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Erstes Kapitel.
Ein stilles Haus

In ein unscheinbares Gäßchen der Hauptstadt, dessen Häuser mit der Rückseite sich an die alte Stadtmauer und den frühem Wallgraben anlehnten, rollte an einem heitern Sommervormittage langsam ein einfacher, wohlbepackter Reisewagen.

Eine solche Erscheinung gehörte in dem abgelegenen Stadttheile zu den Seltenheiten und machte deshalb die Neugierde der gesammten Einwohnerschaft rege, die meist aus armen Handwerkern und Tagelöhnern bestand. Manch halb erblindetes, halb verklebtes Fensterchen der dumpfen, niedrigen Erdgeschosse öffnete sich und ließ verschiedene Köpfe sichtbar werden, die dem Fuhrwerk nachblickten und sich ihre Bemerkungen über dasselbe und über dessen Ziel ziemlich laut und rückhaltlos zuriefen.

In der Mitte des Gäßchens hielt der Kutscher an. Während er einen hagern, blassen Mann mit schlicht herabhängendem, fahlblondem Haar, der in einer Thür stand, nach dem Hause der Frau Räthin Führer befragte, ward am Kutschenschlage ein Mädchengesicht von überraschender Schönheit sichtbar. Eine Alte, die nebenan zum Fenster heraussah und schon den Mund aufgemacht hatte, um dienstfertig die nicht an sie gerichtete Frage zu beantworten, verstummte bei dem Anblick, und eine andere Frauengestalt, die hinter ihr im halbdunklen Zimmer sichtbar geworden war, trat unter die Hausthüre neben den Gefragten, um die Dame im Wagen besser betrachten zu können.

»Die Frau Räthin«, sagte der Blasse in der Weberschürze, »wohnt da vorne am andern Eingang des Gäßchens. Sie werden aber das Haus nicht leicht finden. Du könntest wohl mitgehen, Cilli, und es zeigen.«

Die Angeredete, in ein schlichtes, aber sorgfältig rein gehaltenes Röckchen von ausgewaschenem Kattun gekleidet, hatte ihr bleiches Gesicht, das die unverkennbaren Spuren ehemaliger hoher Schönheit trug, bis zu diesem Augenblick unverwandt auf das im Wagen sitzende Mädchen gerichtet. Dabei hatten ihre Züge immer mehr den Ausdruck eines tiefen, neidisch grollenden Hasses angenommen, sodaß sich das Mädchen, unangenehm davon berührt, in den Wagen zurücklehnte.

Ohne ihre Stellung zu ändern, murrte sie halblaut vor sich hin: »Ich hab' keine Zeit und mach' auch Niemand den Bedienten.«

»So soll der Richard mitgehen«, rief der Mann, etwas rasch und mit einer leichten Röthe auf dem blassen Gesichte. Er pfiff auf den Fingern, aber erst auf den zweiten Ruf kam ein etwa sechsjähriger Knabe aus der Ecke, wo er im Schmutz gespielt hatte, verdrossen herbei und ging schläfrig dem Wagen voran. Dieser polterte ihm über das schadhafte Straßenpflaster langsam nach und hielt endlich auf seinen Wink vor einem großen verschlossenen Hofthore still. Der Junge zog die Klingel, die einen hallenden Ton von sich gab, und trat dann an den Kutschenschlag, um die blanke Silbermünze in Empfang zu nehmen, welche ihm das Mädchen zur Belohnung seiner Mühe bot. Die Frage nach seinem Namen hörte oder beachtete er nicht; hastig ergriff er das Geldstück und war mit einem scheuen, listigen Blick auf die Fragende mit einem Satze entsprungen.

Ein alter Mann mit weißem, halb kahlem Kopfe und einer grünen Gartenschürze hatte inzwischen das Thor geöffnet und der Wagen verschwand bald in dem geräumigen, mit Bäumen besetzten Hofraum.

Die Leute im Gäßchen hatten indessen über den Wagen und das Frauenzimmer darin fortgeplaudert. »Wird wohl eine Verwandte der Räthin oder gar die Braut ihres Sohnes, des Professors, sein«, sagte der Weber.

»Wohl möglich«, erwiderte aus dem Fenster die Alte; »es heißt ja immer, daß er bald Hochzeit macht.«

»Na, ich will ihm alles Gute gönnen«, erwiderte jener, »er ist ein Ehrenmann. Hättest auch nicht Noth gehabt, so grob zu sein mit dem Frauenzimmer«, fuhr er dann, zu dem neben ihm stehenden Mädchen gewendet, fort.

»Geht's' Dich was an, Friedel?« entgegnete diese roh und trat ins Haus, die Thür hinter sich zuschmetternd.

