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II.

Die Glocken der Berliner Lutherkirche läuteten zu einem Grabe.

Draußen auf dem Friedhof der Belle-Alliance-Straße bettete man den Fabrikbesitzer Robert Bögehold zur letzten Ruhe.

Ein seltenes Ereignis, wenn dieser, von dem Häusermeer der unheimlich wachsenden Reichshauptstadt längst umschlungene, von dem Lärm der elektrischen Bahnen, der rasselnden, ratternden Automobile, der rollenden Lastwagen und dem Geschrei des Lebens pietätlos umbrandete Gottesacker einem neuen Toten sich erschloß. Nur Leichen mit verbrieftem Anrecht auf die wenigen noch offenen Familiengrüfte wurde solches Privileg zuteil, denn Tausende von geschmückten und verwahrlosten Hügeln bedeckten schon den Ort und ließen hier nicht Raum mehr den täglich heimkehrenden Parochianen, die zu empfangen außerhalb der Stadt ein großer weiter Zentralfriedhof sich längst eröffnet hatte.

Weil nun eine Beerdigung an dieser Stelle zu den Ausnahmen gehörte, deshalb standen heute trotz der grimmen Kälte die Leute neugierig vor dem offenen schmiedeeisernen Tor und schauten auf die Leidtragenden, die den Privatautos und Taxametern mit Kränzen und Palmen in den Händen entstiegen. Sie lauschten der Trauerweise, die von der Gruft her durch das nackte Geäst der von winterlichem Rauhreif bedeckten Bäume und über die marmornen Steine hinweg nach der Straße drang. Für die Reichswehr der gegenüberliegenden Kaserne war es beinahe ein Fest. Sie rissen die zahlreichen Fenster auf und lehnten sich Schulter an Schulter, so viel ihrer Raum hatten in einer Öffnung, mit frischen jungen Gesichtern über die Brüstungen, indem sie sich um die besten Plätze balgten.

Unter den Trauernden in der Kirchhofshalle befand sich einer, der, gelangweilt von der eintönigen, phrasenreichen Wortfülle der Leichenrede, nicht umhin konnte, in dieser ernsten Stunde durch die liebe Gewohnheit behaglichen Reflektierens sich ein wenig die Zeit zu verkürzen.

Dieser eine hieß Oskar Siewert und war der Bruder von Frau Bögehold, der Witwe des Verstorbenen.

Schon durch seine Haltung schien der Mann gegen die offizielle Feierlichkeit der Umgebung zu protestieren. Durch seine gutmütig die Versammlung musternden Blicke, durch ein diskretes Gähnen, das trotz geschlossenem Munde an den zeitweilig sich erweiternden Nasenflügeln sich bemerkbar machte.

Er war ein Fünfziger, mittelgroß, mit ein wenig Embonpoint. Das Gesicht über den breiten kräftigen Schultern verriet Gesundheit und einen Rest, hier angesichts des Todes verhaltener Lebensfreude. Seine großen Augen blickten überraschend klug in die Welt.

Oskar Siewert ging es allenthalben so, daß er für Feierlichkeiten nie weniger Sinn hatte, als wenn sie ihn, wo auch immer, in offizieller Form umgaben.

Was der Geistliche am Sarge sprach und wie er sprach, hätte ihm jede weihevolle Stimmung zerstört, wenn er überhaupt hierher welche mitgebracht hätte. Nicht, als ob der Verstorbene ihm gleichgültig gewesen wäre, da er noch unter den Lebenden weilte. Im Gegenteil, die beiden Schwäger hatten durch zwanzig Jahre in freundschaftlichem Verkehr gestanden, und eine Lücke war durch Robert Bögeholds Heimgang auch in Siewerts Dasein gerissen.

Aber wie er nun einmal die Situation hier empfand, konnte bei ihm rechte Trauer nicht aufkommen. Schon die Vorstellung, daß der pathetische Redner da vor dem Sarge bei der Herfahrt verstohlen hinter den Falten des schwarzen Talars vielleicht eine Schinkenstulle gegessen, eine Prise Schnupftabak genommen, oder eine triviale Zeitungsnotiz gelesen haben mochte, vermochte Oskar Siewert aus der Trauerstimmung zu reißen. Wie oft an solcher Stätte mochte der Geistliche sie schon von Stapel gelassen haben, die nämlichen großen Worte mit der nämlichen großen Leere? Wie oft schon mochte er das Himmelreich verschenkt haben an die im Sarge zu seinen Füßen, während ihm die Gedanken wer weiß wie fest am Erdendasein klebten?

Und zum Überfluß hieß er sogar noch Fiedebirn, der Geistliche!

Siewert empfand den Namen als ungemein komisch, weil dieser Name im Kontrast zu der rhetorischen Art und zu dem schweren Baßton des Redners so schrill und so piepsig klang wie der entgleiste Bogenstrich auf der E-Saite einer Geige.

Auch beachtete er, daß der Geistliche mitten im schönsten Schwunge von Zeit zu Zeit unter den Lidern des zur Decke der Leichenhalle erhobenen Hauptes in die Trauerversammlung hineinlugte, um den Eindruck seiner Predigt von den Gesichtern der Leidtragenden abzulesen.

»Ganz recht hat er!« dachte Siewert, »ganz recht. Gesetzt, ich wäre an seiner Stelle, so würde es mich ebenfalls interessieren zu erfahren, ob ich die Leute da unten weinen mache. Wäre das dem Herrn Fiedebirn egal, so müßte ich ihn für einen ruchlosen Zyniker erklären, während er doch allem Anschein nach seiner Herde ein sehr ehrenwerter Hirte ist, der nicht ohne Grund die Schätzung und das Vertrauen der Gemeinde genießt. Gesetzt aber, ich wäre wirklich an seiner Stelle – bei Gott, kürzer würde ich es machen, viel kürzer!«

Indessen, es war ein Begräbnis erster Klasse! Also hieß es sich fügen in das Unvermeidliche.

Und Siewert fügte sich, geduldig frierend, indem er aus seinen großen guten Augen mit menschenfreundlicher Teilnahme auf die Verwandten blickte.

Da saßen sie nun in der ersten Reihe der Trauernden, die Schwester und die Schwestertochter und schluchzten, umhüllt von schwarzen Schleiern und konnten sich nicht beruhigen, wie sehr auch Gustav Kolberg, der Kompagnon des Verstorbenen, um die Witwe und der Ingenieur Eugen Döring um deren Tochter, die seine Braut war, sich bemühten.

»Schwester, Mädel!« hätte Siewert am liebsten den beiden Frauen zurufen mögen. »Hört mich an: Wenn einer fortgeht, glaubt mir's doch, er ist nicht zu bedauern. Was ihr an Schmerz empfinden mögt trotz dieser Leichenrede, denkt nur daran, daß man nie den Toten beweint, sondern immer bloß sich selber. Dem Toten tut ja kein Bein mehr weh, noch ein Zahn. Müßt ihr weinen, gut, so weint und erleichtert euch, aber stellt euch doch die Sache nicht so vor, als ob aus seinen erloschenen Augen der im Sarge etwa sehnsüchtig zurückschaute nach jenen, die er verließ, als ob er mit den kalten, starren Armen wehmütig zurückgriffe nach euch, die er nicht mehr sieht, noch denkt, noch fühlt. Was ihr ihm gewesen seid, das war't ihr ihm, da er noch atmete; jetzt seid ihr ihm nichts mehr. Ist es euch aber bewußt, daß eure Tränen nur euch selber fließen, so sei es; sie werden noch zeitig genug versiegen. Denn, wenn das Schicksal an die Türen der Sterblichen pocht und ihnen das Liebste entreißt, das sie auf Erden besitzen, so bleibt ihnen allemal etwas Lieberes, Teureres zurück, ihr eigenes Ich. Der Tote hinterläßt Lebende; ihr Denken und Fühlen ist auch nicht einen Augenblick abzustellen gleich einem Räderwerk, von dem Treiben, von den Wünschen, Ängsten und Hoffnungen, womit der Wille zu leben sie umklammert.

