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Die Nacht war indeß bereits angebrochen. In den Straßen war es dämmerig, aber nicht stiller geworden. Auf den heißen Sommertag war ein schwüler Abend gefolgt, durch welchen hin- und wieder schwaches Licht zuckte; man wußte nicht, war es das ferne Wetterleuchten eines abziehenden Gewitters oder der Vorbote eines erst kommenden.
Dieselbe unangenehme Schwüle, welche in der Luft lastete, lag auch auf den Menschenmassen, die sich, von der Witterung begünstigt, theils in einzelnen Zügen durch die Straßen wälzten, theils an verschiedenen Plätzen und Ecken in mehr oder minder zahlreichen Gruppen beisammen standen. Nirgends war ein besonderer Lärm, als das Gewirre vieler Stimmen zu vernehmen, und nur manchmal tönte ein wilder Schrei oder ein gellender Pfiff darüber hinaus, der nicht selten von anderer Richtung her ein bedeutsames Echo fand. Gerade in dieser ruhig-trotzigen Haltung lag aber unverkennbar eine um so ernstere Drohung. Wer noch dazu die finstern, ernsten Gesichter der Truppen beobachtete, mit denen sie auf den Wachen und an den nächsten Zugängen zum Schloß unterm Gewehr und schlagfertig der Menge gegenüberstanden, dem mußte mit allem Grunde vor einem Zusammenstoß der beiden feindlichen Elemente grauen.
Am stärksten war das Gedränge auf dem Jakobsplatze. Dieser mündete nach der einen Seite in eine breite Straße gegen die Hauptkaserne aus, in welcher der größte Theil der Truppen consignirt stand. Auf der andern Seite führte eine schmälere Gasse an das Hauptthor der Stadt, in welchem sich das Zollbureau befand, wo heute zum ersten Male die verhaßte Verbrauchssteuer von allen in die Stadt eingeführten Lebensmitteln erhoben worden war. Hier und bei diesem Anlaß waren die ersten Ruhestörungen vorgekommen; die anfänglichen Reibungen, Spöttereien und Neckereien hatten damit geendigt, daß das Zollbureau erbrochen und die Beamten verjagt, die Wagen mit den Waaren aber umgestürzt und letztere trotz des Widerspruches der Eigenthümer für gute Prise erklärt und, so gut es anging, vom Volk verzehrt oder vertheilt wurden. Aus den umgestürzten Wagen, sowie aus verschiedenem andern Geräthe, das aus den umliegenden Häusern herbeigeschleppt worden war, aus Fässern, Leitern und Balken war eine Art von Bollwerk gebildet worden, welches den Platz gegen die Kaserne zu völlig absperrte und zugleich den Thorweg beherrschte. Einige kleine Seitengäßchen waren durch Aufreißen des Pflasters und der Brücken vollends unzugänglich gemacht worden. Inmitten des Bollwerks brannte ein hochloderndes, mächtiges Feuer, das einige schmutzige Lehr- und Betteljungen lärmend unterhielten. Von den rothen Streiflichtern beleuchtet, saß das Volk zechend und schreiend in so abenteuerlichen Gruppen auf den Trümmern, daß nicht leicht ein bewegteres und lebhafteres, aber auch kaum ein wilderes Bild gedacht werden konnte.
Den Mittelpunkt desselben bildete eine hohe Stange, an welcher ein großes, flatterndes Tuch als Fahne angebracht war, mit der ziemlich roh und flüchtig darauf gepinselten Inschrift: »Keinen Zoll! Keine Einfuhr!« Zunächst an der Fahne saß ein großer, stämmiger Mann mit struppigem, grauem Haar und Bart und einem wilden, verwetterten Gesicht. Auf dem Kopfe hatte er eine abgetragene Soldatenmütze sitzen, am Leibe trug er einen schmutzigen Zwillichkittel und war eben beschäftigt, den letzten Trunk aus einem mächtigen Kruge zu thun.
»Da, die Ampel ist leer, laß sie füllen, Schlosser«, rief er einem jungen Burschen zu, der ihm schräg gegenüber saß und dessen rußiges Hemd sowie die starken, entblößten, gleichfalls geschwärzten Arme den Feuerarbeiter erkennen ließen. »Da drinnen im rothen Stern liegt noch manches volle Faß, und wenn der Wirth sich nicht noch höflich für die gute Kundschaft bedankt, so schlag' ich ihn hinter die Ohren, daß er weiß, wie er mit unsereinem umzugehen hat!«
Der Angeredete legte einen gewaltigen Reitersäbel, dessen Klinge er eben zu putzen und zu schleifen beschäftigt war, beiseite und erhob sich, indem er den dargebotenen leeren Krug ergriff. – »Lehr' Du mich, was ich zu thun habe, alte Schnapsgurgel«, schrie er mit lautem, gellendem Lachen. »Der Sternwirth wird nicht mucksen, wenn er mich sieht; er weiß sehr gut, daß ich ihm noch eine Abrechnung schuldig bin!«
»Aber was soll denn das bedeuten, Windreuter?« begann ein Dritter aus der Gruppe, eine hagere, sonnverbrannte Gestalt in blauer Blouse, die eine lange, rostige Muskete zwischen den Beinen liegen hatte. »Ich glaube, wir sind zum Narren gehalten. Wie lange soll denn die Deputation noch ausbleiben? Gib Acht, Windreuter, daß man uns nicht über'n Löffel barbiert!«
»Sorg' nicht, Hahn«, entgegnete Windreuter, der Alte in der Soldatenmütze. »Ich habe die Augen offen, auch wenn Du nicht krähst. Bis neun Uhr haben wir versprochen, uns ruhig zu halten; 's ist noch eine kleine Stunde bis dahin, dann geht's los, die Deputation mag kommen oder nicht.«