»Eure Schwester«, meinte ein großes, stämmiges Weib, das, einen Säugling auf dem Arme, sich zu der Gruppe gesellt hatte, »die Cilli, wird doch jeden Tag unfreundlicher und wilder. Ihr solltet's nicht leiden, Nachbar Will! Ihr seid doch der Bruder.«

»Ich hab' keine Macht über sie«, antwortete der Mann, »ich muß sie leider gehen lassen.«

»Na, meinetwegen«, fügte die erstere hinzu, »mir kann's recht sein. Aber habt Ihr's schon gehört, Nachbar? Es soll nicht richtig sein drinnen in der Stadt.«

»Nicht richtig? Was meint Ihr, Kräutlerin?«

»Ei, stellt Euch doch nicht, als ob Ihr das nicht wüßtet. Sie wollen die neue Steuer nicht leiden und wollen –«

»Sie sollten's nicht thun, Nachbarin, und sollten ruhig bleiben, das mein' ich! Sie machen das Uebel nur schlimmer. Uns armen Leuten kann doch Niemand helfen als der im Himmel droben. Behüt' Euch Gott, Kräutlerin!«

Damit wendete er sich dem Hause zu und das Weib ging die Straße entlang. Die Fenster schlossen sich und bald war es in dem Gäßchen wieder so einsam und still wie zuvor.

Während dessen war die Fremde im Hofraume aus den Wagen gestiegen und von einer ältlichen Frau in einfachem Hauskleide bewillkommt worden. Sie war in der That eine imposante Erscheinung, und die schönen, vollkommen reinen Verhältnisse der Gestalt sowohl als des Kopfes traten nun erst in vollem Lichte hervor. Sie war groß und wohlgebaut, und die schlanke Form ihres Körpers ward durch ein anschließendes Kleid von ungefärbter Naturseide vortheilhaft hervorgehoben. Das reizende Oval des Kopfes war von einer Fülle braunen Haares umgeben, das in reichen natürlichen Locken um das Gesicht hing und dazu diente, die bräunliche, mit feinem, durchsichtigem Roth überhauchte Farbe des letztern zu heben. Der kleine, fein geschnittene Mund und das mit eigenthümlichem Reize gerundete Kinn gaben dem Gesichte einen fast kinderhaft lieblichen Ausdruck; in den großen blauen Augen aber, die unter der fein gewölbten Stirn und den langen, sanft gesenkten Wimpern auftauchten, leuchtete es wie von Funken einer verborgenen, tief im Grunde schlafenden Glut. Ein leichtes rothseidenes Umschlagetuch, das über den Nacken hinabgeglitten war und ein feiner, mit einem Gewinde von künstlichem Immergrün umflochtener Strohhut, den sie in der Hand trug, rundeten den Eindruck der ganzen Erscheinung wohlgefällig ab.

Die ältliche Frau war ihr an den Wagen entgegengeeilt und bot ihr freundlich die Hand. »Seien Sie mir herzlich willkommen!« rief sie mit unverkennbarer und unverhohlener Freude. »Ich frage nicht, ob Sie die sind, die wir in unserm stillen Hause erwarten. Sie müssen es sein, denn mein Friedrich hat mir Ihr Bild so oft vorgemalt, daß ich Sie unter Hunderten erkannt haben wollte. Aber kommen Sie doch herauf in die Stube, liebes Fräulein. Sie werden müde sein von der Reise. Seh' Er zu, Joseph, daß die Sachen des Fräuleins bald hinauf kommen – weiß Er wohl? In die grüne Stube links! Kommen Sie, kommen Sie, liebe – Ulrike heißen Sie! Nicht wahr?«

»Ich danke Ihnen herzlich, Frau Räthin«, erwiderte Ulrike, indem sie ins Haus folgte. »Sie empfangen mich auf so herzliche Weise, daß jede Besorgniß von meinem Herzen schwinde und ich kann es Ihnen nicht verbergen, daß es mir immer schwerer und banger zu Muthe ward, je näher ich dem Ziele meiner Reise kam.«

»Kann mir's denken, Herzchen, kann mir's denken«, rief die Räthin freundlich. »Wenn man dem Bräutigam und der Hochzeit entgegenfährt, muß es einem wohl ein bischen enge um die Brust werden. Aber nun lassen Sie alle Sorgen schwinden. Sie sind ja zu Hause.«

»Aber wo ist Friedrich? Hat er mich nicht erwartet?« fragte Ulrike, als sie die Treppe hinaufgestiegen waren und ihnen auch hier der Bräutigam nicht entgegentrat.

»Ei, der ist um diese Zeit nie daheim!« antwortete die Räthin. »Da ist er in der Universität und hält Vorlesung. Freilich, hätten wir gewiß gewußt, daß Sie heute kämen, dann würde er sich wohl frei gemacht haben, aber so läßt er keine Stunde aus.«

Damit waren die Beiden am Ende des langen und breiten Ganges und vor der Thür des Wohnzimmers angekommen. Die Räthin öffnete und langte sogleich mit der einen Hand in das am Thürgerüste hängende Weihwasserkesselchen.

»In Gottes Namen«, sagte sie, indem sie Ulrike mit einigen Tropfen besprengte und ihr mit dem Daumen das Kreuzzeichen auf die Stirn schrieb. »Lachen Sie mich nicht aus, ich bin eben noch von der alten Welt und habe meinen alten Glauben lieb. Seien Sie mir denn herzlich willkommen, meine liebe Tochter, und Gott segne ihren Eingang.«

Die einfache Weise der guten Frau hatte Ulrike, obwohl ihr anfangs ein Lächeln um die Lippen schwebte, so ergriffen, daß sie ihr gerührt in die Arme sank. »Ja, seien Sie mir Mutter ich bin ja nie so glücklich gewesen, eine zu haben!« rief sie aus, indem ihr rasche Thränen über die blühenden Wangen rollten.