An ganz trivialen Beispielen ließ sich das erweisen, so an der Entrüstung der Witwe, als ihr die Schneiderin die Trauerkleider ins Haus brachte und als diese Kleider sich um zwei Zentimeter länger erwiesen, als es jetzt die Mode vorschrieb. Und als Gottfried Bögehold, der Bruder des Toten, den er mit Frau und Tochter gestern abend im Auto von der Bahn abholte und der in zweifellos echtem Schmerz sich nach Bruder Roberts letzten Stunden und Kämpfen erkundigend, dennoch mitten unter Seufzern seinen höchst irdischen Unmut nicht hatte unterdrücken können darüber, daß in den letzten Jahren, da er nicht in Berlin gewesen wäre, wieder so und so viele neue Restaurants in den Straßen, die sie durchfuhren, entstanden wären.

*

... Als einzige Verwandte, ja überhaupt als einziger Mensch im Trauerhause der Familie war eine alte Dame zurückgeblieben, die Tante Christine. Ihr, die erst kürzlich von einer schweren Lungenentzündung genesen war, hatte der Arzt die Teilnahme an der Beerdigung streng untersagt. Sie hatte sich widerstrebend gefügt, es sich aber doch nicht nehmen lassen, von ihrer Pension am Nollendorfplatz herüberzukommen, um am Stelle der Hausfrau zu sorgen und zu schaffen, damit die anderen, wenn sie vom Begräbnis zurückkämen, wenigstens eine Tasse heißen Kaffees vorfänden, denn auch Marie, die Köchin, hatte sich hinaus nach dem Friedhof begeben.

Was so in der Seele einer siebenzigjährigen Jungfer vorgeht, die sich seit länger als einem Menschenalter einsam, unnütz und überflüssig in der Welt gefühlt hat und nun unter solchen Umständen vorübergehend zu einer ihr höchst wichtig erscheinenden Aufgabe berufen wird. Mitten in dem Schmerz um ihren guten Neffen erwachte in Tante Christine, während sie mit Tellern und Tassen im Speisezimmer herumhantierte, das stolze Bewußtsein: sie brauchen mich, die Hinterbliebenen, und nun wirst du ihnen einmal zeigen, daß du im Unglück die einzige bist, die den Kopf oben behält.

Schon vorher hatte sie heimlich beim Konditor einen großen Napfkuchen bestellt und eine Schüssel mit Schlagsahne. Sie legte mit geschäftigen, zitternden Händen ein großes Tischtuch auf. Sie bereitete den Kaffeetisch so gut, aber mindestens so gut wie eine richtige Hausfrau. Dabei verfügte sie bereits, in welcher Reihenfolge die anderen nachher sitzen sollten, indem sie mit dem Zeigefinger an jede einzelne Tasse tippte und leise den entsprechenden Namen vor sich hinmurmelte. Vor dem Stuhle, der leer bleiben würde und der auch schon während des Krankenlagers des Hausherrn bei den Mahlzeiten leer geblieben war, hatte sie die Tasse des Verstorbenen hingestellt, um in ihrer Art einen Akt der Pietät zu vollziehen. Eine Krume, die sie kostend aus der inneren Höhlung des Napfkuchens abgezwickt hatte, fiel jetzt in die Tasse des Toten. Tante Christine schüttete das Brinkelchen aus der Tasse in die flache Hand und aus der flachen Hand ließ sie es in den geöffneten Mund gleiten. Dann blieb sie kauend und sinnend stehen, unbeschäftigt eine Weile, und gedachte des Toten.

Jetzt drehte sich ein Schlüssel in der Küchentür. Marie, die Köchin, kehrte als erste von dem Begräbnis zurück. Sie war nicht eben erbaut davon, daß eine andere hier in der Küche schaltete, wo ihre Launen seit nahezu zehn Jahren selbst von der Frau und der Tochter des Hauses respektiert wurden.

Tante Christine sah das unwirsche Gesicht der Heimkehrenden und, sich gleichsam entschuldigend, sagte sie:

»Ich wollte nur mal wegen der Schlagsahne, Marie ... und dann wird man wohl auch das Kaffeewasser zusetzen müssen ...«

»Schon gut, Fräulein Christine ... lassen Sie nur. Ich weiß schon, was ich zu tun habe.«

Christine schickte sich an, die Küche zu verlassen.

Daß die Aufforderung so wörtlich genommen würde, lag nun allerdings nicht in der Absicht der Köchin, die rasch ihre Jacke abtat und sich sofort an die Arbeit machte. Sie hatte, während sie einen großen Topf mit Wasser auf den Gasherd stellte, das Bedürfnis zu erzählen und gehört zu werden.

»Nee, war das eine schöne Leiche ...! eine wirklich, aber wirklich eine schöne Leiche, Fräulein Christine – und die Predigt und die Masse Menschen und Kränze! Scheener konnte der Herr sich sein Begräbnis nicht wünschen.«

»Ist denn schon alles zu Ende?« fragte, auf der Schwelle sich umdrehend, die andere.

»Noch nicht, Fräulein Christine, jetzt kommt erst noch ein Chloral vom Turnverein Vorwärts, wo doch der Selige Ehrenmitglied ist gewesen. Und dann noch mal Musike ... Ach, ik wär für mein Leben gern noch dageblieben.«

Christine seufzte leise: »Nicht einmal die letzte Ehre durft ich ihm erweisen. Mußte hier mutterseelenallein Grillen fangen. Wie ich jetzt hier für mich war, hab ich mir so gedacht: du wirst gewiß die Nächste sein, die dran glauben muß aus der Familie.«

»Sein Sie zufrieden, daß Sie nicht mit waren, Fräulein Christine, den Tod hätten Sie sich geholt. Eine Kälte ... eine Hundekälte, sag ich Ihn', da draußen auf dem Kirchhof. Dem Trompeter sind die Töne fast gefroren und ein großer Eiszapfen hing an der Posaune runter.«

Christine kam vertraulich näher, dicht an die Köchin heran, die sich an der Gasflamme die starren, roten Hände wärmte.

»Glauben Sie, Marie, daß ich die Nächste sein werde in der Familie?«

Jene zuckte die Achseln:

»Das ist schon möglich, Fräulein Christine.«

Von solcher Antwort war die alte Dame sichtbar unangenehm berührt. Wie sehr sie es auch liebte, selbst von ihrem Tode zu reden, so peinlich war es ihr, wenn andere daran auch nur zu denken wagten. Sie bedauerte, sich mit der dummen Person überhaupt in ein Gespräch eingelassen zu haben und wandte sich jäh von ihr ab. Doch abermals auf der Schwelle machte sie halt, denn Marie schien eifrig bemüht, in Güte einzulenken:

»Das heißt, Fräulein Christine, behaupten kann man ja das zwar nich. Wen's halt trifft, das nächste Mal. Der Sensenmann mäht mal Junge, mal Alte. Wie's ihm gerade einfällt, Fräulein Christine.«

»Eben, Marie! ich dachte auch, nach den Jahren geht's nicht immer. Ich für meine Person mache mir gar nichts draus. Aber Sie wissen ja, drüben vom Tischler die Großmutter ist jetzt neunzig geworden und immer krank gewesen und hat doch Kinder und Kindeskinder sterben gesehen.«

»Ja, wahrhaftig! die hat der liebe Gott auch vergessen.«

»Auch? wen hat er denn noch vergessen?«

»Ich meine bloß so; Sie, Fräulein Christine, mit Ihren siebzig ... hä, das ist doch noch gar kein Alter, du lieber Himmel, ich bin noch heute in den besten Jahren, na, und in fünfunddreißig Jahren werde ich halt auch schon siebzig.«

»Daß Sie mein Bettzeug kriegen, wenn ich mal ... das wissen Sie doch, Marie?«

»Ja, Fräulein Christine, versprochen haben Sie es mir wohl, aber ... hm ... der Gärtnersfrau haben Sie es auch versprochen, allen versprechen Sie die Betten. Ich bin wirklich neugierig, wem daß Sie Wort halten werden.«

»Wenn mich der liebe Gott früher als Sie und Sie sind sonst immer fleißig und brav, dann kriegen Sie mein Bettzeug, hier meine Hand darauf!«

Die Köchin ergriff freudig die ihr dargebotene Rechte.