»Es hätte auch die ganze Deputation nicht gebraucht«, rief, zu den Sprechenden herantretend, ein junger Mensch mit einem liederlichen, verlebten Gesichte, um welches das aschblonde Haar steif herumhing; über den abgeschabten Rock hatte er einen Bücherriemen geschnallt, in welchem zwei Reiterpistolen steckten. »Der Herzog gibt doch nicht nach, er kann gar nicht nachgeben. Wenn Ihr Jura verstündet, wie unsereiner, würdet Ihr's auch einsehen, daß er sich kein Regal, wie man's nennt, vergeben wird. Man muß also zu andern Mitteln greifen, und wenn das gleich geschehen wäre, so wäre jetzt schon Alles in bester Ordnung.«
»Hab' mirs ja gedacht, daß Ihr Euer Maul auch drein stecken müßt!« brummte Windreuter, den Ankömmling mit verächtlicher Miene messend. »Behaltet Eure Weisheit für Euch! Wir haben ganz andere Leute, die uns einen guten Rath geben! Leute, zu denen wir Zutrauen haben und die mehr von Jura verstehen, als eine so erbärmliche Schreiberseele wie Ihr aus dem Papierkorb aufgeschnappt hat.«
»Versteht sich, kann mir's ja denken!« erwiderte giftig der Schreiber. »Ihr seid das Commandirtwerden so gewohnt, daß Ihr sogar, wenn Ihr Euch frei machen wollt, einen Leithammel haben müßt! Den guten Rath hat Euch wohl Euer superkluger Herr Riedl gegeben, der –«
Der Redende konnte nicht weiter fortfahren, denn Windreuter war wie besessen aufgesprungen und hielt ihn mit beiden Händen wie mit Klammern an der Kehle gefaßt. »Hund von einem Kerl«, schrie er, den Erschrockenen derb schüttelnd, »noch ein schiefes Wort über den Herrn und ich breche Dir alle Knochen in Deinem Gerippe entzwei!«
Der Mann in der Blouse war aufgesprungen und befreite den Geängstigten, der nach Luft schnappte und sich anhalten mußte, um nicht umzusinken. »Das will ich Dir gedenken, verfluchter Graukopf«, stöhnte er gleichwohl mit einer Handbewegung gegen seinen Feind.
»Was, die Kröte will mir drohen?« rief dieser, wiederholt auffahrend, und hätte bestimmt auch seine Mißhandlung fortgesetzt, wenn ihm nicht der Mann in der Blouse in den Arm gefallen wäre und ihn zurückgehalten hätte.
»So laß doch den Kerl gehen«, rief er. »Das fehlte uns jetzt noch, daß wir uns untereinander selbst herumrauften!«
»Und ich habe doch Recht«, rief, während Windreuter sich brummend wieder niedersetzte, der Schreiber, welcher sich inzwischen erholt und durch den ihm gewordenen Beistand neuen Muth geschöpft hatte. »Ihr werdet alle sehen, daß ich Recht habe! Während Ihr hier Maulaffen feil haltet und auf die Deputation wartet, haben die Andern Zeit genug, Soldaten von allen Seiten herkommen zu lassen! Dann könnt Ihr sehen, wie Ihr mit ihnen fertig werdet!«
»Fürchtest Du Dich, Du papierner Hasenfuß?« schrie Hahn. »Was schadet's, wenn ihrer ein paar hundert mehr sind, desto mehr bekommt mein Kuhfuß hier zu thun! Und was ein ordentlicher Kerl ist in der Montur, der wird sich nicht gegen uns stellen!«
»Das mein' ich auch«, bekräftigte Windreuter. »Ich habe lang genug in dem Rock gesteckt und kann mitreden. Aber seht, da kommt der schwarze Huber wieder mit den Krügen. Mir ist die Kehle ganz trocken geworden.«
Damit ergriff er den Krug, den ihm der hinzugekommene Schlosser überreichte, und setzte ihn mit dem Rufe: »Es leben alle braven Soldaten!« zu einem kräftigen Zuge an den Mund.
»Gebt dem Studenten neben Euch auch zu trinken«, fuhr er dann, während der Krug bei den Umstehenden die Runde machte, fort. »Wenn er mit uns dreinschlagen will, wird er sich wohl auch nicht schämen, mit uns zu trinken!«
»Ich bring's Euch zu«, sagte Hahn, in dessen Händen der Krug eben wieder anlangte, zu einem jungen Manne, welchen die farbige Mütze, die er trug, als Studenten kennzeichnete. Unter derselben drängte sich reiches blondes Haar in natürlichen Ringeln hervor und umgab ein blühendes, jugendliches Antlitz, das, kaum dem Knabenalter entwachsen, nur durch den feurigen und festen Blick des blauen Auges einen etwas männlichen Charakter bekam.
Der Angeredete hing das zierliche Doppelgewehr, das er in der Hand getragen hatte, über die Schulter und that mit freundlichem Lachen den Bescheidtrunk. »Auf gute Kameradschaft«, sagte er, »und einen fröhlichen Ausgang! Und ein gutes Andenken für alle unter uns, die das vielleicht nicht erleben!«
»Da habt Ihr Recht«, rief Windreuter. »Es ist doch was Schönes um studirte Menschen, es fällt ihnen immer was Gescheidtes zur rechten Zeit ein! Eure Gesundheit, Herr Student! Wer weiß, was das Alles für einen Ausgang hat!«
»Das will ich Euch sagen, wenn Ihr's nicht wißt«, rief, sich in die Brust werfend, der Schreiber. »Einen guten, einen herrlichen Ausgang wird's haben! Das alte Regiment muß zum Teufel, wir sind freie Männer – Vivat die Republik!«
Die letzten Worte hatte der Redende mit aller Kraft, deren seine heisere Kehle fähig war, herausgeschrieen und einige von den Anwesenden, darunter der Schlossergeselle, stimmten in den Ruf ein, die meisten jedoch schwiegen und sahen sich wie verlegen und verblüfft an. Windreuter war aufgesprungen.
