche anderer nicht achtet; am wenigsten, daß er die Schuljugend gegen die Eltern mobil machen möchte. Das Pech Ihres Herrn Vaters ist, daß er in S. mit seinen Ansichten so ziemlich allein steht. Hätte er Gesinnungsgenossen dort, so würde sich wohl nicht so viel Kampfeseifer in einer einzigen Person konzentrieren. Ich kenne hier in Berlin auch ein paar Abstinente. Niemand kümmert sich um sie. Sie verschwinden in der Menge und entladen ihren Unmut, niemandem zum Leide und sich selbst zur Lust, jeden Monat wenigstens einmal in Vereinssitzungen oder Versammlungen. Warum auch nicht? Es muß auch solche Kauze geben. Wir leben ja, Gott sei Dank, nicht mehr im Mittelalter, wo sich jede Intoleranz gleich in brutale Tat umsetzte, wo sich fromme Christen gegenseitig die Schädel einschlugen, weil sie sich nicht darüber einigen konnten, in welcher Form das Abendmahl zu nehmen sei, ob mit oder ohne Hostie, mit oder ohne Wein und so weiter und so weiter.«
»Papas Abstinenz hat aber mit Religion nichts zu tun,« wandte Lisbeth ein.
»Schon möglich,« meinte Doktor Brenner. »Es gibt Abstinenten verschiedener Art, fromme und unfromme, solche, die einer religiösen Sekte angehören und mit der Enthaltsamkeit einen gottgefälligen Lebenswandel zu führen glauben, und solche, die aus sogenannten sozialen und hygienischen Gründen mit Limonade und Selterswasser gegen den Genuß geistiger Getränke ankämpfen. Die Sache ist harmlos, solange die Abstinenten nicht Staat und Polizei zur Hilfe rufen und unsereinen nicht zwingen wollen, es ihnen gleichzutun. In dem Moment beginnt man sich natürlich zu wehren und sich ein bißchen auf seine bürgerliche Freiheit und an das Recht seiner Selbstbestimmung zu erinnern.«
Sie fuhren im Kahn über den Wannsee, während der Arzt so sprach. Er saß am Steuer, weil Lisbeth sich darauf kaprizierte, allein zu rudern. Durch ein paar unvorsichtige Ruderschläge bespritzte sie ihren Begleiter über und über mit Wasser.
»Oho, was war das?« rief Doktor Brenner amüsiert. »Pitschepudelnaß macht mich die Tochter eines Vorkämpfers der Trockenlegung! Wie wollen Sie sich vor ihrem Herrn Papa verantworten?«
Und Lisbeth in demselben übermütigen Tone: »Mit Wasser darf ich, Doktor, so viel ich will.«
»Nun passen Sie mal auf, Fräulein Lisbeth,« rief Doktor Brenner. »Jetzt revanchiere ich mich. Sofort rudern wir nach Moorlake hinüber und legen dort an. Ich lade Sie zu einem Glase Bier ein. Es ist dort vorzüglich.«
»Gemacht, Doktor, gemacht.«
Sie wechselten vorsichtig die Plätze. Nun saß Lisbeth am Steuer, und Doktor Brenner ruderte mit ausgeruhten Armen in kräftigen Schlägen auf Moorlake zu, das, von dunkeln Föhren umrahmt, verlockend im Sonnenscheine herüberglänzte.
Lisbeth nahm das unterbrochene Gespräch wieder auf.
»Wie genau Sie um die Abstinenzbewegung Bescheid wissen!«
»So einigermaßen. Ich habe einige von ihren Schriften gelesen. Sie glauben nicht, was da zusammengeschrieben wird. Es gibt Berge von solcher Literatur. Da sind gewisse Gelehrte, die durchstöbern mit Fleiß und heißem Bemühen das Alte und Neue Testament, um zu beweisen, daß sowohl bei Moses und den Propheten als auch bei Jesus und seinen Jüngern das Trinken verpönt gewesen sein soll. Das Gegenteil war der Fall bei Juden und Christen. Nicht Trinken, sondern Trunksucht galt als Laster wie auch noch heutzutage bei allen Vernünftigen. – Dann gibt es Leute mit den sogenannten wissenschaftlichen Argumenten. Nationalökonomen berechnen, daß soundsoviel Hektar Gerste, Hopfen, Kartoffeln für Brauereien und Brennereien anstatt für Brotgetreide angebaut werden und daß wir darum für teures Geld Körnerfrüchte aus dem Auslande einführen müssen. Als ob nicht diese Aussaaten ebenfalls unserer Volkswirtschaft zugute kämen. Außerdem haben wir soviel Ödland, das wir urbar machen könnten, wenn wir nur die Mittel und die nötige Energie dazu hätten. Ein Psychiater will sogar experimentell festgestellt haben, daß schon das allerbescheidenste Quantum Bier die Arbeitsleistung des Menschen beeinträchtigt. Statistiker zählen die Menge der Liter, die jährlich auf den Kopf oder vielmehr in den einzelnen Bauch der Bevölkerung kommen, lassen aber die Zehntausende von Amerikanern außer Betracht, die, weil sie daheim mit der Prohibition beglückt sind, zu uns kommen, um bei uns ihren Durst zu stillen. Wenn die Abstinenten recht hätten, so wären neun Zehntel aller Verbrechen auf das Konto des Alkohols zu setzen. Na, kurz und gut, ohne ihn wäre das Paradies auf Erden. Leider hat man nie davon gehört, daß Inder und Mohammedaner, die ja in der großen Mehrheit abstinent leben, die besseren Menschen wären. Die Sache ist eben eine Frage der Mäßigkeit. Man kläre das Volk getrost auf über die Nachteile und Schäden des übertriebenen Genusses geistiger Getränke, wie man es ja auch über die Gefahren der Sexualität aufklärt. Aber man lasse ihm den Genuß und die Freude am guten Glase Bier, wie man ihm ja auch die Lust an der Liebe lassen muß, wenn nicht die Menschheit aussterben soll, die trinkende und die enthaltsame. Die Trockenheitsfreunde, müssen Sie nämlich wissen, arbeiten in unzähligen über das ganze Reich zerstreuten Vereinen, in ihren Büchern und Versammlungen, in weitverzweigten Organisationen darauf hin, um auf dem Wege der Gesetzgebung die Trockenlegung Deutschlands nach amerikanischem Muster zu erzwingen, wozu der erste Schritt ein sogenanntes Gemeindebestimmungsrecht sein soll, das jetzt als Antrag dem Reichstag vorliegt.«
»Davon habe ich gehört, aber dazu kommt es ja nie bei uns, trotz Papas eifriger Mitwirkung,« lachte Lisbeth.