»Das will ich auch sein, mein Herzchen«, erwiderte begütigend die Räthin, »aber weinen Sie darum nicht! Ich weiß wohl, was Sie meinen, denn mein Sohn hat mir Alles erzählt. Aber jetzt wollen wir an nichts Trauriges denken. Friedrich muß bald kommen, er soll nicht gleich Thränenspuren in Ihren schönen Augen sehen. Kommen Sie«, fuhr sie fort, indem sie ihr die Thränen mit einem Tuche sorgsam abwischte, »machen Sie sich's nun bequem. Ich lasse Sie einen Augenblick allein, um nachzusehen, ob auf Ihrem Zimmer Alles in gehöriger Ordnung ist. Wenn Sie nun bald selbst eine Frau sind, werden Sie selber erfahren, wenn Sie es noch nicht wissen, wie wenig man sich auf das Gesinde verlassen kann. Ich bin bald wieder bei Ihnen.«

Sie ging und ließ Ulriken allein, die, von vielerlei Eindrücken und Empfindungen bestürmt, den Augenblick gern benutzte, um mit sich selbst ins Klare zu kommen und sich zu sammeln. Sie hatte die Reise mit frohem Entschlusse und in heiterster Stimmung angetreten und wußte sich selbst nicht zu erklären, warum sich ihrer während derselben und namentlich gegen das Ende zu eine gewisse Bangigkeit bemeistert hatte, die sich auch jetzt noch nicht verscheuchen lassen wollte. »Ich weiß nicht, wie mir ist!« sagte sie vor sich hin, indem sie sich an eins der Fenster auf den erhöhten Antritt setzte. »Wenn ich an Ahnungen glaubte, könnte mir diese Empfindung an diesem Orte fast von schlimmer Vorbedeutung sein. Was ist es nur, das mich beängstigt? Ich liebe Friedrich, er liebt mich wieder; er ist ein braver Mann, an dessen Seite mein Glück gewiß ist – es ist nichts als eine Thorheit, Aufregung des Blutes von der Reise her und« – setzte sie mit einem Blick auf das Zimmer hinzu – »diese düstere Umgebung vielleicht, an die man sich erst gewöhnen muß!«

Sei es nun, daß sie wirklich den Grund ihrer Unruhe errathen hatte, oder daß die mit dem Nachdenken über einen Gemüthszustand allemal verbundene Klarheit ihr Ruhe gab: sie fühlte sich etwas erleichtert und begann mit ziemlich gefaßtem Auge die Umgebung zu betrachten.

Das Haus selbst war in der alten bequemen Art des vorigen Jahrhunderts gebaut. Wenn man aus dem engen, finstern Gäßchen eintrat, überraschte es durch sein wohnliches Aussehen und durch den angenehmen Gegensatz, den seine grauen Steinwände mit dem dunklen Grün der dasselbe überragenden Lindenbäume bildeten und mit dem lichtern des rings herum gezogenen Buschwerks. Auch die braunrothen Ziegelwände der beiden Stadtmauern, in deren Zwischenraum Haus und Garten sich einschmiegend hindehnten, waren mit Reben und andern Rankengewächsen bekleidet, sodaß der ganze eingeschlossene Raum den Charakter eines heimlichen, in fast klösterlicher Abgeschiedenheit aufgeblühten reizenden Freudenwinkels trug, der ein genügsames Herz wohl vergessen machen konnte, daß das Auge über seine Begrenzungen wie über die Mauern eines Gefängnisses nicht hinauszureichen vermochte. Das Gebäude hatte ursprünglich einen Theil eines Kapuzinerklosters gebildet, jetzt aber waren die Spuren dieser frühem Bestimmung bis auf einige mit Absicht geschonte Verzierungen und Steinarbeiten dem Bedürfnisse der Familie und der Häuslichkeit gewichen.