Der Student, seitwärts an einen Balken gelehnt, summte halblaut: »Freiheit, die ich meine« vor sich hin.
Die augenblickliche Stille war aber nur der Vorbote eines neuen Gewitters, dessen Hervorbrechen bald wiederholt zeigen sollte, wie fremd und unter sich uneins die Elemente waren, welche hier der gleiche Zweck zufällig zusammengeführt hatte.
»Was will der Schreiber schon wieder?« schrie Windreuter und streifte die Aermel an den Händen empor, als wolle er sich zu einem neuen Angriff auf den Verhaßten bereit machen. »Wer untersteht sich, hier so etwas zu sagen? Wer's mit Land und Volk gut meint, der will nichts Anderes, als daß die Steuer sammt den schlechten Rathgebern, die sie dem Herzog eingeredet haben, fort soll! Der Herzog ist uns allen lieb und recht! Ein Schuft, der etwas gegen ihn sagt! Die Steuer muß fort, aber von der Republik wollen wir nichts wissen!«
»Nein, nein, die Steuer weg! Die Minister weg! Keine Republik!« riefen die Gleichgesinnten und nach der Stärke des Rufs waren deren ziemlich viele.
»Dummköpfe!« überschrie der Schlosser den Lärm, indem er in die Mitte sprang und sich vor den nun schon mehrfach bedrohten Schreiber stellte. »Was habt Ihr davon, wenn Euch der Herzog einen Augenblick nachgibt? Wenn Alles wieder ruhig ist, kommen die Minister wieder und lassen uns doppelt zahlen! Nein, wir sind einmal im Zug, da wollen wir nicht mitten in der Arbeit aufhören, sondern das Eisen schmieden, solang es glüht! Weg mit der ganzen alten Wirthschaft, sie taugt nichts und wir brauchen sie nicht. Wir sind freie Menschen und können uns selber regieren!«
»Was, Du bist auch auf der Seite des Federfuchsers, schwarzer Huber?« entgegnete Windreuter drohend. »Meinetwegen, ich fürchte Euch alle beide nicht und noch ein Dutzend solcher, wie Ihr seid, dazu! Ich sag's noch einmal, der Herzog ist schon recht, er weiß nur nicht, wie man mit uns umgeht, und wenn er's einmal weiß, wird er's schon anders machen. Ich kenn' den Herrn besser als Ihr! Ich bin zehnmal in der Schlacht hinter ihm ins Feuer gegangen und hab' gesehen, daß er das Herz auf dem rechten Fleck hat! Wer's ehrlich meint, der läßt die Republikaner nicht bei uns, sie würden uns nur auch in Verdacht bringen. Packt Euch fort oder wir werfen Euch über die Barrikade hinunter!«
»Versucht's, wenn Ihr den Muth habt«, riefen diese entgegen und sammelten sich im Augenblick zu einem dichten, drohenden Knäuel, welchem Windreuter und seine Anhänger kampfbereit gegenüberstanden.
Vielleicht noch ein Augenblick, und blutige Thätlichkeiten hätten begonnen.
Da rief plötzlich eine starke Stimme den Erbitterten ein gebieterisches Halt zu und im nächsten Moment stand ein Mann in dunklem, breitkrempigem Hut, einen leichten Regenmantel über den Schultern, zwischen ihnen.
Es war Riedl.
»Seid Ihr von Sinnen«, rief er in einem Tone, der des Gehorsams gewohnt schien, »daß Ihr Euch im Augenblick, wo die ernste Entscheidung vor der Thür ist, unter einander herumbalgt? Ihr seid bereit zu kämpfen – wie könnt Ihr zu siegen hoffen, wenn Ihr uneins seid? Könnt Ihr guten Rath nicht länger behalten? Ich bitt' Euch, Freunde, seid ruhig und wartet die kurze Zeit, die noch zu warten ist, in Geduld ab.«
»Ihr habt Recht, wie immer, Herr, Doctor«, entschuldigte sich Windreuter, indem er Riedl mit einer Art Ehrerbietung näher trat, ihm aber doch treuherzig die Hand schüttelte, »aber der verfluchte Kerl, der Schreiber –«
»Still, Alter«, erwiderte Riedl. »Ich habe Alles mit angehört. Du bist und bleibst ein Hitzkopf und wirst mich noch einmal bereuen machen, daß ich mich Deiner angenommen habe. Ich hoffe, Du bemühst Dich, es gut zu machen.«
Damit wendete er sich zu den Uebrigen, die ihn alle vertraulich und doch mit einem gewissen Respekt umgaben. Windreuter zog sich beschämt auf seinen Platz unter der Fahne zurück. »Wie könnt Ihr um Dinge streiten«, rief Riedl, »von denen kein Mensch etwas voraussagen kann! Wer weiß, wenn er vom Gipfel eines Berges ein Steinchen herabrollen läßt, wohin das Steinchen fällt? Es kann ruhig bis zum Fuß des Berges herabrollen, das nächste Gebüsch kann es aufhalten, aber es kann auch eine Lawine werden, die das ganze Thal verschüttet. Das Beste ist, wir thun das Unserige und erwarten entschlossen und furchtlos, was kommen wird! Nochmals also, liebe Leute – Ihr wißt, daß ich es gut mit Euch meine – haltet Euch ruhig. Wir sehen uns bald wieder!«
Riedl's bloße Erscheinung hatte einen allgemein besänftigenden Eindruck hervorgebracht, welchen seine Worte so sehr befestigten, daß in ein paar Sekunden keine Spur des Vorgefallenen mehr zu entdecken war und Alles wieder wie zuvor in theils achtlose, theils mehr oder minder geschäftige Gruppen zerfiel.