»Sagen Sie das nicht, Fräulein Bögehold, so sorglos wie Sie denkt die große Mehrheit des Publikums, und eines Tages, wenn man sich nicht kräftig dagegen wehrt, wird man auch in Deutschland vor der vollendeten Tatsache der Trockenlegung stehen. Ich kenne das Ausmaß und die Zähigkeit dieser Abstinenzbewegung, weil gerade ich an ihrer Abwehr besonders interessiert bin.«
»Wieso gerade Sie?«
»Mein Vater ist Brauereibesitzer.«
»Brauereibesitzer!?« kam es fast im Tone des Schreckens von ihren Lippen.
»Halten Sie das für etwas so Schlimmes?«
»Nein, das nicht, aber ...«
»Aber?«
Lisbeth errötete; sie wußte selber nicht warum.
War es das plötzliche Aufdämmern des Bewußtseins von der Kluft der Gegensätze, die ihren und seinen Vater voneinander trennten?
Doktor Brenner fand das Mädchen reizend in diesem Augenblick der Hilflosigkeit. Er ahnte die Ursache ihrer Verwirrung, in der sich ihre bislang sorgsam verborgene Neigung zu ihm zu verraten schien.
Als sie an der Landungsstelle angelangt waren und er ihr beim Aussteigen aus dem Boot behilflich war, hielt er ihre Hand viel länger in der seinigen als unbedingt notwendig gewesen wäre.
Sie suchten sich in dem Gartenlokal ein schattiges Plätzchen, abseits von den wenigen Gästen, die dort saßen.
»Es ist wirklich eine schöne Sache um ein frisches, gutes Glas Bier,« meinte Lisbeth. »Noch nie hat es mir so gut geschmeckt wie nach dieser Ruderpartie. Hujeh, wenn das mein Vater wüßte!«
Doktor Brenner bestellte auch eine Kleinigkeit zu essen. Alsbald leisteten ihnen ein Hahn, eine Katze und eine Anzahl Sperlinge Gesellschaft. Der Hahn, fett und frech, zupfte Lisbeth das hingehaltene Brot aus den Händen, die Sperlinge kamen auf den Tisch und pickten die Krumen auf, die Katze umschmiegte schmeichelnd Lisbeths seidene Strümpfe. Die beiden jungen Menschen waren sehr vergnügt. Die Zeit verging im Nu, und als sie das Boot wieder bestiegen, hatten sich ihre Blicke mehr gesagt als die harmlosen Worte, von denen die Blicke begleitet gewesen waren.
Nach diesem Ausflug, von dem sie erst spät nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehrten, sahen sich die jungen Leute einige Wochen nicht wieder, obwohl Doktor Brenner mehrfach versucht hatte, Lisbeth telephonisch zu erreichen. Der Rektor und seine Frau nämlich waren nach Berlin gekommen und nahmen Lisbeths ganze freie Zeit in Anspruch.
Die Dinge in S. hatten inzwischen einen nicht so schlimmen Verlauf genommen, wie Frau Bögehold und Lisbeth befürchtet hatten. Verdruß und Aufregung freilich war genug gewesen. Die Schüler der Klassen, in denen gesiezt wurde, also die Primaner und Sekundaner, hatten sich zu einem Komplott zusammengetan. In heimlichen Zusammenkünften war zwischen ihnen vereinbart worden, Rektor Bögeholds feindlichen Exkursionen ins Gebiet der Feuchtfröhlichkeit dadurch ein Ende zu machen, daß man einen Skandal provozieren wollte, der weit über das Weichbild von S. hinaus im Lande bemerkt werden sollte und von dem sie hofften, daß auch die Zeitungen sich im Reiche damit beschäftigen würden. Dann wäre auch das Kultusministerium gezwungen, darüber eine Entscheidung zu fällen, ob Rektor Bögehold nach wie vor ungehindert seinen Haßgesang anstimmen und die schöne Literatur des Kommersbuches verächtlich machen dürfe. Vermutlich waren dabei wiederum die Väter mit den Söhnen im stillen Einvernehmen und gaben so den Gymnasiasten einen Rückhalt, falls etwa die Verschwörung einen unerwarteten Ausgang für sie haben sollte. Die Jungen hatten nämlich beschlossen, daß, sobald vom Katheder herab dem Gehege der Zähne des Rektors noch ein einziges Mal eines seiner Verdammungsurteile über die Feuchtigkeit entschlüpfte, in den Schulstreik zu treten und so lange dem Unterricht fernzubleiben, bis Bögehold in aller Form Abbitte geleistet hätte. Darüber hinaus beabsichtigten sie dann die Forderung zu stellen, dem Fäßchen Lagerbier beim Schülerbergfest wieder zu seinem bekömmlichen Rechte zu verhelfen. Sie hatten sich gegenseitig das Ehrenwort gegeben, nichts über die geplante Aktion verlautbaren zu lassen und erwarteten nun in kampfesfreudiger Stimmung den nächsten Angriff des Rektors. Der aber, wie das in dem kleinen Nest wohl nicht anders geschehen konnte, hatte wahrscheinlich Wind von den revolutionären Umtrieben bekommen. Er witterte die Gefahr und richtete sein Benehmen danach ein. Wie schwer es ihm auch wurde, er hielt sich zurück. Nicht ein einziges alkoholfeindliches Wort kam über seine Lippen. Wochenlang, einen Monat und mehr schien er sein Lieblingsthema vergessen zu haben. So viel Selbstüberwindung machte ihm freilich Pein. Dennoch vermied er es standhaft, dem heiklen Punkt sich auch nur zu nähern, während die Jungen von Tag zu Tag vergeblich auf das Losungswort aus seinem Munde harrten, um endlich ihr Feldgeschrei anstimmen zu können. So standen sich die Parteien tatenlos gegenüber, hüben und drüben nervös und voller Spannung. Am liebsten hätten die Schüler den Streit vom Zaune gebrochen, sie suchten den Rektor zu provozieren, ersannen in ihrer Bosheit allerlei Mittel, wie sie ihm das Stichwort bringen könnten, auf das er dann hereinfallen sollte.