Denselben ernst-freundlichen Eindruck machte auch das Innere des Hauses, nur war er hier durch die Einrichtung der Zimmer noch gesteigert. Alles Geräthe gehörte in Form und Stoff einer untergegangenen Zeit an. Zu dem braunen Holzgetäfel, das rings bis zu einem Drittheil der Höhe an der Wand herumlief, paßten vollkommen die mächtigen dunklen Schränke mit sonderbar geschweiften Kanten und zierlich eingelegter Arbeit. Ueber dem hohen, schmalen Wandspiegel an der Mittelwand thürmte sich eine mächtige, in Holz geschnitzte und vergoldete Verzierung, mit den Enden in den weiten, faltigen Vorhängen verlaufend, die zu beiden Seiten bis zum Boden herabfielen und die tiefen Fensternischen dämmerig verhüllten. Gegenüber, oberhalb des breiten Tisches, dessen Marmorplatte von vier zierlich geschnörkelten Hirschläufen getragen ward, thronte auf einem Gesimse eine hohe Standuhr, deren langer Perpendikel mit eintönigem Schlage die Minuten abmaß. Ein paar alte Oelbilder, Familienglieder vorstellend, welche einst mit dem Hausrath, der sie nun so lange überlebte, jung gewesen waren, vollendeten das Ganze. Wenn die Räthin, still mit ihrer Arbeit beschäftigt, oder in dem Buche lesend, das in schwarzes Leder gebunden und mit Silber beschlagen auf dem Fenstergesimse lag, in dem Zimmer saß, so war es, als sei die Zeit um einige Jahrzehnte zurückgeschraubt, oder als wäre mitten in der Gegenwart ein Stück Vergangenheit wohl erhalten zurückgeblieben. Um so größer war der Abstand, den Ulrikens im Aeußern sowohl als in ihrem eigentlichen Wesen völlig moderne Erscheinung zu dieser Aeußerlichkeit bildete.

In ihren Betrachtungen wurde Ulrike durch den alten Mann gestört, der ihr bei ihrer Ankunft in der Gartenschürze entgegengekommen war. Jetzt hatte er einen altväterischen, etwas verblaßten Rock angezogen und das weiße Haar zierlich gescheitelt. Alles ließ entnehmen, daß er ungewöhnliche Aufmerksamkeit darauf verwendet hatte, sich zu putzen; es schien ihm daran gelegen, einen guten Eindruck zu machen.

Er trat Ulrike mit einem steifen Bückling näher.

» Con permissione, Signora«, sagte er, indem er ihre Hand ergriff und ehrerbietig küßte.

»Was wollen Sie?« rief Ulrike überrascht. »Wer sind Sie?«

»Ich wollte mich Signora empfehlen«, erwiderte jener in etwas gebrochenem Deutsch; »ich bin der alte Diener des Herrn Professors.«

»Ich danke Ihnen«, entgegnete Ulrike freundlich. »Sie sind kein Deutscher, wie es scheint?«

» Io son Italiano, son un compatriota di Roma«, erwiderte, sich in die Brust werfend, der Alte. »Aber ich sein schon mit dem Vater von die Herr Professor kommen nach Deutschland.«

» Come?« fragte Ulrike. » E non avete riveduta mai la vostra bella patria?«

Das Angesicht des Alten leuchtete. »O«, rief er entzückt, » Signora parla italiano? Oh, che gran giojo per me! No Signora«, fuhr er dann schnell wieder traurig fort, » non ho riveduto mai la mia bella patria – non la rivedro mai! Oh questo suono della mia dolcissima lingua! Quanto é lungo tiempo ahe non l'ho udito. E voi, la sposa del mi figlió lo carissimo, del mio – ma Sie verzeihe – ich vergesse mich –«

»Nicht doch, Sie sollen immer Ihre Muttersprache mit mir reden, wenn es Sie so sehr freut. Ihr Name?«

»Die Frau Räthin nennen mich Joseph. Aber in Rom, meiner Heimat, hieß ich Beppo.«

Die Klingel des Hofthors unterbrach das Gespräch. Beinahe gleichzeitig eilte die Räthin hastig herein.

»Das ist mein Sohn«, rief sie, »das ist Friedrich! Geh' Er hinab, Joseph, und mach' Er die Thür auf. Aber daß Er mir ja nichts von unserm Gaste da merken läßt! Hört Er's, Er alte Kinderklapper? Wir wollen ihn überraschen!«

Der Alte eilte hinweg und die Räthin drängte Ulrike hastig zur, Seitenthür. »Da hinein«, sagte sie, »es ist Friedrich's Studirzimmer. Da warten Sie, bis ich Ihnen ein Zeichen gebe – und verderben Sie ja meine Freude nicht!« Ulrike gehorchte mit hochklopfendem Herzen und die Thür fiel zu, als gerade auf dem Gange der hastige Tritt eines Mannes hörbar wurde.

Der erste Blick auf den eintretenden Sohn zeigte der Räthin, daß er in nicht angenehmer Stimmung heimkam. Bei der außerordentlichen zärtlichen Liebe, die sie zu ihrem Einzigen trug, reichte die Wahrnehmung eines Wölkchens auf seiner Stirn hin, sie besorgt und dessen, was sie vorhatte, fast vergessen zu machen. Sie erwiderte seinen kurzen, aber herzlichen Gruß mit der halb ängstlichen Frage: »Du kommst früher als gewöhnlich, mein Sohn, hast Du Deine Vorlesung heute so bald beendigt?«

»Ja«, antwortete Friedrich, »ungewöhnlich bald, denn ich habe gar nicht gelesen. Ich hätte nur leere Bänke vor mir gehabt, meine Zuhörer waren nach allen vier Winden zerstreut, um den Lärm in der Stadt nicht zu versäumen.«

»So? Was gibt es denn in der Stadt?«

»Große Aufregung, liebe Mutter. Alle Plätze und Straßen stehen voll müßiger Menschen. Sie wissen wohl, die Einführung der neuen Verbrauchssteuer hat böses Blut gemacht.«