»Ein prächtiger Herr«, sagte Hahn, Riedl nachsehend, der ruhig über die aufgethürmten Gegenstände hinabstieg und den Weg nach dem Innern des Platzes einschlug. »Aber nur für uns geringe Leute. Nach oben zu ist er so beißig, als er gegen das Volk freundlich ist.«
»Ja, ich hab's erfahren«, betheuerte ein trübselig aussehender, ärmlich gekleideter Mann, der sich mehr aus Neugierde, als um sich den Anwesenden anzuschließen, zu denselben gesellt hatte. »Wie meines Vaters Bruder, der reiche Pfarrer, starb und mir die Stiftung das Bischen abstreiten wollte, das er mir vermacht hatte, da wollt' ich einen Armenanwalt haben, denn ich konnte den Proceß nicht von dem zahlen, was ich mit der Nadel mir und meinen fünf Kindern mühselig genug erarbeiten muß. Aber da lief ich wochen- und monatelang vom Schreiber zum Rath und vom Rath zum Director und wieder herunter bis zum Schreiber, ohne daß es etwas geholfen hätte. Ich liefe wohl noch heute, wenn mir nicht meine Nachbarin gerathen hätte, mich an den Herrn Doctor zu wenden. Sie kannte ihn, weil er ihren Sohn von den Soldaten frei gemacht hatte. Der hörte mich ganz ruhig an, und wie ich am andern Tag, weil er mich bestellt hatte, wiederkam, da war er schon bei dem Geistlichen gewesen, der die Stiftung zu verwalten hatte. Ich brauchte keinen Anwalt und keinen Proceß mehr, und wieder am andern Tag hatt' ich mein Geld bei Heller und Pfennig.«
»Mich wundert nur«, bemerkte der Student, »daß ihn die Regierung so unbenutzt läßt und nicht anstellt. Er soll ein Mann von ungewöhnlichen Kenntnissen sein.«
»Das ist er auch«, antwortete Hahn. »Ihr solltet ihn einmal hören, wenn er einen armen Teufel, der im Rausch ein Wort zu viel geredet hat und dem man an den Kragen will, vertheidigt. Die andern Vertheidiger, die haben kein rechtes Herz und thun immer, als wenn's dem Gericht ein Leid sein müßte, daß sie ihm entgegen sind, aber der nimmt kein Blatt vors Maul und hat sich schon manchen Gotteslohn verdient. Das wissen die Herren eben, und weil er apart und nicht auch ist wie sie, so mögen sie ihn nicht. Er fragt aber nichts darnach, ob man ihn anstellt oder nicht, denn er kann von eigenen Mitteln leben. Drum nimmt er auch von Keinem einen Kreuzer, dem er hilft!«
»Es soll aber doch noch ein anderes Häkchen haben«, warf der Schreiber mit anscheinend gleichgültigem Tone ein. »Ich meine, ich habe einmal etwas munkeln hören, als sei er, Gott weiß wo, außer Landes zu nahe an einen Geldkasten gekommen, der ihm nicht gehörte, und habe drauf Bekanntschaft mit dem Zuchthause machen müssen.«
»Das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein«, riefen Hahn und der Schneider wie aus einem Munde. »Nur Ihr, Billinger«, fuhr der erste fort, »Ihr könnte nicht vertragen, wenn man Jemand lobt, und müßt Jedem was anhängen, wenn's auch gelogen wär'! Ihr könnt froh sein, daß es der Alte nicht gehört hat, sonst wäre die Lüge Eure letzte gewesen.«
Er zeigte bei diesen Worten nach Windreuter, der unbeweglich und in sich gekehrt, wie tief nachdenkend, unter seiner Stange saß und augenscheinlich vom ganzen Gespräche nichts vernommen hatte.
»Nun, nun«, wendete Billinger ein, indem er sich fast unmerklich zum Rückzüge anschickte, »man spricht ja nur. Ich habe es eben auch gehört und es soll mich freuen, wenn's nicht wahr ist. Uebrigens –«
»Jetzt reißt mir auch die Geduld!« rief Hahn. »Warum habt Ihr Euch denn versteckt und seid so mäuschenstill gewesen, wie er vorhin da war? Seid Ihr nur hinter seinem Rücken so beherzt? Dann packt Euch zum Teufel oder –«
Es bedurfte keiner bestimmter ausgesprochenen Drohung, denn der gelenke Schreiber sprang mit einem Satze über die Brüstung und verschwand unter lautem, nachschallendem Gelächter in der Dunkelheit.
Die Männer lagerten sich. Windreuter nahm noch immer keinen Theil; er starrte unbeweglich vor sich hin, aber so viel der flackernde Schein des Lagerfeuers erkennen ließ, waren seine Züge schmerzlich erregt und eine dicke Thräne rollte in seinen eisgrauen Bart.
Währenddessen hatte Riedl nur wenige Schritte vorwärts gemacht, als ihm Friedrich hinter einem Mauervorsprung hervor entgegentrat.