Da, eines Tages, als in der Geschichtsstunde des herrlichen Bauwerkes der Alhambra Erwähnung getan wurde, wandte sich einer von den Frechdachsen dummdreist an Bögehold mit der Frage, ob es denn wahr sei, daß die mit der Anfangssilbe al beginnenden spanischen Wörter aus dem Arabischen kämen.
»Ja, das ist wahr,« bestätigte der Rektor, »wie zum Beispiel Alcade, Alcazar und so weiter.«
»Ach, dann kommt wohl auch das Wort Alkohol aus dem Maurischen?« forschte der wißbegierige Jüngling weiter.
Bögehold stutzte einen Augenblick. Er merkte sofort, was der Heimtückische im Schilde führte.
»Platzen sollst du!« dachte Bögehold bei sich, und zur Verzweiflung der Klasse hielt er nun in aller Seelenruhe einen langen, langen Vortrag über die Entstehung der Alhambra, über ihren baulichen Charakter und ihre historischen Schicksale.
Als das Glockenzeichen ertönte und die Stunde zu Ende war, verließ er hocherhobenen Hauptes das Schulzimmer. Er hatte das stolze Gefühl, über die Klasse und über sich selbst einen großen Sieg davongetragen zu haben.
Das Bewußtsein dieses Sieges verlieh ihm die Kraft, bis in die Herbstferien hinein sich auch fernerhin jeder Bemerkung über den Alkohol zu enthalten. Seine Pennäler waren auf der ganzen Linie geschlagen.
Um so eifriger hatte er sich während dieser Zeit außerhalb der Schule propagandistischer Tätigkeit gewidmet, indem er Beiträge für Zeitschriften schrieb. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, daß sein Name allmählich in jenen Kreisen bekannter wurde und daß man um seine Mitarbeit warb. Demnächst sollte er auch als Redner in der großen Jahresversammlung der Alkoholgegner auftreten.
Dieser Zweck hatte ihn während der Herbstferien nach Berlin geführt, wo er, die Gastfreundschaft seiner Schwägerin Luise Bögehold ausschlagend, mit seiner Gattin in einem billigen Logis im Norden der Stadt für einige Tage Wohnung nahm. In diesem Logis waren durch Vermittlung des Zentralkomitees der Abstinenten noch eine Anzahl Gleichgesinnter untergebracht, die ebenfalls aus der Provinz und dem Reiche nach Berlin zu diesem wichtigen Meeting eingetroffen waren. Es befanden sich darunter recht merkwürdige, seltsam verhutzelte Gestalten, denen Lisbeth begegnete, so oft sie die Eltern in diesem Heim aufsuchte. Gestalten, die in ihrer Kleidung, in ihrem äußeren Gehaben, in ihrer ganzen Erscheinung einen Sondertyp bildeten. Sie schienen wenig Gewicht auf äußere Kultur zu legen, trugen meist Wollhemden und billiges Lodenzeug, Kniehosen mit Stutzen nach Art kleinbürgerlicher Touristen und blickten sehr ernst drein, fast andächtig, gleich in sich gekehrten Sektierern auf dem Wege zu oder von einem religiösen Kult. Lisbeth war natürlich nicht so einfältig zu glauben, daß alle Abstinenten so aussehen und so unfroh ins Dasein schauten. Diese da mußten irgendwie Ausnahmen sein, wenn freilich auch Ausnahmen nach dem Herzen ihres Vaters.
Die Herberge selbst bot einen ungewöhnlichen Anblick. Im Hausflur, an den Wänden des Treppenaufganges, in den Korridoren, allenthalben bemerkte sie Werbeplakate für Mineralwasser und alkoholfreie Getränke. In einem primitiven Lesesaal, den sie jedesmal durchqueren mußte, lagen Druckschriften aus, worin alkoholfreie Erholungsstätten, Sommerfrischen und Gasthäuser empfohlen waren, Werbeschriften für abstinenten Lebenswandel waren in Mengen ausgebreitet.
Als Kontrast zu dieser Umgebung fiel ihr eines Tages ein eleganter schlanker Herr auf, der gerade die Treppe herunterkam, als sie hinaufstieg. Als der Herr ihrer ansichtig wurde, stutzte er einen Augenblick, blieb stehen, als wenn er Lisbeth begrüßen wollte. Dann aber glitt er eilig an ihr vorbei. Sie erhaschte nur noch sein flüchtiges Bild, wie er zur Haustür hinausging.
Der Fremde? ... Wo hatte sie doch diesen Fremden schon gesehen? Und plötzlich mußte sie an jenen Amerikaner denken, der sich vor längerer Zeit im Restaurant Heßler zu ihr und zu Onkel Oskar an den Tisch gesetzt hatte. Lisbeth suchte nach dem Namen und fand ihn nicht.
Der Rektor konnte sich während seines Berliner Aufenthaltes Lisbeth nicht viel widmen. Abgesehen von allerhand Besprechungen und Kommissionssitzungen mit den Gleichgesinnten, war er auch durch die Vorbereitung zu seiner Rede in Anspruch genommen, die er, stundenlang im Herbergszimmer auf- und abgehend, auswendig lernte. Frau Bögehold mußte immer dabei sein und zuhören. Sie war schon nervös von seinen Deklamationen. Darum suchte Lisbeth die Mutter, so oft es anging, zu entführen, um ihr Berlin zu zeigen oder mit Tante Luise und Onkel Oskar zusammenzukommen. Im Kreise der Verwandten atmete die Rektorin auf, weil hier nie vom Trinken die Rede war, wohl aber manchmal getrunken wurde.