»Da würde ich mich auch erkenntlich zeigen mit 'nem Kranz oder mit 'nem Lorbeerzweig oder so was«, erwiderte sie warm.

Tante Christine seufzte tief:

»Man begräbt alle seine Lieben. Man fährt jahraus jahrein zum Kirchhof, bis man selber nicht mehr zurückkommt.«

»Wenn ich wäre wie Sie, Fräulein Christine, ich tät beizeiten meinen letzten Willen machen über meine Sachen und tät meine Bestimmung treffen, daß nur Pastor Fiedebirn dürfte die Grabrede halten. Der Mann hat so eine freundliche Art, die Seelen in den Himmel einzuführen, er redt's dem lieben Gott förmlich ein, daß man schon bei Lebzeiten ein Engel ist gewesen. Na, wie gesagt, der selige Herr kann sich nicht beklagen über sein Begräbnis ... Jesses, da ist ja gar Schlacksahne, Fräulein Christine?«

In dem Gesicht der alten Dame strahlte etwas wie Genugtuung.

»Jawohl, Schlagsahne!« sagte sie triumphierend. »Und draußen steht ein Napfkuchen, den hab ich auch besorgt.«

»Ich glaube immer, Fräulein Christine, Sie ...« hier stockte die Köchin plötzlich.

»Na, Marie, immer raus mit der Sprache ... was wollten Sie denn sagen?«

»Ich getraue mir's nicht recht, ich ... aber Sie dürfen's mir nich übelnehmen – ich wollte sagen, Sie haben sich gewiß ein hübsches Sümmchen erübrigt mit den Jahren?«

Keine Miene der alten Dame verriet den Unwillen über diese plumpe Vertraulichkeit. Sie ärgerte sich, daß ein Dienstbote ihr so familiär zu reden wagte, im Grunde war's ihr nicht unangenehm, daß man ihr einiges Geld zutraute. Sie nickte und ging ins Zimmer. Da rief es hinter ihr her:

»Vergessen Sie nicht an das Bettzeug, Fräulein Christine!«

Hinter der Tür ballte sich die magere blau geäderte Hand der Greisin zur Faust:

»Na, wart!« murmelte sie, »nichts kriegst du! nicht eine Feder!«

*

Trotzdem man die Blumenspenden schon am Morgen nach der Familiengruft hingeschafft hatte, lag jetzt noch am Nachmittag über der ganzen Bögeholdschen Wohnung jener eigenartige Duft von Kränzen und Tannengrün, vermischt mit einem dumpfen Geruch wie von feuchtem Moos.

Marie, die durchs Küchenfenster die Leidtragenden vom Kirchhof zurückkehren sah, goß rasch in den siedenden Topf mit Wasser das braune Kaffeemehl. Das tanzte einige Sekunden auf der brodelnden Flüssigkeit, zuckte auf und sandte in die Luft dicke Dampfwolken. Ein wundervolles Aroma drang durch die Zimmer, vermengte sich mit dem Odem der Lilien und Narzissen, der Tuberosen und des Nadellaubes.

Leise, auf den Zehenspitzen, traten die Ankommenden aus der eisigen Winterluft in das warme wohlige Speisezimmer ein. Aus der Nachmittagsdämmerung winkt ihnen einladend der weißgedeckte Eßtisch entgegen. Christine begrüßt alle mit einem stummen Händedruck.

Die Witwe, eine blonde, noch sehr stattliche Frau von etwa vierzig Jahren, sog tiefatmend den nervenbelebenden Dunst des Kaffees ein, um gleich darauf, als schämte sie sich dieser kräftigen Lebensäußerung, mit einem leisen Seufzer zu hauchen:

»Das war ein schwerer, schwerer Gang, Tante Christine.«

»Ja,« nickte Gustav Kolberg, indem er sich die angelaufene Brille mit dem Taschentuch abwischte, und mit kurzsichtigen, zwinkernden Augen den Weg zum Tische suchte.

»Aber das Schlimmste haben wir nun gottlob hinter uns.«

Frau Luise Bögehold schüttelte müde den Kopf:

»Ich werde den schrecklichen, den entsetzlichen Gedanken nicht los, daß mein armer Robert in der kalten Winternacht so allein liegen soll unter der schwarzen Erde.«

Der Kompagnon, wie um diese finstere Vorstellung zu verscheuchen, knipste über dem Eßtisch das elektrische Licht an.

Christine legte die Hand vor die geblendeten Augen und auf die getroffenen Vorbereitungen deutend, sagte sie:

»Ich habe Roberts Tasse auch mit hingestellt zum Zeichen, daß er mitten unter uns ist in unserem Geiste.«

»Du treue Seele!« flüsterte die Witwe und drückte ihr warm die Hand. Kolberg riet dringend, die Tasse beiseite zu stellen. Luise trug sie zur Kredenz zurück.

»Mein Gott, er wird nie wieder draus trinken!« seufzte sie.

»Der Kaffee wird kalt werden!« meinte Tante Christine.

»Wenn ich zurückdenke, ob man es an irgend etwas hat fehlen lassen in der Pflege oder in der Geduld oder sonst wie,« klagte Luise.

»Wie können Sie nur so reden, Frau Luise,« tröstete Gustav Kolberg, »Sie haben Ihren Mann gepflegt mit einer Aufopferung, mit einer Pflichttreue, mit ... was Sie getan haben, das tut so bald keine Frau.«

»Er war aber manchmal so ungeduldig in der letzten Zeit,« schluchzte sie. »Ich könnte mir die bittersten Vorwürfe machen, denn ich war vielleicht nicht immer so, wie ich hätte sein sollen. Aber das können Sie mir glauben, Herr Kolberg: mein Robert und ich, wenn wir uns auch mitunter nicht so recht verstanden haben in unserer Ehe – ich habe in der langen Krankheit getan, was in meinen Kräften stand. Seit vielen Wochen habe ich kein Auge zugemacht! Keine ruhige Stunde hatte ich von dem Tage an, wo er sich hinlegte.« Überwältigt vom Mitleid mit sich selber brach sie in lautes Weinen aus.

Kolberg bat, beschwor sie, daß sie nicht fortwährend in der eigenen Wunde herumwühlen sollte, aber es dauerte einige Zeit, bis es ihm gelang, sie einigermaßen zu beruhigen.

»Es wird wohl eine Zeit kommen, Frau Luise, wo Sie wieder an anderes denken werden als an Ihren Toten.« Die Witwe schüttelte energisch den Kopf. Sie vertrug es nicht, davon reden zu hören.

Christine, immer einladend auf die dickbauchige Kaffeekanne zeigend, beeilte sich, Herrn Kolberg beizupflichten:

»Eher, als du selbst glaubst, wird die Zeit kommen; ich habe es zu oft mitgemacht. Ich habe Leidtragende gesehen, die sich überhaupt wie wahnsinnig gebärdeten, ich habe Männer gesehen, die wollten sich in das offene Grab der Frau stürzen und umgekehrt. Und kaum war das Trauerjahr vorüber, da ...«

»O, sei still!« bat Luise mit gefalteten Händen.