»Nun«, sagte er, indem er sich an Riedl's Arm hing, »da hast Du wieder ein Probestück gesehen und erlebt, ob und wie man sich auf das Volk verlassen kann. Wirst Du mir noch nicht Recht geben, daß mit diesen willenlosen und doch widerspenstigen Werkzeugen nichts anzufangen ist? Ich dächte, Du solltest es thun, ehe die Woge auch Dich auf dem Sande zurückgelassen hat.«
»Es ist mir lieb«, entgegnete Riedl, mit Friedrich beiseite aus dem Gedränge tretend und längs der Häuserreihe hinschreitend, »daß wir uns begegnen und daß Du den kleinen Vorfall mit ansahst. Aber schmähe mir darum das Volk nicht! Es ist eben wie ein Kind und wer wird von einem Kinde den Verstand des Mannes fordern, oder ihm zürnen, wenn es seine kindischen Neigungen wechselt? Der kluge Erzieher muß eben verstehen, es unbewußt und unbemerkt zu dem zu führen, was ihm noth thut. In diesem Sinne ist es nicht unrichtig, das Volk ein Werkzeug zu nennen, aber wenn es ein solches ist und einmal Unheil damit angerichtet wird, liegt die Schuld gewiß nicht am Werkzeug, sondern am Arbeiter, der es entweder nicht zu führen verstand oder für mehr gelten lassen wollte als für ein Werkzeug. Du stehst also, mein Lieber«, fuhr er lächelnd fort, »daß mich so etwas von der guten Meinung, die ich von meinem Liebling habe, nicht abbringt, und der ist nun einmal das Volk.«
»Als ob ich es geringer achtete!« rief Friedrich. »Will denn nicht auch ich das Beste des guten Volks?«
»Das thust Du, ehrlicher Junge«, entgegnete Riedl, Friedrichs Arm wärmer an sich drückend, »und es ist bei Gott nicht die geringste der Eigenschaften, wegen deren ich Dich so lieb habe. Aber Du bist mit all Deinem guten Willen auf dem falschen Wege. Ich habe Dir das schon oft gesagt. Du willst das Volk frei, klug und gut, also glücklich wissen, aber das Volk soll nichts dabei thun. Es soll sich fein still halten und sich beglücken lassen, wie eine Puppe, die man heute so und morgen anders ausputzt. Ich aber sage, das Volk ist kein Kind und kein Werkzeug. Das Volk hat, wie der Einzelne für sich, auch in Masse ein Recht, mitzureden, ob es das, was man ihm geben will, auch für Glück hält und ob es so beglückt sein will. Deshalb will ich, daß das Volk selbst darüber entscheide, wie es mit ihm gehalten sein soll in Allem und – doch«, rief er, inne haltend und stehen bleibend, »sind wir nicht rechte Thoren, daß wir uns hier über Theorien zanken, während uns im nächsten Augenblick die Kugeln über die Köpfe pfeifen und einen praktischen Commentar dazu geben können? Das ist ja unser alter Streit. Gefällt's Dir übrigens, weiter zu plaudern, so wollen wir uns wieder treffen, wir haben wohl noch ein paar Viertelstündchen Zeit.«
»Mir ist es genehm, aber wo finde ich Dich?« fragte Friedrich.
»Dort drüben«, war Riedl's Antwort, »ist die Schenke zum rothen Stern. Es ist zwar eine sehr untergeordnete Kneipe, aber rückwärts am Hause ist ein Gärtchen mit ein paar stattlichen Kastanienbäumen, unter denen es sich angenehm sitzt. Wir wollen eine Flasche zusammen leeren, da man doch nicht weiß, ob es nicht die letzte ist. Gehe dahin, ich suche nur noch die Wortführer der Bürger auf, die dort im Kaffeehause an der Ecke versammelt sind, und bin in einer Viertelstunde bei Dir.«
»Es sei so«, erwiderte Friedrich. Sie gaben sich die Hände und wollten sich eben trennen, als hart neben ihnen eine hohe, tief in einen Mantel gewickelte Gestalt aus dem Häuserschatten auftauchte und ebenso schnell wieder verschwand.
Riedl hatte sie bemerkt. »Höre«, sagte er, »es kommt mir vor, als wären unsere Gegner sehr thätig; jedenfalls sind wir hier behorcht worden. Drum sieh Dich vor für alle Fälle. Bist Du bewaffnet?«
»Nein. Ich hielt es für unnöthig.«
»So nimm diesen Life-Preserver. Er wird Dir Dienste thun. Das ist bei Gott keine der schlimmsten Erfindungen, die wir Amerika verdanken!«
Damit trennten sich die Beiden und Friedrich trat kurz darauf in die Schenke zum rothen Stern. Durch die dunkle Hausflur, auf welcher die stattgehabte Zerstörung sehr merkliche Trümmerspuren zurückgelassen hatte, gelangte er in das Gärtchen. Die breiten, undurchdringlich belaubten Bäume verbreiteten hier eine solche Dunkelheit, daß ein paar an Pfosten angebrachte Oellampen nur die allernöthigsten Contouren der vorhandenen Personen und Gegenstände zu beleuchten vermochten.
In der Nähe der einen Lampe saßen zwei gefährlich aussehende Kerle in abgerissenen Kleidern, welche Karte spielten und den Eintretenden anscheinend keines Blickes würdigten.
Unweit davon saß in einer Art von Halbschlummer die Tochter des Hauses, ein mattes, abgelebtes Geschöpf mit schlaffen Zügen und gläsernen Augen. Sie bediente Friedrich, indem sie eine Flasche vor ihn hinstellte, und versank dann in ihrer Ecke wieder in den vorigen traumhaften Zustand.