Einige Tage darauf fand die große Hauptversammlung der Abstinenten in einem riesigen Saale der Hasenheide statt. Bögehold, der als einer der offiziellen Redner auf dem Programm stand, hatte die Nacht vorher kein Auge zugetan. Er war sehr aufgeregt, da er das erstemal in seinem Leben vor Tausenden von Hörern sprechen sollte. Diese Aufregung übertrug sich auch auf die Seinigen, die am liebsten der Versammlung ferngeblieben wären, wenn sich das hätte machen lassen. Der Rektor legte großen Wert darauf, daß sie Zeuginnen seines Erfolges wären. So gingen sie denn hin, beständig von der Angst gequält, er würde steckenbleiben.
Auf dem Podium stand ein langer Tisch, um den sich das Komitee gruppiert hatte. Der Vorsitzende eröffnete die Tagung mit einer Begrüßungsrede an die aus allen Gauen des Reiches erschienenen Anhänger. Dann gab er einem Herrn des Komitees das Wort, der einen langwierigen Bericht über die Tätigkeit im verflossenen Geschäftsjahr verlas. Hierauf kamen die verschiedenen Redner an die Reihe. Eine Flut von statistischen Zahlen ergoß sich über die Zuhörer. Sie erfuhren von der Erzeugung und dem Verbrauch geistiger Getränke in Deutschland, von dem Anteil, welchen Bier, Wein, Schnaps daran hatten, wie sich die Mengen auf die einzelnen Länder verteilten, wieviel Liter auf den Kopf der Bevölkerung kam, welche Einnahmen für die Industrie, welche Steuern für das Reich daraus erzielt würden. All das wurde »authentisch und ziffernmäßig« dargelegt. Der Sprecher berechnete, was die Verbraucher für die ausgegebenen Beträge sich alles hätten kaufen können, wenn sie kein Bier, keinen Wein, keinen Schnaps getrunken haben würden. Jene bekannten Luftschlösser wurden an die Wand gemalt, die man sich bei gänzlicher Enthaltsamkeit hätte bauen können. Aber keiner von diesen Sprechern war imstande, die Schlösser zu zeigen, welche etwa die Abstinenten besäßen. Nicht einmal ihr Gesundheitszustand schien ein besserer zu sein als der gewöhnlicher Sterblicher, denn von unten aus dem Saale her war ein beständiges Husten und Räuspern aus tausend trocknen Kehlen vernehmbar. Oder lag das vielleicht daran, daß die Leute sich langweilten, weil jeder Redner immer nur dasselbe unendlich oft schon Gehörte und Gelesene zu sagen wußte?
Da kam plötzlich Leben in die Bude. Bögehold erschien auf dem Podium und, von Zurufen laut begrüßt, erntete er sogleich Vorschußlorbeeren, was immerhin bewies, daß er sich durch seine Taten bereits einen Namen unter diesen Leuten gemacht hatte. Auch erregte wohl das Thema seines Vortrages von vornherein Interesse. Es lautete: »König Alkohol« und führte den Untertitel: »Selbstbekenntnisse des berühmten amerikanischen Schriftstellers Jack London.«
Der Vortrag also sollte an jenes bekannte Buch Jack Londons anknüpfen, das viele aus der Versammlung schon gelesen hatten oder mindestens vom Hörensagen kannten. Einige Besucher hielten es sogar in Händen, denn auf Veranlassung eines ungenannten Spenders war es ihnen beim Betreten des Saales geschenkweise überreicht worden.
Im Anfang holprig und stotternd, verlor der Rektor bald seine Befangenheit und begann nun doppelt so pathetisch und doppelt so laut, als er ihn sich zu Hause eingeübt hatte, den sorgsam auswendig gelernten Vortrag herzusagen. Er gab ebensowenig etwas Eigenes als die anderen vor ihm. Er hatte die ihm für seine Propagandazwecke besonders wichtig erscheinenden Stellen aus Jack Londons Buche ausgezogen und mit einem verbindenden Texte aneinander gereiht. So war es gewissermaßen mehr der tote Jack London, der verstümmelt zu Worte kam, als der Vortragende und dem der tosende Beifall am Schlusse galt. Bögehold verbeugte sich hochbeglückt unzählige Male und kehrte, immer und immer wieder gerufen, auf das Podium zurück.
Damit war die Rednerliste erschöpft, die Diskussion wurde eröffnet. Es meldete sich ein Herr zu Worte und nannte seinen Namen, der aber zunächst in der noch herrschenden Unruhe unverständlich blieb. Er wurde aufgefordert, auf die Tribüne zu kommen und folgte dem Rufe.
»Was hast du nur,« fragte plötzlich die Rektorin ihre Tochter.
»Nichts, ach nichts!« suchte Lisbeth sie zu beschwichtigen.
Sie hatte in dem Manne auf dem Podium ihren Freund Doktor Brenner erkannt.
Doktor Brenner begann:
»Meine sehr verehrten Damen und Herren. Um nicht falsche Erwartungen zu erwecken, vor allem um Enttäuschungen vorzubeugen, möchte ich gleich von vornherein mir zu sagen erlauben, daß ich keiner der Ihrigen bin.«
»Aha! Hört, hört! ... Runter vom Podium ... Ausreden lassen!« ertönte es durcheinander im Saal. Dann wurde es wieder still.
»Ich kam eigentlich nicht hierher, um das Wort zu ergreifen. Meine Absicht war vielmehr zu hören und zu schweigen und ...« – fügte er lächelnd hinzu – »zu sehen, ob ich nicht den oder jenen guten Bekannten hier finden würde, von dem ich aus bestimmten Gründen hoffte, daß er der heutigen Versammlung nicht fernbleiben würde.«
Bei diesen Worten lugte Doktor Brenner scharf in den Saal hinein. Eine freudige Überraschung zeigte sich plötzlich auf seinem jugendlichen Gesichte. Er hatte in einer der vordersten Reihen Lisbeth erkannt, die er in der ganzen Zeit vergebens zu erspähen versucht hatte.