»Heiliger Gott«, rief erschreckt die Mutter, »es wird doch kein Unglück abgeben?«

»Ich wollte, daß ich Ihre Besorgniß widerlegen und nein sagen könnte, aber ich fürchte allerdings, daß es zu ernsten, vielleicht zu sehr ernsten Auftritten kommen wird.«

»Du machst mir angst, Friedrich!«

»Das Volk ist sehr gereizt, denn die Maßregel trifft tief und trifft die Massen; die Regierung aber scheint entschlossen, nicht nachgeben zu wollen!«

»Was soll aber daraus werden? Sie werden es doch nicht wagen, sich gegen ihre Obrigkeit aufzulehnen?«

»Nach den drohenden Mienen, die man sieht, nach den entschlossenen Reden, die man fallen hört, scheinen sie es allerdings auf eine gewaltsame Entscheidung ankommen lassen zu wollen!«

»Die Unglücklichen! Gott soll jeden guten Christenmenschen vor derlei bewahren! Wohl dem, der sein eigen Haus und Herd hat in solcher Zeit und nicht nach dem zu fragen braucht, was draußen vorgeht. Ich wollte, Du wärest auch schon so weit!«

»Eigenen Herd!« rief Friedrich, sich aus dem Lehnstuhl, in den er sich geworfen, aufrichtend und mit hastigen Schritten das Zimmer durchmessend. »Ja, es liegt viel, ungeheuer viel, es liegt im Grunde Alles darin, einer Familie anzugehören, eine Familie zu gründen! Aber gewiß nicht, um sich dann engherzig in seinen vier Pfählen einzuschließen! Kann ein Mann, der einen Kopf zu begreifen, ein Herz hat zu fühlen sich ruhig auf das Faulbett legen, wenn das Wehgeschrei leidender Mitmenschen in das Glück seiner Behausung hereindröhnt? Oder kann er sich hermetisch gegen die Außenwelt abschließen, daß ihn das in der Luft liegende Leid mit dieser nicht erreicht? O, auch ich bin froh, liebe Mutter, wenn sich der Kreis meiner Pflichten und Beziehungen um die der Häuslichkeit vermehrt haben wird, aber nur, um dann dem großen Ganzen noch inniger nahe zu stehen. Das eigene Glück ist für den denkenden Mann der untrüglichste Maßstab fremden Unglücks, und alle Nervenfäden des großen äußern Lebens laufen für den echten Familienvater in seinem Hause wie in einem commune sensorium zusammen, das jede Bebung des öffentlichen Lebens in seinem tiefsten Wesen nachzittern macht! Doch«, fuhr er, vor seiner Mutter stehen bleibend, fort, »ich weiß, daß Sie, obwohl meine gute, liebevolle Mutter, mit meinen Ansichten nicht harmoniren.«

»Das thu' ich wahrlich nicht«, erwiderte die Räthin, indem sie Friedrich an der Hand ergriff und ihm mit dem vollen Ausdruck mütterlicher Besorgniß in die Augen sah. »Ich meine, es könne nicht schlimm um das Ganze stehen, wenn jeder Theil das und eben nur das thäte, wozu ihn die Vorsehung bestimmt hat. Wenn jeder Theil am Ueberblick über das Ganze, an der Leitung Antheil haben will, ist ja die Verwirrung unvermeidlich. Das war die Ansicht Deines braven Vaters, erprobt in einem langen redlichen Leben, sie ist während desselben die meine geworden, und glaube mir, auch Du würdest besser mit ihr fahren als mit der Deinen.«

»Lassen wir das, Mutter«, sagte Friedrich lächelnd. »Mein guter Vater war ein vortrefflicher Mann, und sein Andenken sei gesegnet, aber ihm ging der Beamte vor dem Menschen, und weil er sich mit seinem Amte verschmolzen hatte, sah er Welt und Leben nur durch die Kanzleifenster. Aber sagen Sie, ist keine Nachricht von Ulrike gekommen?«

»Nein«, erwiderte lächelnd und mit absichtlichem Doppelsinne die Räthin, »Nachricht ist nicht gekommen, aber eben erinnere ich mich, daß Dich Jemand sprechen will und in Deinem Zimmer auf Dich wartet.«

»Und das sagen Sie mir jetzt erst? Wer ist es denn?«

Damit wendete er sich hastig gegen die Seitenthür, als diese sich öffnete und Ulrike auf der Schwelle erschien. Hinter ihr fielen die Sonnenstrahlen hell und glänzend in das kleine Zimmerchen, sodaß sie wie ein zauberhaftes Bild auf Goldgrund in die dunkle Umfassung der Thüre eingerahmt erschien und einen wahrhaft reizenden Anblick darbot.

»Seh' ich recht?« rief der Professor und hielt überrascht in seinem Vorschreiten inne. »Bist Du es wirklich?«

»Mein Friedrich«, hauchte Ulrike, breitete ihm die Arme entgegen, und in der nächsten Sekunde hielt er sie mit dem Rufe des innigsten Entzückens: »Meine Ulrike – meine Geliebte – meine Braut!« fest umschlungen.