Auch Friedrich saß in sich gekehrt und nachdenkend da und bemerkte nicht, daß beinahe unmittelbar nach ihm noch ein Gast in das Gärtchen getreten war. Es war dieselbe hohe Gestalt im Mantel, welche ihm schon vorhin in den Weg gekommen und Riedl zur Mittheilung der Waffe veranlaßt hatte. Jetzt stand dieselbe im tiefsten Schatten der Bäume unmittelbar hinter Friedrich und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Friedrich!« rief eine weiche, halb unterdrückte, aber sehr wohlklingende Stimme unter dem dicht verhüllenden Hute hervor.
Friedrich wollte überrascht aufspringen, aber er fühlte sich sanft zurückgehalten und die Stimme wiederholte ebenso: »Kein Aufsehen, Friedrich! Kennen Sie mich nicht mehr?«
Bei diesen Worten hatte die Erscheinung den Hut in etwas gelüftet und auch den Mantel minder straff angehalten, sodaß die Züge des bis dahin fast ganz verdeckten Gesichts sichtbar wurden.
»Darf ich meinen Augen und Ohren trauen?« flüsterte Friedrich halblaut. »Ich habe nur eine solche Stimme gehört in meinem Leben. Primitiva – Fräulein – sind Sie es wirklich?«
»Ich bin es«, erwiderte diese. »Bleiben Sie ruhig. Ich will mich zu Ihnen setzen, so wird meine Anwesenheit am mindesten auffallen. Ich habe Ihnen viel zu sagen und meine Zeit ist kurz.«
»Aber ich begreife nicht! Sie hier, bei mir, in dieser Kleidung und eben jetzt!«
»Das soll Ihnen bald Alles deutlich sein. Ich habe Sie aufgesucht und deshalb die allgemeine Unruhe benutzt, in der ich unbemerkt und unerkannt zu bleiben hoffen durfte.«
»Sie spannen meine Neugierde aufs höchste. Was kann, was soll ich thun?«
»Ich habe auf Sie gerechnet, Friedrich; ich that es in Erinnerung schöner, glücklicher Tage.«
»O, mir werden sie die schönsten bleiben für mein ganzes Leben!«
»Wirklich?« hauchte Primitiva, und dem Tone ihrer Stimme war eine Bewegung anzuhören, die sie nicht unterdrücken zu können schien. »Nun, dann werden Sie mich nicht vergebens bitten lassen.«
»Reden Sie!«
»Sie wissen, was in der Stadt vorgeht, und kennen mich wohl genug, um zu wissen, daß mein Herz dabei bluten muß. Sie wissen aber vielleicht nicht, daß man bei Hofe entschlossen ist, es aufs Aeußerste ankommen zu lassen.«
»Unmöglich! Der sonst so gerechte Herzog –«
»Er steht unter dem Einflusse der Herzogin, seiner Mutter, der er aus kindlichem Respekt nicht entgegen sein will, und welche selbst wieder, ohne es zu wissen, unter Einflüssen der gefährlichsten Art steht. Sie können mir glauben, da ich in ihren Diensten und stündlich um sie bin. Einer untergegangenen Zeit und deren Ansichten angehörend, hat sie keinen andern Wunsch und keinen andern Gedanken mehr als den, die Macht und Würde ihres Hauses in der ganzen alten Stärke und Reinheit zu erhalten. Jedes Nachgeben erscheint ihr als ein Vergehen an diesen, und diese Ansichten haben sich durch den Zustand der Halbblindheit, in dem sie sich, wie Ihnen bekannt, befindet, und durch die mit ihrem hohen Alter zusammenhängende erhöhte religiöse Richtung zu einer verknöcherten Schroffheit gesteigert, die keinen Widerspruch zu ertragen vermag!«
»Leider sagen Sie mir mit alledem im Grunde nur Bekanntes! Aber was ist zu thun?«
»Hören Sie mich zu Ende und hören Sie auch etwas Ihnen noch Unbekanntes. Der Herzog hat die Deputation der Bürger abgewiesen.«
»Entsetzlich! Welch unabsehbares, unaufhaltsames Unheil wird daraus entstehen!«
»Nur zu wahr! Der Herzog schien von den Bürgern schon umgestimmt, er schien bereits ein Wort der Milde aussprechen zu wollen, als ein Billet der Herzogin Alles rückgängig machte. Ich kenne den Inhalt desselben, denn mir, ihrer vertrauten Schreiberin, hat sie es in die Feder dictirt. Es mag Ihnen genügen, wenn ich sage, daß er die ärgsten Besorgnisse rechtfertigt. Urtheilen Sie, welche Angst mich ergriff, als ich die meinem Herzen so sehr widerstrebenden Zeilen schreiben, als ich das unheilvolle Blatt aus den Händen geben und selbst die Entscheidung, die ich verabscheue, herbeizuführen helfen mußte!«
»Ich fühle es in diesem Augenblick doppelt mit Ihnen!«
»Lange sah ich mich vergebens nach einem Mittel der Rettung um! Mir war wie einem, der, in einen Abgrund gestürzt, nun von den schroffen Wänden desselben umgeben ist und in vergeblichen Versuchen, daran emporzuklimmen, sich die Hände zerfleischt! Und geholfen mußte doch werden! Da mit einem Male – ich kann nicht sagen, wie ich darauf verfiel – stand das einzige Rettungsmittel hell vor mir da! Es galt, einen Einfluß zu finden, der dem der Herzogin, wenn er ihn auch nicht aufzuwiegen vermöchte, doch das Gegengewicht hielte und wenigstens die äußersten Möglichkeiten verhinderte. Solchen Einfluß kann nur der Erbprinz haben.«