»Und so stehe ich denn hier«, fuhr er fort, »ohne recht zu wissen, wie, vor dieser verehrten Versammlung. Die Worte des hochgeschätzten Herrn Vorredners reizen mich nämlich zu einer Entgegnung. Ich bitte um die Erlaubnis, Ihnen vortragen zu dürfen, was ich dagegen einzuwenden habe.«
»Ist er plötzlich verrückt geworden?« dachte Lisbeth. Sie wäre am liebsten aufgestanden und davongelaufen.
»Fühlst du dich nicht wohl, mein Kind?« flüsterte von neuem ängstlich die Mutter.
»Die schlechte Luft ... aber es ist schon wieder vorbei.«
Sie lauschte gespannt auf Brenners Worte:
»Jack London, meine Damen und Herren, wie er selbst berichtet, wird erst in späten Jahren Gewohnheitstrinker, und bekennt sich offen als solchen. Er stirbt mit vierzig Jahren an den Folgen dieses Lasters. Dieses Ende hat er mit aller Deutlichkeit vorausgesehen. In solcher Voraussicht wollte er warnend seine Stimme erheben, um seine Mitmenschen und vor allem die heranwachsende Jugend durch das eigene Beispiel abzuschrecken.«
»Bravo, bravo!«
Der Redner verbeugt sich lächelnd: »Über Ihre Zustimmung, meine Damen und Herren, quittiere ich dankend, aber nicht im eignen Namen, sondern in dem des leider allzu früh dahingegangenen amerikanischen Romandichters. Es handelt sich hier um sehr bemerkenswerte Dokumente zur Psychologie und Physiologie dieses Trinkers. Indessen die Schlüsse, die der Verfasser aus persönlichen Erlebnissen zieht und die Forderungen, die er danach mit dem Anspruch auf allgemeine Geltung stellt, kann ich nicht unwidersprochen lassen.«
»Oho, aha ... Der Pferdefuß kommt zum Vorschein! Aufhören! Runter vom Podium.«
Brenner ließ in aller Ruhe die Zwischenrufe verebben, dann sagte er in einem Tone, der nicht frei von Ironie war:
»Wenn es der Wille der hochansehnlichen Versammlung ist, daß ich nicht weiter spreche, so werde ich mich selbstverständlich dem fügen, denn Sie sind ja heute hier die Herren dieses Hauses und haben darüber zu bestimmen, ob abweichende Ansichten hier, wenn auch in höflicher Form, geäußert werden dürfen. Jack London und mit ihm der Herr Vorredner irrt, wenn er diesen Bekenntnissen Allgemeingültigkeit beimißt ... Der Fall Jack London ist vielmehr ein besonderer pathologischer Fall, dem keinerlei typische Bedeutung zukommt. Bis etwa vor einem Jahrzehnt vor seinem Tode, also bis zum dreißigsten Jahre hat Jack London nach eigener Bekundung nur gelegentlich getrunken und sogar eine gewisse Abneigung gegen den Alkohol gehabt, zu dem er erst als erfolgreicher Schriftsteller, als reifer Mann seine Zuflucht nimmt, also in einem Alter, wo er zu Ruhm und Reichtum gelangt. In einem Alter, wo ein Mann von solch hoher Intelligenz sich der Verantwortung gegenüber seinem Körper, seiner Kunst und seiner Seele hätte bewußt sein sollen. Der Gewohnheitstrinker und noch mehr der Säufer ist ein schwacher, widerstandsloser Mensch, der schon durch Charakteranlage für sein Unglück gewissermaßen prädestiniert ist, der hemmungslos seinem Schicksal verfällt, wie der Spieler der Leidenschaft des Spiels, wie die geborene Dirne der Unzucht, wie der geborene Verbrecher der Mordlust, zumal wenn persönliche Not, widrige Lebensumstände oder sonstige äußere Verhältnisse seine Triebe begünstigen. Anders Jack London, der, ein Mann von ungeheurer Arbeitskraft und Energie, seinen Aufstieg vollendet. Dann erst, nachdem er alles Erreichbare erreicht hat, Ruhm, Macht, Gunst der Frauen, erfaßt ihn der Ekel vor der Welt, um deren Anerkennung er so lange vergebens gekämpft hat. Er zieht sich in die Einsamkeit zurück, in die Ruhe und Abgeschiedenheit und trinkt, im Rausche Vergessenheit suchend. Wohlgemerkt, meine Damen und Herren, Jack London spricht nie in seinen Romanen von Wein oder Bier, sondern immer nur von Getränken stärkster Konzentration, in der Hauptsache von Whisky und Coctail, die er in ungezählten Mengen zu sich nimmt.
Gerade in diesen letzten zehn Jahren seines kurzen Lebens ist Jack London von erstaunlicher Produktivität. In dieser Zeit schreibt er vierzig Bücher, weil er für jedes einzelne Wort das vertragliche Honorar von einem Dollar erhält. Der riesige Gewinn lockt ihn; er treibt Raubbau mit seinem Talent, vergewaltigt seine Phantasie. Schon diese geistige Überanstrengung allein hätte hingereicht, ihn zugrunde zu richten. Sie zwang ihn, sich immer wieder zu entspannen und sich immer wieder anzuregen. Sie machte ihn zum Trinker, zum Säufer. Die Unmengen Whisky und Coctail, die er zu sich nimmt, sind mithin nicht die Ursache sondern die Folgen seines Verfalles. Also, meine Damen und Herren, um es nochmals zu sagen, es handelt sich bei Jack London um eine anormale, pathologische Erscheinung, die nun und nimmer zur Argumentation gegen den Alkohol benutzt werden sollte, wie es zum Beispiel der hochverehrte Herr Vorredner getan hat. Jack Londons Buch hat in dieser Hinsicht nicht die mindeste Beweiskraft. Das war es, was ich hier feststellen wollte, und so bleibt mir denn nur noch übrig, Ihnen für die Bereitwilligkeit zu danken, mit der Sie meinen Ausführungen zu folgen die Güte hatten.«
Brenner machte drei höfliche Verbeugungen, eine nach rechts, eine nach links und eine nach der Mitte des Saales. Dann verließ er das Podium. Das Publikum in seiner Mehrzahl war über die durchaus konziliante Form, deren sich der Redner befleißigt hatte, derart verblüfft, daß es sich an vereinzelten Äußerungen des Mißfallens, die nun im Saale laut wurden, nicht beteiligte.