»Ach,« meinte die Tante, »ich will dir ja deinen schönen Schmerz nicht schmälern, ich ehre deine Trauer, aber wenn ich mal die Augen zudrücke, ich für meine Person, ich mache mir keine Illusionen. Leben und Tod – Tod und Leben. Ich kenne das!«

Kolberg zog die Stirn in Falten und bedeutete der Sprecherin mit einem Blick, sie möge dieses Thema endlich fallen lassen. Indessen die alte Dame verstand ihn nicht oder wollte ihn nicht verstehen; sie fuhr unbeirrt in ihren düsternen Betrachtungen fort. Da unterbrach er sie ungeduldig:

»Und wenn Frau Luise wieder Freude am Leben finden sollte und wenn sie das Lachen später wiederfinden lernte?«

»Macht und trinkt endlich euren Kaffee ... und Sie auch, Herr Rektor Bögehold, und Sie auch, Frau Rektor, und Sie auch, Fräulein Lisbeth ... Nun, und ihr beiden?«

Diese letzte Frage galt dem Brautpaar. Egon Döring und Irma hatten im Erker gestanden, ohne daß die anderen ihnen besondere Aufmerksamkeit schenkten. Das schöne Mädchen, blaß und abgespannt von den Aufregungen der letzten Tage, hatte die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe gepreßt und traumverloren in die zerfetzten und zerrissenen Wolken geschaut, die mit rasender Geschwindigkeit über den dunkelnden Dezemberhimmel jagten. Neben ihr der Ingenieur redete leise, hastig auf sie ein, ein Bittender, wie es schien, dem keine Antwort zuteil wurde.

Es hatte sich nämlich vorhin, als man vom Kirchhof zurückkehrte, im Vorzimmer beim Ablegen der Garderobe eine Szene abgespielt. Der aus Stuttgart herbeigeeilte Bräutigam hatte Irma, da er sich nach längerer Trennung mit ihr endlich allein sah, plötzlich mit stürmischen Armen umfaßt und heiße, langverhaltene Küsse ihr auf Mund, Augen und Hals gedrückt, Küsse, die sie bebend erwidert hatte bei kaum geschlossenem Grabe des Vaters. Und als sie gleich darauf zur Besinnung kam und sich seiner zu erwehren suchte, hatte er sie nur fester an sich gepreßt, dann aber sie freigegeben mit stammelnden Worten der Entschuldigung, weil ihre Tränen seine Wangen benetzten. Ein Zucken ihrer Mundwinkel, ein jähes Blitzen ihrer streng und starr auf ihn gerichteten Augen, eine stolze Härte, die sich über ihr Gesicht legte, verrieten, daß sie in tiefster Seele sich gekränkt fühlte. Sie beherrschte sich und ließ die anderen nichts merken. Einen Moment verschwand sie in ihr Zimmer, kühlte sich dort die Augen mit Wasser und kam dann still, sanft, traurig wieder, wie sie es die letzten Tage nach dem Tode des Vaters gewesen war.

Christine fühlte sich ganz als Wirtin, ließ die weitbäuchige Kanne der Reihe nach wandern, besorgt, daß auch ja niemand bezüglich des Kuchens und der Schlagsahne zu kurz käme.

»Nimm doch ein Stück von dem Napfkuchen, Irma,« sagte die Tante.

Irma wehrte leicht mit der Hand.

»Ein kleines Stückchen nur,« bat auch Frau Bögehold. »Du hast ja zu Mittag nicht einen Bissen gegessen.«

Irma schüttelte wehmütig den Kopf, tat aber Egon von den Süßigkeiten auf, zum Zeichen, daß sie jetzt nicht mehr zürnte.

Die Witwe duldete, daß ihr Schwager Bögehold eine große Scheibe von dem Kuchen für sie herunterschnitt.

»Ich habe Appetit,« flüsterte sie ihm ins Ohr, »ich schäme mich fast, es einzugestehen: einen wahren Heißhunger habe ich.«

»Was nützt das alles?« erwiderte der mit vollen Backen kauend, »der Körper verlangt eben sein Recht. Auch bei mir ist's seit Tagen der erste Bissen, der mir wieder schmeckt. Denn du mußt wissen, liebe Luise: abgesehen von dem Schmerz über den Heimgang unseres guten Robert – ich habe in den letzten Wochen daheim in S. sehr viel Enttäuschungen und Aufregungen erlebt.«

Und nun fing Rektor Bögehold an des langen und breiten von den Ereignissen seiner Kleinstadt zu erzählen, von dem Schülerbergfest in S., von seinem Bierverbot, von dessen Übertretung und von den Anfeindungen durch die Bürgerschaft, denen er seitdem fortwährend ausgesetzt war, obwohl er doch nur das Beste der Zöglinge und der Bürgerschaft wollte.

Die Witwe hörte zerstreut und ohne rechtes Verständnis zu. Sie begriff nicht Ursache und Wirkung des Konfliktes. Die Sache kam der Großstädterin unglaublich spießig vor. Die Rektorin und Lisbeth saßen wie auf Nadeln. Sie waren froh gewesen, ein paar Stunden der kleinlichen Atmosphäre von S. entrückt zu sein, trotz des traurigen Anlasses, der sie nach Berlin geführt hatte. Sie suchten den Rektor auf ein anderes Thema abzulenken, doch er schien ihre Absicht nicht zu merken. Eben war er dabei, der Schwägerin seine grundsätzliche Kampfstellung zu erklären. Da trat Oskar Siewert ins Zimmer. Er brachte einen Geruch von frischer Luft und Kälte mit, rieb sich die erstarrten Hände, setzte sich an den Tisch und sog behaglich den Duft von Kaffee und Kuchen ein. Tante Christine ließ es sich nicht nehmen, ihm mit ihren zitternden Händen die Tasse zu füllen. Er nahm einige Schluck und sagte dann in dem burschikosen Tone, der seine Art war:

»Offen gestanden, ein steifer Grog wäre mir im Augenblick lieber.«

Bögehold riß die Augen weit auf. Sie starrten durch die konkave Brille übernatürlich groß. Er sah sich rings unter den Anwesenden um. Aber keiner außer ihm schien Anstoß an dem frevelhaften Wunsche des Neuangekommenen zu nehmen. Er richtete einen vielsagenden Blick auf Frau und Tochter, gewissermaßen, um auch sie zu stummem Proteste aufzufordern.

Die aber senkten die Köpfe, um nicht zu verraten, was sie dachten. Sie dachten eben, es wäre am Ende nichts Schlimmes dabei, wenn ein alter Herr, der halberfroren vom Kirchhof zurückkehrte, einen heißen Grog begehrte, wie andere heißen Kaffee und Kuchen.

Als nun die Köchin den Trunk hereinbrachte, der mit seinem Aroma den Raum erfüllte, da hätten am liebsten alle anderen das gleiche Verlangen geäußert – alle anderen, außer Bögehold.

*

Seitdem Lisbeth mit den Eltern von der Beerdigung nach S. zurückgekehrt war, hatte sie unablässig dem Rektor mit der Bitte im Ohr gelegen, sie nach Berlin gehen und dort einen Beruf lernen zu lassen. Von der Mutter unterstützt, hatte das Mädchen endlich des Vaters Zusage erhalten, der sich auf die Dauer der Einsicht nicht verschließen konnte, daß es für die Zukunft seiner Tochter ersprießlich wäre, wenn die sich in der Hauptstadt eine der vielen Möglichkeiten für ihr späteres Fortkommen suchte, anstatt in dem kleinen S. auf eine unbestimmte Zukunft zu warten, zumal da die gesellschaftliche Isolierung der Rektorfamilie immer weitere Fortschritte machte. Vielleicht hätte Bögehold im letzten Augenblick noch Widerstand gezeigt, wenn seine Schwägerin Luise Lisbeth nicht dringend für sich reklamiert haben würde.

Im Trauerhause gab es allerhand zu tun. Nachdem die ersten Monate des schwersten Leides vorüber waren, wurde nämlich von neuem mit den unterbrochenen Vorbereitungen zu Irmas Hochzeit begonnen. Die Hochzeit sollte so bald wie möglich in aller Stille und im engsten Familienkreise stattfinden. Irmas Bräutigam hatte bereits im Weichbilde von Stuttgart, wo sich die Flugwerke Ikarus befanden, in denen er eine leitende Stellung innehatte, für das künftige Paar eine hübsche kleine Villa gemietet. Bald also würde Irmas Mutter allein sein und um so mehr eines liebenden Wesens um sich bedürfen.