»In der That! Auch ich glaube, daß er der Mann dazu wäre, und habe seine Abwesenheit lebhaft bedauert.«
»Deshalb war es mein einziges Sinnen, ihn herbeizubringen. Er mußte wissen, was hier vorgeht, aber nun begann die neue größere Schwierigkeit, wie ihn davon unterrichten! Am Hofe wußte ich Niemand, dem ich Vertrauen schenken konnte. Suchen durfte ich Niemand, ohne meine Stellung und mich selbst preiszugeben. Ebenso wenig konnte ich mich mit der Hoffnung begnügen, daß der Prinz vielleicht durch öffentliche Nachrichten oder sonstwie Kunde des Geschehenden bekommen werde. Da, mitten in meiner ärgsten Rathlosigkeit, stand Ihr Bild vor meiner Seele. Ich wußte, daß Sie mein Vertrauen nicht zu täuschen im Stande wären, wenn wir uns auch seit Jahren nicht gesehen haben; sogleich war ich entschlossen, Sie aufzusuchen, und Dank dem Himmel, daß ich Sie gefunden!«
»Sie sollen sich auch in mir nicht betrogen haben, mein Fräulein. Bezeichnen Sie mir den Aufenthaltsort des Prinzen und ich eile, Ihre Befehle zu vollziehen!«
»Ich habe es mit Zuversicht erwartet, Sie so bereit zu finden. Der Prinz lebt jenseits unserer Grenzen auf dem Jagdschlosse, das er sich aus der ehemaligen Propstei St.-Wendelin eingerichtet hat. Eilen Sie zu ihm! Wenn er sich auch im Ganzen völlig zurückgezogen hält, so wird es doch Ihnen gelingen, sich Eingang zu verschaffen. Sie waren ja, wie man erzählt, früher in seiner Umgebung. Erzählen Sie, sagen Sie ihm Alles, bewegen Sie ihn, sogleich hierher zu kommen, und seien Sie meines lebhaften Dankes – doch was gilt der in solcher Sache! – seien Sie des Dankes von Millionen gewiß.«
»Mich, mich lassen Sie Ihnen danken, Primitiva!« rief Friedrich und faßte begeistert die Hand der schönen Rednerin, deren Wangen von dem Widerschein einer schönen Erregung glühten. »Sie zeigen mir als erreichbar, was der stolzeste und kühnste Wunsch jedes Mannes ist. Ich reise noch in dieser Stunde, und seien Sie gewiß, wenn, es irgend möglich, so erfülle ich Ihren Wunsch. Und wird mir dann erlaubt sein«, fuhr er mit etwas gesenktem Tone fort, indem er einen zärtlich ehrerbietigen Kuß auf die schöne Hand drückte, die er hielt, »Ihnen meinen Erfolg berichten zu dürfen oder werden Sie wie bisher für mich unsichtbar und nicht vorhanden sein?«
»Sie sehen ein«, erwiderte Primitiva, und in ihrer Stimme wurde wieder jenes weiche Zittern wahrnehmbar, das schon mehrmals in ihren Worten durchgeklungen hatte, »daß Niemand unser Einverständniß ahnen darf. Wir dürfen also in keine irgend wahrnehmbare Verbindung zu einander treten. Darum sagen wir uns in dieser Stunde wieder Lebewohl für immer, wenn uns nicht die Gewalt der Umstände ein Wiedersehen gestattet, so unvermuthet wie das heutige.«
»Ich hoffe darauf.«
»Hoffen Sie immer, wenn es Ihnen Freude macht. Doch wozu uns wiedersehen? Wann und wo es auch wäre, wir würden uns als dieselben wiederfinden, und wären die Umstände noch zehnmal mehr von den heutigen verschieden, als es diese von jenen sind, da wir zum letzten Male zusammen waren. Wissen Sie noch? Es war auf dem Schlosse meines Vaters; Sie waren mit meinem Bruder den Herbst über da gewesen und sollten tags darauf miteinander wieder in die Stadt zu Ihren Studien abgehen. Die wenigen Monate täglichen Zusammenseins hatten das freundschaftliche Band, das Sie mit Karl vereinte, auch um mich geschlungen. Ich war die Dritte in Eurem Bunde, die Genossin Eurer Studien, die Gefährtin Eurer Pläne, die Pflegerin Eurer Ideale.«
»O Primitiva«, rief Führer im höchsten Grade erschüttert und bedeckte sein Antlitz mit den Händen, »welche Bilder rufen Sie vor mir herauf!«
»Es sind gute Genien, mein Freund!« antwortete diese und ihre Stimme zitterte hörbarer. »Wohl ist es vielfach anders gekommen, als wir dachten! Karl, der blühende, hoffnungsvolle Jüngling, ist dem schönen Vereine schon seit mehr als zehn Jahren durch den Tod entrissen, ich, damals schwach und leidend und wenig Hoffnung bietend, habe ihn in all seiner Kraft überlebt, und Sie –«
Primitiva hielt inne, denn die Bewegung Führer's hatte einen solchen Grad erreicht, daß seine Pulse flogen und die Brust unter der Last der gewaltsamsten Athemzüge zu bersten drohte.