»Ein sympathischer junger Mensch«, sagte eine Dame in Lisbeths Nähe, »nur schade, daß es keiner der Unserigen ist.«
Da Rektor Bögehold mit lächelndem Achselzucken auf eine Replik verzichtete und sich auch sonst niemand mehr zu Worte meldete, wurde die Versammlung mit einem Hoch auf die internationale Trockenlegungsbewegung geschlossen.
Der Saal leerte sich langsam.
Im Gedränge gelang es Brenner, sich langsam an Lisbeth heranzupürschen.
»Um Gottes willen! was haben Sie da angerichtet!« flüsterte sie ihm zu.
»Verzeihen Sie, ich konnte nicht anders. Mein Temperament ist eben mit mir durchgegangen. Ich liebe diesen Jack London zu sehr, um ruhig mitanzuhören, wie er zu Propagandazwecken mißdeutet wurde.«
»Wenn mich mein Vater jetzt mit Ihnen reden sähe!«
»Warum haben Sie nichts von sich hören lassen die langen, langen Wochen?«
»Ich habe Besuch, ich hatte keine Zeit. Ich bitte Sie, gehen Sie weiter.«
»Wann sehen wir uns?«
»Ich weiß nicht, gehen Sie doch.«
»Darf ich anklingeln? Wann? Morgen? Übermorgen?«
»Aber so gehen Sie doch!«
Er versuchte ihre Hand zu drücken, die sie ihm entzog.
Dann war sie in der Menge verschwunden.
*
An demselben Tage erwartete die junge Frau Döring, geborene Bögehold, in ihrer netten Mietsvilla in Stuttgart zu Mittag einen Gast. Sie hatte, da die Junisonne es so gut meinte, zum ersten Male draußen auf der offenen Glasveranda decken lassen, die ganz im Grünen lag. Drei Kuverts, für sich, ihren Mann und einen gewissen Herrn von Hartmann.
Hartmann, ein intimer Jugendfreund Dörings und als ehemaliger Fliegerleutnant sein Kamerad im Krieg, war, auf Empfehlung von Irmas Mann, Berliner Vertreter der Icaruswerke. Seit einigen Tagen weilte er in geschäftlichen Angelegenheiten in Stuttgart.
Irma wunderte sich, daß die beiden noch nicht da waren, denn Egon hatte sich für spätestens zwei Uhr zu Tisch angesagt. Er wollte dem Freunde in Gegenwart mehrerer Interessenten auf dem Flugplatz der Icaruswerke ein neues Flugzeugmodell vorführen, an dessen Konstruktion er besonders beteiligt gewesen war. Egon pflegte stets pünktlich zu sein. Es wurde halb drei, es wurde drei – sie kamen nicht. Irma war bereits zu wiederholten Malen an die Gartentür gegangen, um die Straße entlang nach der Richtung zu schauen, aus der die beiden kommen mußten. Endlich, ganz da hinten, wo die Linien der schnurgeraden Baumreihen in einem Punkte zusammenzulaufen schienen, erblickte sie ein Auto. Als es sich mehr und mehr näherte, erkannte sie den kleinen grauen Wagen der Icaruswerke, der ausschließlich zur dienstlichen Verfügung ihres Mannes stand. Sie winkte von weitem lebhaft mit dem Taschentuch, war aber erstaunt, daß der übliche Gegengruß ausblieb, den Egon, sobald er ihrer ansichtig wurde, durch Hochhebung der linken steuerfreien Hand zu geben pflegte.
Der Wagen hielt. Herr von Hartmann saß allein darin. Sein Gesicht war fahl. Langsam entstieg er dem Auto.
»Großer Gott, was ist ...?«
Hartmann faßte ihre Hand und sprach kein Wort.
»Egon? Wo ist Egon?« schrie Irma laut auf.
Hartmanns Lippen krampften sich. Er brachte noch immer keinen Ton hervor.
Sie faßte mit gekrallten Fingern nach seinen Schultern, wie um eine Antwort aus ihm herauszuschütteln.
Die Antwort kam aus ihrem, nicht aus Hartmanns Munde: ein gellender Schrei, der wie das Lachen einer Wahnsinnigen klang: »Er ist tot ... Egon ist tot!«
Hartmann nickte: »Die Maschine mit ihm und dem Piloten abgestürzt ... Gott tröste Sie, arme gnädige Frau!«
Irma hörte nicht mehr, was er weiter sagte.
Hartmann und der herbeieilende Gärtner trugen die Ohnmächtige ins Haus.
*
Als am übernächsten Tage Doktor Brenner mehrmals vergeblich in der Wohnung von Lisbeths Tante nach Fräulein Bögehold telephonisch angefragt hatte, erhielt er endlich den lakonischen Bescheid, die Damen seien plötzlich nach Stuttgart abgereist.
Oskar Siewert hatte Schwester und Nichte zur Bahn begleitet, ihrem Wunsche, mit zu der armen Irma nach Stuttgart zu fahren, jedoch erheblichen Widerstand geleistet. Er kannte sich und das Leben zu gut, um nicht zu wissen, daß seine Anwesenheit in diesen schweren Tagen die Verzweiflung der Unglücklichen nicht mildern würde. Wie groß auch sein Mitleid mit ihr war: mit Worten zu trösten, schien ihm banal. Mitfahrer aber, bloß um ihr zu zeigen, wie hart auch ihn der Schlag getroffen hätte, das hielt er vollends für eine geschmacklose Formalität. Vor allem aber fürchtete er sich vor seinen eigenen Tränen, die niemand zu sehen brauchte. An der Bahn kaufte er eine Anzahl Zeitungen und reichte sie den abreisenden Damen ins Kupee, damit sie sich ein wenig ablenkten und nicht den langen Weg an die furchtbare Sache dächten. In Stuttgart würden sie ohnedies noch genug des Jammers erleben.