Als die erste wortlose Pause der Wonne vorüber war, führte Friedrich Ulrike vor die gerührte Mutter.

»Diese ist es, Mutter«, sagte er, »die mein Herz sich erwählt hat! Sie soll, sie wird mir sein, was Sie meinem theuern Vater auf dem Wege durchs Leben waren. Segnen Sie Ihre Kinder!« Die gute alte Frau vermochte vor innerer Bewegung nicht zu sprechen. Stumm und mit nach oben gewendetem Blick legte sie den Beiden, die vor ihr in die Kniee gesunken, die Hände wie zum Segen auf das Haupt, dann hob sie das Paar zu sich empor, in seiner Umarmung die süßeste Thräne zu weinen, welche je ein Mutterauge benetzen kann.

Unbemerkt von den Dreien war der alte Joseph ins Zimmer getreten und stand nun, um die heilige Minute nicht zu stören, ehrerbietig und mit zum Gebete gefalteten Händen im Schatten des hohen Ofens neben der Thür da.

Als die Glücklichen sich trennten, trat er schüchtern mit der Frage vor, ob, da das Essen bereit stehe, im Garten gedeckt werden solle. »Gewiß«, rief Friedrich, »bei dem schönen Wetter sitzt es sich gar zu angenehm im grünen Lindenschatten. Aber wir müssen noch eine Weile zuwarten. Ich ahnte nicht, welche Ueberraschung mir zu Hause bevorstehe, und habe einen Gast gebeten.«

»Einen Gast? Und wen?« fragte verwundert die Mutter.

»Es wird Ihnen nicht sehr lieb sein, Mutter, aber er versprach mir, Nachricht aus der Stadt zu bringen, und ich habe auch Anderes mit ihm zu bereden.«

»Von wem sprichst Du?«

»Nun, errathen Sie es nicht? Von Ihrer politischen Antipathie!«

»Doch nicht von Deinem verwünschten Riedl? Ich will nicht hoffen –«

»Allerdings, der verwünschte Riedl wird zu Tische kommen, aber er ist so schlimm nicht, als Sie ihn machen, Mutter!«

»Nein, nein, ich mach' ihn um kein Härchen schlimmer, als er sich gibt. Er ist ein herzloser Mensch und hat vor Gott und der Welt keinen Respekt!«

Der Ton der Hausglocke unterbrach die Eifernde. Man sah einen großen, hagern Mann im dunklen Ueberrocke und breitkrempigen Hut durch den Hofraum auf das Haus zukommen.

»Da ist er schon!« fuhr die Räthin fort. »Ich muß mich wirklich zusammennehmen, daß ich ihm nicht unfreundlich begegne!«

»Thun Sie es mir oder doch Ulrike und dem heutigen Tage zu Liebe!« fügte Friedrich bei.

»Nun, ich werde wohl«, rief jene wieder, indem sich alle zum Gehen anschickten. »Aber wahr bleibt wahr, und Du wirst Dich auch noch überzeugen, daß ich Dir nicht ohne Grund von dem Umgang mit diesem Menschen abgerathen habe. Man darf ihn nur ansehen! Die kleinen grauen, stechenden Augen und der rothe Bart – das Sprichwort hat recht, in dem steckt selten eine gute Art.«

Ulrike ergriff den Arm der Mutter und beschwichtigte sie endlich. Friedrich ging beiden in den Garten woraus, von wo ihnen der verwünschte Riedl mit kurzem Gruße entgegenkam. Wer ihn zuerst sah, konnte allerdings den Unwillen und die instinktmäßige Abneigung der Räthin in etwas begreiflich finden, denn Riedl war von auffallender Häßlichkeit. Das hagere, blasse, mit Sommersprossen überdeckte Gesicht war ganz in dem rothen Haarwuchs versteckt, der Kopf, Kinn und Wangen überwucherte. Unter großen buschigen Augenbrauen von gleicher Farbe blitzten ein paar blaßblaue, listig umherspähende Augen und die schmalen, eingekniffenen, blutleeren Lippen gaben den Zügen einen unangenehmen, höhnischen Ausdruck. Erst wenn man durch längeres Beschauen mit der ganzen Erscheinung vertrauter geworden war, sah man, daß auf der hohen Stirn klare Verständigkeit, in dem ruhigen Glanze des Auges durchdringender Geist lag.

Die Räthin erwiderte Riedl's Gruß etwas steif und kurz; als Friedrich ihm Ulrike als seine Braut vorstellte, bot er ihr herzlich die Hand. »Ich darf mich rühmen, ein Freund Ihres künftigen Gatten zu sein«, sagte er, »lassen Sie mich darin ein Anrecht auf Ihre Gewogenheit finden.«

Ulrike dankte mit feinem Anstande.