»Und ich«, rief er nun, mit einem Male seinen Gefühlen Luft machend, »ich bin der unglücklichste aller Menschen! O Primitiva, diese Erinnerungen – o warum habe ich Sie nicht früher wiedergesehen!«
»Was sagen Sie!« rief Primitiva, indeß hohe Glut ihre Wangen überflog. »Nicht doch, Friedrich! Sie sind im Begriff, sich selber zu täuschen! Wer seine Pflicht getreu thut, kann der jemals unglücklich sein? Kann es ein Mann mit Ihrem Geiste? Erfüllen Sie getreu Ihre Pflicht und gehen Sie die betretene edle Bahn weiter. Denken Sie«, rief sie und erhob sich, ihm mit unbeschreiblichem Ausdruck ins Auge sehend, »daß ja der Geist keine Grenzen hat, daß das Bewußtsein schönere Schätze bietet, als man besitzen kann! Denken Sie, daß ein Heiligthum entweiht würde, wenn es aus gesprochen würde – und vergessen Sie meiner nicht!«
Friedrich fühlte einen innigen, flüchtigen Kuß auf seiner Wange, aber ehe er ein Wort der Erwiderung finden konnte, war das Fräulein verschwunden und die Bäume des Gärtchens, von einem raschen Windstoß bewegt, rauschten über seinem einsamen Haupte.
In tiefes Sinnen versenkt und doch in unverkennbarer Bewegung traf ihn Riedl, der fast unmittelbar nach Primitiva's Entfernung unter der Thür erschienen war und der Davoneilenden befremdet durch den Hausgang nachsah.
»Sieh doch!« rief er. »Ich will meine guten Augen verwetten, wenn das nicht die Figur war, die uns vorhin behorchte. Und zudem müßte ich mich sehr irren, wenn das, nach dem Gange zu urtheilen, nicht ein verkleidetes Frauenzimmer ist!«
»Was fällt Dir ein!« entgegnete Führer in sichtbarer Verwirrung.
»Ei, Du bist auch ganz erhitzt und außer Dir! Das begreife ich in der That nicht! Du, ein Muster guter Sitte und solch ein Abenteuer in den Bräutigamstagen?«
»Ich sage Dir, Du irrst!« widerholte Friedrich. »Wie. käme ich dazu! Es war –«
»Nun, laß nur«, wandte Riedl lachend ein. »Es ist gut, daß Dich nicht Deine Braut so überrascht hat, Du würdest Dein Examen herzlich schlecht bestanden haben.«
»Aber ich versichere Dir –«
»Bemühe Dich nicht. So viel ist mir klar, daß nach dieser Seite hin der Life-Preserver überflüssig war.«
»Nun denn, ja, ich will es Dir gestehen, es ist Mir etwas Außerordentliches begegnet, aber ich muß schweigen darüber.«
»In der That? Nun, Du bist dann wohl auch nicht in der Laune, unser Gespräch von vorhin fortzusetzen?«
»Du hast Recht. Auch fehlt es mir an Zeit – ich muß diese Stunde noch verreisen.«
»Wie, so plötzlich? Und ohne daß man wissen darf, wohin?«
»Es ist nicht mein Geheimniß allein, darum entschuldige –«
Riedl sah Führer, der ihm gegenüber stand, einen Moment durchdringend ins Gesicht. »Du weißt«, sagte er dann, »ich kann die Geheimnißkrämerei nicht leiden, am allerwenigsten bei Freunden. Drum sage ich Dir geradezu, Du bist Herr Deiner Handlungen, aber ich verhehle Dir nicht, daß ich in der vermummten Person eine Dame vom Hofe zu erkennen glaubte.«
»Nimmermehr! Wie kommst Du darauf?« entgegnete Friedrich verwirrt.
»Deine Verneinung überzeugt mich, daß ich recht vermuthet habe. Sei übrigens unbesorgt, ich kann schweigen – aber was muß ich von Dir glauben? Junge, wenn ich denken müßte, daß Du Dich in Kabalen einlassen, daß Du Dich erniedrigen könntest – bei meiner Ehre, so lieb ich Dich habe, es wäre aus mit uns beiden!«
»Sei deshalb außer Sorgen«, rief Führer. »Ich bin bald zurück und ich denke, Du sollst mit mir zufrieden sein!«
»Gott gebe, daß es so sei, und erspare mir den Schmerz, auch Dich zu den Verlorenen werfen zu müssen!«
Er wollte noch mehr hinzufügen, als es auf den benachbarten Thürmen die neunte Stunde zu schlagen begann. Unwillkürlich hielten beide lauschend den Athem an und zählten die entscheidenden Schläge. Mit dem letzten erhob sich ein ferner, immer stärker anschwellender Trommelwirbel, mit dem Brausen unzähliger Stimmen vermischt.
»Es schlägt«, sagte Riedl nach kleiner Pause, dem Freunde die Hand schüttelnd. »Bis neun Uhr sollte auf die Rückkehr der Deputation gewartet werden – die Zeit ist um. Laß nun Jeden seinen Weg gehen und sehen, wohin er führt!«
Damit eilten beide Männer in den wachsenden Tumult hinaus. Im Weggehen blieb Friedrich's Auge, da er auf die Stelle seines Zusammentreffens mit Primitiva zurücksah, an einem glänzenden Gegenstand haften, der hart daneben am Boden lag. Hinzutretend erkannte er, daß es eine blaßrothe Bandschleife war die Primitiva entfallen sein mußte. Einen Augenblick betrachtete er sie mit nachdenklichem Blick, schob sie dann rasch und wie mechanisch in den Busen und eilte Riedl nach.
Einige Sekunden später warfen auch die Spieler die Karten hin und erhoben sich.
»Hast Du gehört«, sagte der eine mit heiserem Lachen, während sie durch den Hausgang schlüpften, »die Zeit ist da! Wir wollen auch unsern Weg gehen, wir wissen doch wenigstens, wohin er führt.«