Es war um die Mittagszeit, Siewert verließ den Bahnsteig.
Wohin gehen? Nach Hause in seine Junggesellenwohnung, wo die Wirtschafterin mit dem Essen auf ihn wartete? Allein sein in seinen vier Wänden? Nein, das hielt er in dieser Verfassung nicht aus. Menschen mußte er um sich haben, Trubel, Ablenkung.
Er ging, vom Anhalter Bahnhof kommend, über den belebten Potsdamer Platz. Der Lärm der rasselnden Autos, das Gewimmel der hastenden Menschen – das brauchte er. Er bog in die Leipziger Straße ein und sah sich nach längerem zwecklosen Herumschlendern plötzlich in einem großen, um diese Zeit stets überfüllten Restaurant. Daß er in eine Ecke des größeren unteren Saales gedrückt geraume Zeit stehen mußte, bis irgendwo ein Platz für ihn frei wurde, machte ihm nichts aus. Das Gehen und Kommen der Gäste, das Gewirr der Stimmen, das Klappern von Schüsseln und Tellern, das Hin und Her servierender Kellner rissen seine Gedanken weit fort von der sich ihm immer und immer wieder aufdrängenden Vorstellung des jungen blassen händeringenden Weibes, das seiner Schwester Kind war und das er wie ein Vater liebte.
Nun endlich war ein Stuhl frei an einem Tische, wo ein paar Gäste sich sehr laut russisch unterhielten, einer Sprache, von der er kein Wort verstand und die er darum als eines der vielen Geräusche empfand, die ihn wohltuend umgaben. Er bestellte sich eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken. In der spiegelnden Oberfläche des Glasinhaltes sah er sein trübseliges Gesicht. Wie um sich von dem Anblick zu befreien, leerte er das Glas. Als er ausgetrunken hatte, verspürte er mit der behaglichen Wärme, die in sein Blut drang, seelische Erleichterung. Nicht etwa, daß er nun vergaß, was in Stuttgart Entsetzliches geschehen war. Aber er sah es anders, gleichsam aus weiter Entfernung von Raum und Zeit, in einer Perspektive, die seinen Kummer verringerte.
Eine Stunde mochte so vergangen sein. Siewert saß an seinem Tische allein. Er ließ schwarzen Kaffee kommen, zündete sich eine Zigarre an. Dann zog er ein Mittagblatt aus der Tasche, das er vorhin auf dem Bahnhof gekauft hatte. Er überflog die Überschriften der einzelnen Artikel, las hie und da einige Sätze, ohne sie mit dem Bewußtsein zu begleiten. Da fiel sein Blick auf einen längeren Bericht mit dem fettgedruckten Titel: »Ein Geheimagent der amerikanischen Prohibition in Deutschland.«
Gleich die ersten Zeilen fesselten Siewerts Aufmerksamkeit. Je weiter er las, desto größer wurde sein Interesse. Seine Züge spannten sich. Er nahm einen Augenblick den angelaufenen Kneifer von der Nase, putzte ihn mit dem Taschentuch, setzte ihn wieder auf und las weiter. Siewert begann zu schmunzeln, zu lächeln. Alles, was ihn bedrückte, schien plötzlich aus seiner Seele gelöscht.
Der Artikel lautete:
»Dachte ich mir's doch schon damals, daß mit diesem Vocativus irgend etwas nicht in Ordnung sein müßte«, murmelte Siewert vor sich hin. Die Finger seiner Rechten spielten jetzt Klavier auf dem weißen Tischtuch. Sie trommelten den Rhythmus des neuesten Operettenschlagers. Die Sache war spaßhaft. Er lachte laut auf.
So hatten denn der Alkohol und die Prohibition zugleich aus dem noch kurz zuvor tiefbetrübten Onkel Oskar auf einmal einen, wenigstens im Augenblick wieder heiteren Menschen gemacht.
*
Das waren schwere, schwere Tage in Stuttgart gewesen. Nun befand sich Lisbeth wieder in Berlin. Frau Bögehold war einstweilen bei der jungen Witwe in Stuttgart zurückgeblieben.
In der Wohnung am Belle-Alliance-Platz fand Lisbeth ein Schreiben Doktor Brenners vor, der sich ihr Schweigen und den Grund ihrer Abwesenheit nicht hatte erklären können. Aus seinen Zeilen sprach unverkennbare Enttäuschung, obwohl der Schreiber darin einen humorigen Ton anzuschlagen versuchte. Aus der Bitte, ihm so bald wie möglich Nachricht zu geben, wo und wann man sich treffen könnte, klang wenig zuversichtliche Hoffnung auf Erfüllung.
Und in der Tat, Lisbeth hatte während der letzten erschütternden Ereignisse nicht ein einziges Mal an ihn gedacht. Es verging eine Woche, ehe sie die Stimmung fand ihm zu antworten.
Auf diese Weise erfuhr Doktor Brenner, was sich inzwischen Trauriges in der Familie ereignet hatte. In bewegten Worten und mit jener Genauigkeit der Schilderung aller Einzelheiten, womit Frauen bei der Beschreibung erlebten Leides zu verweilen pflegen, beschrieb ihm Lisbeth die Stuttgarter Tage. Reichliche Tränen benetzten das Briefpapier.