Lisbeth also kam. Die beiden Kusinen verstanden sich ausgezeichnet. Gegensätze der Temperamente und Lebensgewohnheiten bildeten zwischen ihnen keine Reibungsflächen, wie das wohl möglich gewesen wäre. Irma, von Natur etwas schwerblütig, zur Melancholie neigend, grüblerisch und kompliziert, Lisbeth von heiterer Gemütsart und unproblematischem Wesen. Die in Wohlhabenheit aufgewachsene Weltstädterin und die bescheiden erzogene Kleinstädterin ergänzten sich sogar in vieler Hinsicht, zumal da der Wille zu einem herzlichen Einvernehmen auf beiden Teilen vorhanden war. Lisbeth, welche Lehrkurse im Letteverein besuchte, war viele Stunden des Tages von der Wohnung am Belle-Alliance-Platz abwesend.

Das wirbelnde Leben Berlins, die Fülle der neuen Eindrücke, die ihr das bloße Straßenbild auf dem Hin- und Rückwege nach und von der Unterrichtsstätte vermittelte, erfüllte ihre junge empfängliche Seele mit täglich neuen Gesichten. Irma freute sich der Natürlichkeit und Frische ihrer Kusine, während Lisbeth neidlos die Sicherheit der anderen, ihr überlegenes Urteil und die Gepflegtheit ihres Körpers bewunderte. In nichts sind Frauen gelehriger als in der Aneignung jener äußeren Kultur, die so viel zur Mehrung ihrer Anmut beiträgt. Daher dauerte es nicht lange, bis die Rektorstochter aus S. dieselbe Sorgfalt auf die Behandlung ihrer Hände und Fingernägel, ihrer Haut und ihres immer noch ungeschnittenen langen Blondhaares legte. Eines Tages brachte sie diesen herrlichen Schmuck der Mode zum Opfer. Es tat Lisbeth eigentlich ein wenig leid, sich von dem Reichtum dieser goldenen Pracht zu trennen, die, aufgelöst, ihr bis an die Hüften reichte. Was der Vater dazu sagen mochte, wenn er sie nun sähe, das wagte sie gar nicht auszudenken. Sie kam sich mit dem vom Friseur sehr sorgsam behandelten Kurzhaar durchaus verändert, fast knabenhaft vor und meinte, ihr Ebenbild im Spiegel müßte nun auf einmal zu allerhand Jungenstreichen aufgelegt sein. Die Kusine schenkte ihr von ihren eleganten Kleidern, die ja bis zum Ende der Trauer ohnedies unmodern geworden sein würden. Und da nun zu solchen Kleidern auch andere Wäsche gehörte, als Lisbeth sie zu tragen gewohnt war, stattete sie Irma auch damit aus. Der machte die Metamorphose der Kleinstädterin offenbar Vergnügen. Es war von Irma vielleicht etwas unüberlegt gehandelt, das Mädchen derartig zu verwöhnen und ihre Ansprüche ans Leben weit über das Maß dessen zu steigern, was ihr die Zukunft an Luxus gewähren konnte. Hätte man Irma gefragt, warum sie das tat, sie würde am Ende selbst keine Antwort darauf gewußt haben. Außer dem Drange, ihr Liebes und Gutes zu erweisen, war es vielleicht das Bedürfnis, in das strenge, düstere Schwarz, wovon Mutter und Tochter umgeben waren, die fröhliche Abwechselung des Anblickes einer hellen, heiteren Hausgenossin zu bringen.

Man lebte während dieses Trauerjahres sehr zurückgezogen, besuchte kein Vergnügen, kaum ein ernstes Konzert und empfing auch wenig Besuche. Zu den paar Leuten, die im Hause Belle-Alliance-Platz verkehrten, gehörten Oskar Siewert oder der »Onkel Oskar«, wie er allgemein auch von den Bekannten der Familie genannt wurde, und Gustav Kolberg, der auch öfter geschäftliche Besprechungen mit Frau Bögehold hatte, da der Sozius ihres verstorbenen Mannes die große Dampfziegelei für seine und der Erben gemeinschaftliche Rechnung weiterführte. Kolberg pflegte genau zu unterscheiden, wann er als Freund des Hauses kam und wann als Sozius der Firma. Kam er als Freund, als langjähriger Vertrauter der Familie, so pflegte er stets zu fragen, ob die Damen zu sprechen seien. Kam er als Sozius, so ließ er sich nur bei der gnädigen Frau melden. Er war ein Mensch von außerordentlicher Förmlichkeit und Korrektheit sowohl in seinen privaten Beziehungen als auch im Verkehr mit den Angehörigen des verstorbenen Kompagnons. Was Onkel Oskar oft zu gutmütigen Neckereien veranlaßte, auf die jener stets mit dem Lächeln eines seiner Überlegenheit sich bewußten Menschen reagierte. Kolberg nahm den etwas ungenierten, burschikosen Siewert nicht recht für voll, wenigstens was die feineren Manieren und den gesellschaftlichen Ton anging.

Auf gute Manieren nämlich verstand sich Kolberg besonders. Seine Mutter war eine Adlige gewesen, und auch seine Frau, die er vor zehn Jahren verlor, hatte lauter Wäschestücke mit in die Ehe gebracht, die mit einer weißgestickten Krone geziert waren. Ihm gegenüber betonte Siewert mit Absicht immer ein gewisses saloppes Wesen, indem er gerade in seiner Gegenwart derbe, volkstümliche Ausdrücke gebrauchte und kein Hehl daraus machte, daß er in seiner Jugend stets ein bißchen als mißratener Sohn gegolten hatte. Er war als fünfzehnjähriger Bengel aus dem Elternhause davongelaufen, nach Amerika gegangen und hatte dort als Kellner, als Sprachlehrer, als Geiger in einem Wanderzirkus, als Schnellmaler in einem Variété, als Erfinder eines Lebenselixiers ein abenteuerliches Dasein geführt bis die Sehnsucht ihn in die Heimat zurücktrieb. Hier fand er als gereister Mensch sein väterliches Erbteil vor. Er legte es im Ankauf eines amerikanischen Patentes an, von dessen Verwertung er bei nicht allzu großer Beschäftigung ein leidliches Auskommen hatte.

Jetzt, nach dem Tode des Schwagers Bögehold, war Onkel Oskar ersichtlich bemüht, seine Nichte Irma aus ihrer sehr oft niedergedrückten Stimmung zu reißen. Er erwies ihr allerhand Aufmerksamkeiten, brachte ihr Bücher und Geschenke und versuchte, wo es irgend anging, seine heitere Lebensanschauung auf sie auszustrahlen. Weniger bemüht war er, auf die Stimmung seiner verwitweten Schwester einzuwirken, der er wohl eher die Energie zutraute, sich aus eigener Kraft von dem erlittenen Verluste zu erholen, zumal da Luise Bögehold durch ihr Interesse an der Fabrik Ablenkung und Zerstreuung fand. Mit Lisbeth hatte sich Onkel Oskar bald angefreundet. Es machte ihm Spaß, dem Mädel Berlin zu zeigen, die Sehenswürdigkeiten, die schöne Umgebung und nicht zuletzt sie hin und wieder in ein Lokal zu führen, wo es etwas besonders Gutes zu essen und zu trinken gab.