»Lassen Sie es meine Sache sein, mein Herr«, erwiderte sie, »um Ihre Freundschaft zu bitten. Niemand weiß besser als ich, welch ein Schatz ein echter Freund ist, zumal in Zeiten wie die unserigen.«

»Da stimm' ich bei«, fügte die Räthin hinzu; »den Verstand hat das Uebergewicht bekommen, es gibt wenig Herzen mehr und darum wenig Freunde. Was man heutzutage so nennt, ist meistens nur eine gemachte und deshalb nicht haltbare Sache.«

»Ich bin überzeugt, Frau Räthin«, sagte Riedl mit einem Lächeln, welches das Gegentheil davon auszudrücken schien, »daß Sie mit dieser harten Bemerkung, nicht auf mich und mein langjähriges erprobtes Verhältniß zu Ihrem Sohne anspielen wollen. Gleichwohl«, fuhr er fort, während die Gesellschaft am Tische Platz nahm, »muß ich Ihren alten Vorwurf gegen mich auch heute rechtfertigen und in Streit mit Ihnen gerathen.«

»Sie sind wieder einmal nicht mit mir einverstanden?« fragte die Räthin, der das Gespräch sichtlich unangenehm war.

»Das bin ich in der That auch ganz und gar nicht!« rief Riedl eifrig. »Sie machen die Freundschaft zur Sache des Gefühls, ich aber kann diesem nur eine untergeordnete Stelle einräumen und muß, wie überall, dem Verstande sein Vorrecht wahren. Freundschaft ist nicht denkbar ohne Uebereinstimmung der Gesinnung und die Gesinnung hat mit dem Gefühle nichts zu schaffen. Darum ist auch nur dasjenige Alter, in welchem die Gesinnung gereift ist und fest steht, das Mannesalter nämlich, die Zeit, in welcher die Freundschaft gedeiht!«

»Sie sprechen da etwas aus«, wendete Ulrike ein, »was mir neu ist. Ich habe vielmehr oft behaupten hören, daß man sich in der Jugend leichter an einander schließe, eben weil das Gefühl noch lebhafter und der Verstand minder thätig ist.«

»Ich kann Ihnen das unbedingt zugeben, mein Fräulein«, antwortete Riedl, »ohne deshalb meinem Satze untreu zu werden. Die Jugendbekanntschaften, von denen Sie sprechen, sind allerdings nicht selten der Boden, in welchem die Eiche der Freundschaft wurzelt; wenn sich aber aus der Bekanntschaft oder Kameradschaft die Freundschaft entwickeln soll, müssen sie durchs Leben die Probe bestehen, gewissermaßen die Bestätigung erhalten. Aus Jugendbekannten können Freunde werden, wenn der Verstand der Männer den Bund der Jünglinge gutheißt; aber weit öfter werden sie Gegner und nicht selten Feinde! Fragen Sie Ihren Bräutigam! Er wird Ihnen meinen Satz aus eigener Erfahrung bestätigen. Wir beide sind uns in unsern Studienjahren ziemlich fern gestanden, doch haben wir uns jetzt auf eine Weise gefunden, die Bestand haben wird. Fritz hatte damals ganz andere vertraute Bekannte; er mag Ihnen selber sagen, wie er nun mit ihnen steht!«

»Ich errath' es wohl«, sagte Führer lächelnd, »Du sprichst von dem Prinzen!«

»Von welchem Prinzen?« fragte Ulrike.

»Wie, Sie wissen das nicht?« rief Riedl lachend. »Dann muß ich Ihnen die Geschichte erzählen, damit Sie sehen, welch romantischer Schwärmer dieser Herr, der nun so ehrbar dasitzt, einmal gewesen ist!«

Friedrich wollte Einwendungen machen, allein Riedl ließ ihn nicht zu Worte kommen und begann zu erzählen: »Hören Sie immer, was an der Sache ist. Als wir auf der Universität Göttingen studirten, befand sich auch Prinz Felix, unser jetziger Erbprinz, daselbst. Er war ein lebhafter junger Mann, dem ein hoher Grad von Leutseligkeit großen Einfluß auf die Gemüther gab. Sie können denken, welchen Eindruck es auf die jungen Leute machen mußte, einen jungen Fürsten von so bedeutender Zukunft mit ihnen wie mit seinesgleichen leben und umgehen zu sehen. Mir freilich war die ganze Sache schon damals zuwider! Wenn der Prinz an unsern Versammlungen und Vergnügungen Theil nahm, sah ich nichts als eine Komödie, die wir ihm zu seiner Belustigung, im besten Falle zu seiner Belehrung vorspielten. Andere waren dagegen um so begeisterter und unter diesen befand sich Friedrich. Er war einer der hervorragendsten Köpfe und hatte die Aufmerksamkeit des Prinzen auf sich gezogen, die sich noch steigerte, als er erfuhr, daß er ein Landsmann und künftiger Unterthan von ihm sei. Friedrich fühlte sich durch die ihm gewordenen Auszeichnungen, wie begreiflich, sehr geschmeichelt, die lachenden Ideale unseres lieben Schiller waren damals noch für ihn ebenso viele Wirklichkeiten – was Wunder, wenn er von einem romantischen Bündniß zwischen sich und dem Prinzen träumte und sich schon als eine Art Posa sah, freilich mit besserem Erfolg.«