Seltsam genug, daß der Empfänger dieser empfindsamen Epistel viel weniger davon gerührt war als die Verfasserin erwartet haben mochte. Ihn beruhigte es vielmehr, daß Lisbeth einen zureichenden, ja einen wirklich triftigen Grund gehabt hatte, so lange nichts von sich hören zu lassen. Freilich, daß sie mit keiner Silbe auf den Wunsch einer Begegnung einging – das wirkte nicht gerade ermutigend. Aber sanguinisch, wie Verliebte nun einmal sind, tröstete sich Brenner damit, daß so etwas wie Taktgefühl das Mädchen davon abgehalten haben dürfte, mit der Nachricht von so viel Leid die Verabredung eines Stelldicheins zu verquicken.
Doktor Brenner fügte sich also in Geduld und ließ eine Respektfrist verstreichen, ehe er sie von neuem um ein Wiedersehen bat. Nach banger Ungewißheit kam Antwort. Eigentlich, so ließ Lisbeth ihn wissen, sei sie noch sehr böse auf ihn wegen damals, als er ihrem guten alten Herrn in öffentlicher Versammlung entgegengetreten wäre. Ob sie das etwa für ein Zeichen seiner freundschaftlichen Gesinnung halten solle? Und was er überhaupt mit der Sache bezweckt hätte? Darüber würde sie nun gern seine Meinung hören und ihm auch die ihrige sagen, und zwar gründlich. Am nächsten Sonntag nachmittag um zwölf Uhr im Tiergarten am Großen Stern.
Dieser Sonntag war ein regnerischer Tag. Doktor Brenner hatte sich ohne Schirm auf den Weg gemacht, denn als er lange vor der verabredeten Stunde seine Wohnung verließ, war gerade die Sonne durchgebrochen, was ihm von guter Vorbedeutung schien. Nun, da er schon wer weiß wie lange vergeblich am Großen Stern wartete, goß es in Strömen. Lisbeth, die mit reichlicher Verspätung eintraf, mit absichtlicher Verspätung, fand ihn im Schutze einer leeren Holzbude, die infolge des Sonntags von den Straßenbauarbeitern unbenutzt stand. Darin hatte er sich verkrochen, aber noch genug vom Wasser abbekommen, das durch viele Ritzen des Daches floß. Glücklicherweise ließ bei Lisbeths Erscheinen der Regen wieder etwas nach. Sie nahm ihn unter ihren kleinen Damenschirm, und beide schlugen den Weg nach dem Rosengarten ein, dichter aneinander gedrängt, als bei früheren Spaziergängen. Auf dem Dache des Schirmes hüpften und tanzten die Tropfen, für Brenners Ohr eine rhythmisch gleichförmige Begleitmusik zum Klang von Lisbeths langentbehrter Stimme. Der Rosengarten war menschenleer wegen des schlechten Wetters. Der junge Mediziner schmiegte sich noch enger an das Mädchen. Beide hatten bis hierher nicht eben bedeutsame Konversation miteinander gehabt. Da erinnerte sich Lisbeth, daß sie gekommen war, ihm die Leviten zu lesen. Das tat sie nun in ausgiebiger Weise.
»Ich konnte mir nicht helfen, Fräulein Lisbeth,« entschuldigte er sich. »Wie gesagt, ich war einzig gekommen, um Sie zu sehen. Aber als Ihr Herr Vater dann dieses schwächste und unlogischste aller Bücher Jack Londons für die allein seligmachende Abstinenz in Anspruch nahm, mußte ich ihm in die Parade fahren. Ich wäre umgekommen, wenn ich es nicht getan hätte.«
Sie schüttelte den Kopf: »Töricht, sehr töricht haben Sie gehandelt, lieber Doktor. Sie mußten sich doch denken, daß Sie sich ihn damit zum Feinde machten, wo Sie als Sohn eines Brauereibesitzers ohnedies nicht auf großes Entgegenkommen rechnen konnten.«
In Doktor Brenner jubelte es. Das war ungewollt von neuem das Eingeständnis, wieviel ihr daran lag, daß der Vater ihm günstig gesinnt wäre. Wieder hatte Lisbeth deutlich verraten, daß sie Brenner gern hatte, mehr noch als das: daß sie von einer Zukunft an seiner Seite träumte.
Er nahm ihr sanft den Schirm aus der Hand, klappte ihn zu und zog sie an seine Brust.
In demselben Moment trat wieder die Sonne durch die Wolken. Auf den Rasenflächen, an den Blättern der Bäume, auf den Steinen des Weges funkelten wie lauter Edelsteine die bunten Wasserkügelchen.
Lisbeth wußte nicht, wie ihr geschah. Mit einem Male umschlang sie seinen Hals so stürmisch, daß ihm dabei der Hut vom Kopfe fiel. Errötend bückte sie sich und hob den Hut auf.
»Mein Gott,« stammelte sie, »das ist ja plötzlich eine richtige Liebesgeschichte zwischen uns. Daß es so schnell gehen würde, hätte ich nicht gedacht ... Nein, und was bin ich doch für ein herzloses Geschöpf: wir küssen uns hier, und in Stuttgart, zur selben Stunde weint meine Kusine sich die Augen aus dem Kopfe.«
Brenner zog sie von neuem an sich. Doch Lisbeth entwand sich ihm rasch; sie hatte etwas rascheln gehört im Laub.
Ein Gartenarbeiter kam vom Rosenhain her. Er zwinkerte mit den Augen, nickte verständnisinnig und sagte: »Ja, ja, es ist wieder mal Frühling geworden. Geniert euch nicht, Kinder.«
Und fort war er.
»Lisbeth ... meine Lisbeth, meine gute, gute Liesel!« jauchzte Brenner.
»Meinen Sie es denn wirklich ernst?«
»Kolossal ernst. Du sollst du sagen! Sag einmal du zu mir, Liesel.«
»Meinst du es wirklich ernst?«
»Ja, ja, ja–a!« Und jedes Ja bekräftigte er mit einem Kuß.
»Dann wären wir also so gut wie verlobt?«
»So gut wie verlobt.«
»Jesses, wie bring ich das bloß meinem Vater bei?«
Brenner beruhigte sie lachend. Er war sich nicht einen Augenblick darüber im Zweifel, daß die Liebe zweier Menschenkinder stärker sein würde als der stärkste Widerstand eines Vaters.