Wenn Lisbeth ihr jetziges Leben mit dem in S. verglich, kam sie sich vor wie im Paradies. Bei seinen Ausgängen mit ihr blieb es Siewert nicht verborgen, daß Lisbeths Anblick allgemeines Gefallen erregte. Sehr komisch, wenn er dann den gestrengen Herrn Onkel zu spielen versuchte, um kecke Zudringlichkeiten von ihr abzuwehren. Eines Abends setzte sich in einem Restaurant ein eleganter junger Herr an den Tisch zu ihnen, der in dem überfüllten Lokal keinen anderen Platz hatte finden können. Er zeigte ein höfliches, zuvorkommendes Wesen. Man kam miteinander ins Gespräch. Der fremde Herr stellte sich vor. Es war ein Amerikaner namens Phebs, der schon seit Monaten in Deutschland weilte und in dem vornehmen Hotel Astoria wohnte. Er sagte den beiden Tischgenossen viel Freundliches über ihr Land, dessen kräftigen Wiederaufstieg ihn mit Bewunderung erfülle und dem man nur dazu gratulieren könne, daß es in allen seinen Lebensäußerungen immer mehr dem Vorbilde Amerikas nachzustreben sich bemühe. Mr. Phebs verwandte dabei kein Auge von Lisbeth, die zum ersten Male in ihrem Leben so viele funkelnde Ringe an den Fingern eines Mannes erblickte.

Onkel Oskar zerlegte gerade kunstvoll eine Poularde und gab das eine Stück auf Lisbeths Teller.

»In einem Punkte haben Sie wohl recht, Mr. Phebs,« sagte er. »Wir amerikanisieren uns, und nicht bloß wir Deutschen, sondern ganz Europa amerikanisiert sich immer mehr. Nur – nehmen Sie es mir nicht übel –, ich weiß nicht, ob wir uns dazu Glück wünschen lassen sollen. In allen Dingen der Technik und des praktischen Lebens tun wir zwar gut daran, so viel wie möglich von den Amerikanern zu lernen, aber ...«

»Aber?« fragte Mr. Phebs lächelnd.

»Aber sonst ... zum Beispiel auf kulturellem Gebiete sollten wir lieber nach wie vor die Lehrmeister Amerikas bleiben, anstatt ihm nachzuäffen. Nicht nur, daß wir seine schreckliche Jazzmusik importieren – sie steht leider auch im Mittelpunkt jeder musikalischen Unterhaltung. Wir tanzen wie die Niggers pfeifen, laufen in die gräßlichen Spektakelstücke, die für das primitive und sensationslüsterne Publikum der Broadwaytheater gerade gut genug sind. Ich habe große Achtung vor Amerika, aber ich hasse den Amerikanismus, durch den uns unser Eigenleben verkorkst wird. Sehen Sie sich mal zum Beispiel unsere Zeitungen an, im Vergleich zu früher. Die werden jetzt immer gröber und plumper mit ihren fettgedruckten Aufschriften über den unmöglichsten Tartarennachrichten, mit ihrem Appell an die rohen Instinkte der Menge, mit ihren Abbildungen von Berufsboxern, mit ihren ausführlichen Schilderungen von eingeschlagenen Zähnen und zerbrochenen Rippen: lauter herrliche Heldentaten, begangen in Verteidigung der respektiven Landesfarben dieser bezahlten Sportsleute. Was früher Kunst und Geist war, ist Geschäft und Reklame bei uns geworden. Ganz wie in Amerika, wo nichts Geltung hat als der Dollar. Es ist nicht schön, daß wir das nachmachen und daß Europa – verzeihen Sie mir den Ausdruck – der Affe Amerikas geworden ist ...«

Hier erst unterbrach Siewert seine temperamentvolle Ausführung, obgleich Lisbeth schon seit einer Weile ihm mit der Spitze ihres rechten Schuhes auf seinen Füßen herumgetippt hatte. Lisbeth mahnte:

»Das Huhn wird dir kalt, Onkel!«

Sie hatte Siewert nie so kratzbürstig gesehen. Er pflegte sonst seinem Unmut, wenn solcher ihn gelegentlich überkam, mehr in humoriger Weise Luft zu machen.

Galt dieser ungewohnte Ton der Person des Fremden oder der Sache?

Der Amerikaner führte langsam sein Glas zum Munde, tat mit echt yankeemäßigem Phlegma einen langen bedächtigen Zug und sagte dann ruhig und gelassen:

»Well, wenn man uns alles nachmacht, so ist das wohl Ihre Schuld aber nicht unsere.«

»Stimmt, mein Herr, stimmt leider, aber wurmen tut es einen doch. Das Schlimmste dabei ist, daß wir Deutschen gerade im Nachmachen allen anderen Europäern voran sind. Erst machen wir den Amerikanern die Bars nach, die Drinks, den Coctail, den Whisky, den Mixer, und jetzt seit einigen Jahren, weil's drüben so vorgeschrieben wird, machen wir euch wieder das Gegenteil davon nach, die Antialkoholbewegung. Wir sind drum und dran, die Bars wieder abzuschaffen, die Drinks, den Coctail, den Mixer und sogar den Genuß von jeglichem Tropfen Wein und jeglichem Tropfen Bier.«

»Ich habe davon gelesen,« nickte Phebs gleichgültig wie einer, den die Geschichte nichts anging.

»Was halten Sie eigentlich von der amerikanischen Prohibition?« fragte Lisbeth auf einmal, die sich an der Unterhaltung bisher nicht beteiligt hatte, sich aber plötzlich für das Gespräch zu interessieren begann.

Mr. Phebs machte ein erstauntes Gesicht. Er wunderte sich offenbar darüber, daß gerade dieses Thema sie veranlaßte, endlich den Mund aufzutun.

»Ich habe nämlich einen Verwandten,« erklärte sie, »der Abstinent ist.«

»Einen ganz entfernten Verwandten,« ergänzte Onkel Oskar.

»Hm, eine gute Sache, die Prohibition,« meinte Mr. Phebs und nahm einen neuen tüchtigen Schluck.

»Wieso eine gute Sache?« fragte Lisbeth.

»Weil sie das Volk verhindert zu trinken, sich zu betrinken, sich zu vergiften, im Rausch Roheitsdelikte zu begehen, weil sie seine Arbeitskraft vermehrt und die Prosperität des Landes erhöht.«

»Besonders die Prosperität der Reichen, die eben, weil sie reich sind, in ihren Gesellschaften und ihren Klubs für den dort reichlich genossenen Alkohol die höchsten Preise zahlen können,« spottete Siewert.

»Das Gesetz ist auch mehr für die mittleren und unteren Schichten da, welche diese Preise nicht bezahlen können,« meinte Phebs gelassen. »Außerdem weiß der Wohlhabende sowieso, wann er genug hat.«

»Das erste, was ich höre, daß ein Reicher weiß, wann er genug hat,« gab Siewert prompt zurück. »Ich für meine Person kenne nur solche Reiche, die nie genug kriegen können. Doch ich glaube gar. Sie machen sich über uns lustig, Mr. Phebs. Man weiß ja, wie die Dinge da drüben stehen, wenn auch unsere Abstinenten, die eher heute als morgen eure gesegneten Zustände bei uns einführen möchten, es nicht Wort haben wollen. Eure Trockenlegung steht auf dem Papier. In allen Bevölkerungsklassen wird bei euch in Amerika mehr oder weniger getrunken, meist mehr als weniger. In euren öffentlichen Lokalen sieht man freilich kaum etwas davon. Aber privatim und heimlich wird in Amerika heftig gepichelt. Der Alkoholschmuggel steht in Blüte. Ein Heer von Beamten ist aufgeboten, ihn zu beseitigen und die Befolgung der Vorschriften gesetzlich zu überwachen. Diese braven Funktionäre des Staates sind fast alle bestechlich. Jedermann fabriziert im Verborgenen seinen Schnaps. Man verschleißt heimlich einen minderwertigen Fusel, der jeden davon Genießenden krank macht. Nie sind in den Vereinigten Staaten Gesetze mehr umgangen und verhöhnt worden, nie ist das Recht der persönlichen Selbstbestimmung derartig unterdrückt worden wie in dem freien Amerika seit Einführung der ›Prohibition‹. Und weil man es bei uns nicht erwarten kann, auch so wunderbare Zustände zu haben, so sind in deutschen Landen sonderbare Schwärmer und seltsame Heilige am Werke, euch auch die vielgepriesene Trockenlegung abzugucken ... Na, Prosit, Mr. Phebs, nichts für ungut!«

Siewert erhob lächelnd sein Glas und trank dem Amerikaner zu: »Es lebe eure Trockenheit und unsere Feuchtigkeit!«

Mr. Phebs tat ihm Bescheid und hob mit einer Verbeugung sein Glas auch gegen Lisbeth.

»Ist denn das alles richtig, was Onkel gegen die amerikanische Einrichtung sagt?« fragte sie naiv.

Mr. Phebs machte ein verschmitztes Gesicht. »Ich denke, Ihr Herr Onkel übertreibt ein wenig,« erwiderte er. »Es mag ja stimmen, daß das Gesetz einige Mißstände hervorgerufen hat, aber unser neuer Präsident wird ihm schon Geltung verschaffen. Der hat die nötige Energie dazu.«

»Oder auch: er wird es so bald wie möglich beseitigen, dieses Gesetz, wenn er sich überzeugt, daß es so nicht weiter geht.«

Mr. Phebs zuckte die Achseln. »Jedenfalls hat das amerikanische Volk die Prohibition gewollt, sonst hätte es in seiner Mehrheit nicht dafür gestimmt, und die Trockenheit wäre ohne seinen Willen nie Gesetz geworden.«

»Na, was das anbelangt, so kann ich wohl auch ein Wort mitreden. Ich kenne die Vereinigten Staaten aus jahrelanger persönlicher Erfahrung. Eure Wahlen, so demokratisch ihr euch auch gebärdet, bringen nicht den wahren Willen des Volkes zum Ausdruck. In keinem anderen Lande der Welt kann der geschickte Manager mit den Stimmen der Wähler so nach Belieben schalten und walten. Die große Menge ist urteilslos, jeder Beeinflussung durch Wort und Schrift zugänglich, zumal wenn kräftig genug das interessierte Kapital dahinter steht. Es ist unglaublich, was man den Leuten alles einreden kann. Die dicksten Lügen, die blödesten Dummheiten finden williges Ohr. So und nur so kam unter dem Einfluß der staatlichen Bevormundung eure Prohibition zustande, für deren Abschaffung in freier Abstimmung mindestens drei Viertel aller Amerikaner votieren würden.«

»Ist es vielleicht bei den Wahlen in Deutschland besser?« fragte gleichmütig Mr. Phebs.

»Wir haben mehr Aufklärung und Bildung, auch mehr individuellen Willen.«

»Und dennoch diese Abhängigkeit von unseren Sitten, Gebräuchen und Einrichtungen?«

»Das ist ja eben das Unglaubliche! Wir sind euch nicht nur mit unserem Besitz, sondern leider auch mit dem Verstande tributpflichtig geworden. Armes Deutschland!«

Lisbeth begriff nicht die Seelenruhe, womit der Fremde diese für sein Land nicht eben schmeichelhaften Ausführungen Onkel Oskars anhörte. Er lächelte sogar dazu, nicht etwa ironisch oder spöttisch, sondern so, daß man zweifeln konnte, ob er nicht etwa der gleichen Meinung wäre.

Siewert rief den Kellner und zahlte. Als sie sich von Mr. Phebs verabschiedeten, bedankte sich dieser für die angenehme Stunde, die er in ihrer Gesellschaft hätte verbringen dürfen, wobei er die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen aussprach. Darauf bestellte er sich beim Kellner einen Coctail.

*

»Was macht Mr. Phebs auf dich für einen Eindruck?« fragte Lisbeth im Auto auf dem Heimwege.

»Eben denke ich darüber nach,« antwortete der Onkel. »Und auf dich?«

»Er ist sehr gut angezogen,« meinte Lisbeth. »Mehr kann ich nach dieser flüchtigen Begegnung nicht sagen. Übrigens: Prohibition mit Coctail – wie reimt sich das zusammen?«

»Amerikanische Sachlichkeit!« sagte Onkel Siewert.

Vor ihrer Wohnung am Belle-Alliance-Platz angelangt, verabschiedete sich Lisbeth von Siewert.

»Vielen Dank, Onkel. Ihr verwöhnt mich alle derartig, daß, wenn wirklich mal meine kühnsten Träume in Erfüllung gehen und ich eine Anstellung als Tippfräulein kriege, ich gar nicht weiß, wie ich mich in diese neue Situation hineinfinden soll.«

Da ging die Haustür auf, und Gustav Kolberg, eine dicke Aktenmappe unterm Arm, kam heraus. Er war sehr lebhaft und gebrauchte viele Worte. Bis jetzt hätte er geschäftliche Besprechungen mit Frau Luise gehabt, ihr die glänzende Bilanz des letzten Quartals vorgelegt. Man müsse ja schließlich Wert darauf legen, die Frau in alle kaufmännischen Einzelheiten des Betriebes einzuweihen, denn, obgleich er, Gott sei Dank, gesund und rüstig wäre, könnte ihm jeden Tag etwas Menschliches passieren, ebensogut wie dem armen Robert Bögehold. Dann würde sie plötzlich dastehen und nicht ein und nicht aus wissen in der Fabrik, von allen Leuten betrogen.

Siewert legte ihm die Hand auf die Schulter:

»Aber, lieber Freund, brauchen Sie sich vor uns zu entschuldigen?«

»Entschuldigen?«

»Na ja, es klingt beinahe so. Gehen Sie nur in Gottes Namen so oft zu Luise hinauf, wie Sie wollen und« – fügte er lächelnd hinzu – »wie Luise will. Die Aktenmappe können Sie ruhig zu Hause lassen!«

Damit faßte er ihn unterm Arm und zog ihn mit sich fort; denn sie hatten beide ein Stück Wegs gemeinsam zu machen.

Oben erfuhr Lisbeth, daß ein Brief aus S. für sie angekommen war, ein dicker Brief mit Doppelporto. Die Adresse zeigte die Handschrift der Mutter.

Eine halbe Stunde darauf las sie ihn auf ihrem Zimmer im Bette.

Es standen wenig erfreuliche Dinge darin. Die leidigen Mißhelligkeiten zwischen dem Rektor und der Bürgerschaft hatten sich verschärft und drohten nunmehr sich zu einem öffentlichen Ärgernis auszuwachsen.

»Der Papa,« so klagte die Mutter, »ist aber auch wirklich zu eigensinnig. Er kann und kann die Propaganda in der Schule nicht lassen. Du wirst sehen, es gibt noch ein Unglück. Neulich hat er den Schülern der Oberprima, die nun bald das Abitur machen sollen, folgendes Thema für den Schulaufsatz gegeben: Der Alkohol, eine Geißel der Menschheit. Was war die Folge davon? Die ganze Klasse, wie auf Verabredung und wahrscheinlich im geheimen Einverständnis mit den Eltern, hat, um ihn zu ärgern, geradezu einen Hymnus auf den Alkohol geschrieben, wobei sich die Jungen den Spaß machten, die ganze Weltliteratur zum Zeugen gegen Papa anzurufen. Da fehlt dir aber auch keins von den Zitaten aus den Schriften griechischer, lateinischer und deutscher Denker und Dichter, die den Reben- und Gerstensaft als Spender aller Lebensfreuden verherrlicht haben. Na, kurz und gut: eine Revolution in Poesie und Prosa. Kannst dir denken, wie die ganze Stadt sich amüsiert. Die Leute lachen sich die Hucke voll. Ich wage schon kaum mehr vor die Tür zu gehen, aus Furcht vor den spöttischen Gesichtern. Sag ich Papa ein Wort, bitte ich ihn, seinen Eifer endlich zu zügeln und sich doch um Gotteshimmelswillen der Schulpropaganda zu enthalten, so antwortet er, daß gerade er von der Stelle aus, wohin ihn das Schicksal gestellt habe, zur Aufklärungsarbeit berufen sei. Er überschüttet mich mit Zahlen aus Statistiken, welche verheerende Wirkungen beweisen sollen. Täglich bringt die Post Broschüren und Drucksachen aus dem Lager seiner Gesinnungsgenossen. Danach wäre das Paradies auf Erden, kein Familienunglück würde es geben, keine Krankheit, kein Verbrechen, wenn nicht die unheilvolle chemische Formel C2H6O erfunden worden wäre. Ich leide furchtbar unter seiner – nun ja, ich kann es beim besten Willen nicht anders nennen – unter seiner Manie, leide um so mehr, als ich den armen Mann selber leiden sehe. Denn er ist sehr unglücklich darüber, daß er nirgends, auch bei seinen Kollegen nicht, Verständnis findet. Er fühlt sich als Märtyrer und sieht auch tatsächlich so aus. Hager und blaß ist er geworden, und aus seinen Augen funkelt Zorn. Mein Gott, was soll bloß daraus werden. Ich sage dir, diese Abstinentenbewegung ist bestimmt ein größeres Übel als das, was sie bekämpfen will ...«

Hier hielt Lisbeth einen Augenblick inne mit der Lektüre. Sie war sehr traurig geworden. Daß man da nicht raten und helfen konnte. Wie behaglich, wie zufrieden hätten die Eltern in dem netten kleinen Städtchen leben können, nachdem des Vaters brennender Ehrgeiz, Schulleiter zu werden, endlich in Erfüllung gegangen war. Schön, mochte er den Alkohol verabscheuen ... in jeder Form, in jeder Art und Menge. Sie wollte seine Überzeugung und sein Handeln als Tochter gern in Ehren halten, wenn er nur andere nach ihrer Überzeugung hätte selig werden lassen wollen, anstatt mit starrem Fanatismus gegen sie zu eifern und sich bei den Leuten verhaßt zu machen. Wäre wenigstens in S. noch ein sichtbarer Grund vorhanden gewesen – zu solch unablässigem, erbittertem Kampf, zu einem Kampfe, der, Gott sei's geklagt, auch noch den Fluch der Lächerlichkeit auf den ehrenwerten, trefflichen Mann lud. Denn, was die Verhältnisse in S. betraf, so kämpfte er tatsächlich gegen Windmühlen. Gewiß, es gab in dem kleinen Städtchen Leute, die gelegentlich mal eins über den Durst tranken, namentlich unter den unverheirateten jungen Arbeitern der Tuchfabriken und Leinwebereien. Dann lärmten sie wohl bisweilen nachts in den Straßen oder prügelten sich auch. Doch das waren Ausnahmen, an den Fingern herzuzählen. Die mochten belehrt, zu besserem Betragen erzogen, wenn nötig sogar bestraft werden. Man wußte auch, daß zum Beispiel der Finanzsekretär Kettelmann abends öfter nicht ganz gradlinig vom Rheinweintrunk nach Hause wackelte, daß die Nase des Tierarztes Bandmeier nicht eben vom Wassertrinken so weinrot gefärbt war, daß das Zipperlein des Justizrates und Moselkenners Feuerstak seine tiefere Bedeutung hatte. Man machte in der Stadt Glossen darüber und fühlte sich durch das Beispiel dieser Herren durchaus nicht ermutigt, am eigenen Leibe durch gleiche Ursachen gleiche Wirkungen hervorzurufen. Im Gegenteil, wie eine lebendige Warnung wirkten sie. Aber von diesen Erscheinungen abgesehen, gab es in S. doch wahrhaftig keine Bacchanalien. Die Bürgerschaft lebte solide. Bei ihren harmlosen Festlichkeiten herrschte wohl manchmal die durch ein gutes Glas Bier gehobene Stimmung, nie jedoch hatte man von Ausschreitungen gehört. Und, wären solche vorgekommen, so hätte gewiß jedermann sie verurteilt.

Lisbeth las nun den Brief zu Ende. Er enthielt noch eine Reihe unwichtiger Mitteilungen über häusliche Angelegenheiten. Aus allem aber sprach zwischen den Zeilen die klaglose Sehnsucht der Mutter nach einer persönlichen Aussprache mit der Tochter.

Lisbeth nahm sich vor, auf ein paar Tage nach S. hinüberzufahren, um daheim mal zum Rechten zu sehen.

Eine Woche darauf führte sie diesen Entschluß aus. Überraschend, ohne sich bei den Eltern anzumelden, war sie gekommen. Als sie von der Bahn mit ihrem kleinen Handköfferchen durch die engen, ihr so wohlbekannten Gassen und Gäßchen der Stadt schritt, schienen ihr diese wie ausgestorben. Die Leute sahen dem hübschen, gutgekleideten Mädchen neugierig nach wie einer Fremden. Lisbeth selbst kam die Stadt fremd vor, obwohl sie nicht mehr als einige Monate fern gewesen war.

Die Rektorin öffnete ihr die Tür. Es war einen Augenblick lang, als wollte sie die Besucherin nach ihrem Begehren fragen. Dann lagen sich beide in den Armen. Der Rektor, der in seinem Arbeitszimmer Hefte korrigierte, horchte auf, als er die freudigen Laute der Begrüßung vernahm und die Stimme seiner Tochter erkannte. Er kam herbeigerannt, herzte und küßte Lisbeth. Tränen standen ihm in den Augen. Tränen liefen auch über Lisbeths Wangen.

»Nein, wie fein und vornehm du geworden bist!« rief Bögehold einmal über das andere. »Schau nur, Frau, schau nur, wie sie sich verändert hat!«

Bald saßen sie alle drei beisammen im Wohnzimmer. Lisbeth mußte erzählen von der Tante, von Irma, von Onkel Oskar, von Berlin, von ihren Studien, von ihrem Leben und Treiben.

Es war ein inniges Zusammensein wie in früheren Jahren, ungetrübt durch Meinungsverschiedenheiten und durch die Mißhelligkeiten mit der Umwelt da draußen außerhalb des stillen Heims.

Doch schon in den nächsten Tagen konnte es nicht ausbleiben, daß das leidige Thema wieder zur Sprache kam, obwohl alle drei sich vorgenommen hatten, es ängstlich zu vermeiden. Da faßte Lisbeth den Mut, dem Vater von einem Plane zu reden, den sie insgeheim mit der Mutter sich ausgedacht hatte. Sie stellte sich dabei, als ob der Rektor an den Ärgernissen und Anfeindungen, denen er in S. ausgesetzt war, durchaus schuldlos wäre und als ob alle Verdrießlichkeiten auf das Konto der kleinbürgerlichen, klatschsüchtigen Einwohner zu setzen wären:

»Wie wär's, Papa,« sagte sie, »wenn du dich einfach pensionieren ließest und mit Mama woanders hinzögest. Ich stehe nun ja bald auf eigenen Füßen. Ihr braucht für mich nicht mehr zu sorgen und hättet bei euren bescheidenen Ansprüchen genug zum Leben. Ich habe mir so gedacht, ihr würdet nach einer Großstadt ziehen, etwa nach ...«

Der Rektor ließ sie nicht ausreden. Ob sie denn plötzlich närrisch geworden wäre? Ihm zuzumuten, daß er sich in den besten Jahren auf die faule Bärenhaut legen würde! Seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit sei es, mutig auszuharren an der Stätte seiner Wirksamkeit. Er denke nicht an Fahnenflucht. Es fiele ihm auch nicht im Traume ein, abzulassen von dem Kampfe für das, was er als seine wichtigste und vornehmste Lebensaufgabe betrachte. Im Gegenteil, von nun an werde er erst recht usw. usw.

Da sahen die beiden Frauen ein, daß alles verlorene Liebesmühe war. Zwei Tage später reiste Lisbeth nach Berlin zurück.


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