»Du übertreibst«, unterbrach ihn Führer; »doch ist das keine Seltenheit bei Dir in Sachen, die Du einmal nicht gelten lassen willst! Der Prinz war mir – ich habe unwiderlegliche Proben davon – wirklich mit Neigung zugethan. Er hörte meinen Auseinandersetzungen mit Interesse und Wärme zu und ich bin überzeugt, daß manches meiner Worte unvergessen in seiner Seele liegt und seiner Zeit Frucht zu tragen nicht verfehlen wird.«

»Ist es möglich?« rief Riedl. »Hat die dazwischen liegende Zeit Dich von Deinen Phantasien nicht zu heilen vermocht? Die Herzen der Fürsten sind Marmor und müssen es sein, denn ein Herz in der Brust würde sie zwingen, vom Thron herabzusteigen. Die ganze Erziehung von Fürstenkindern geht offen oder auf Umwegen darauf hinaus, allen weichem fruchtbaren Boden, in welchem ein anderes Samenkorn als das des Egoismus etwa wurzeln könnte, zu vernichten, und darum wird und muß es Dir gehen wie dem Sämann, der auf Felsen säet.«

Die Räthin hatte bisher still, aber mit Theilnahme zugehört. Die letzte Bemerkung Riedl's entriß ihr einen Laut des Unwillens.

»Thun Sie das doch nicht, Herr Riedl!« sagte sie. »Ich kann es nicht hören, daß so von der höchsten Obrigkeit, von den Fürsten gesprochen wird; sie sind an Gottes Statt und von ihm eingesetzt.«

»Es thut mir leid«, antwortete Riedl, »wenn ich Sie durch meine Aeußerung verletzt habe. Es ist ungern geschehen, und damit mich das kitzliche Thema, über das ich nun einmal meine eigenen Gedanken habe, nicht nochmals in diese Verlegenheit bringt, lassen Sie uns lieber davon abbrechen. Aber die eine Frage kann ich Ihnen nicht erlassen. Wenn Sie den Fürsten göttliche Einsetzung zuerkennen, von wem sind dann wohl die Völker eingesetzt? Doch wohl auch von Gott? Sie müssen ja sagen, wenn Sie dieselben nicht zu einer Schöpfung des Teufels machen wollen!«

»Ich kann mit Ihnen nicht streiten«, entgegnete die Räthin, »und will es auch nicht. Sie sind ein Sophist und ich habe für meine Ansichten keinen andern Grund als mein Gefühl.«

»Und der Grund ist vollgültig, liebe Mutter«, unterbrach sie Friedrich, um einer noch unangenehmem Wendung des Gesprächs vorzubeugen. »Mindestens ist er es bei einem so gesunden Herzen wie das Ihrige! Auch hat Riedl wohl mehr gesagt, als er zu beweisen vermag. Ein Blick auf die Geschichte und die trefflichen Fürsten, die sie vorführt, widerlegt ihn. Sie wissen ja, daß er sich in Paradoxen gefällt.«

»Ich bin Dir für Deine Vertheidigung nicht eben sehr verbunden«, rief Riedl lachend, »doch muß ich sie wohl gelten lassen, um den Streit nicht zu erneuern. Ich lege daher meine Widerlegung für ein ander Mal beiseite! Sage mir nun, damit ich weiß, wie zeitig ich meinen Bratenrock zu bestellen habe, bis wann Du Hochzeit zu machen denkst!«

»Wenn es nur von mir abhängt«, erwiderte Friedrich, »so wird mir die kürzeste Frist die liebste sein. Meine Vorkehrungen sind getroffen, alle nöthigen Schritte gethan; es wird also nur auf Ulrike ankommen, wann sie das Kränzchen mit der Haube vertauschen will, und auf meine Mutter, die nach wie vor Herrin des Hauses bleibt, auf welchen Tag sie den Beginn meines Glückes festsetzen will.«

»Es ist sehr freundlich von Dir, mein Sohn«, erwiderte die Räthin, »daß Du mir die Ehre gibst. Du sollst über mich nicht zu klagen haben. Ulrike mag einige Tage bei uns bleiben, bis sie sich eingewöhnt hat, dann soll die Hochzeit sein. Es wird schon der Leute wegen nöthig sein, daß wir nicht zu lange zaudern; es gibt sonst gleich Anstoß, daß die Braut, wie nun einmal die Verhältnisse sind, bei uns absteigen mußte und schon jetzt in unserm Hause lebt!«

»Wohlan denn«, rief Friedrich, »in vierzehn Tagen ist mein Geburtstag, an dem soll mir auch mein zweites Ich geboren werden!«

Ulrike lächelte mit einer Thräne im Auge dem Geliebten zu, die neben ihm sitzende Mutter drückte ihm die Hand, Riedl aber ergriff sein Glas, das eben zum Nachtisch mit Rüdesheimer gefüllt worden, und rief: »Alte Gebräuche muß man ehren, wenn sie gut sind! Auf das Glück des Brautpaars!«

Harmonisch klangen die Gläser an einander – da dröhnte durch die Luft ein tiefer, starker, weit schallender Ton, wie wenn mit einem Hammer an eine Glocke geschlagen würde. Alle erbleichten – ein zweiter stärkerer Schlag – alle setzten erschreckt die Gläser nieder, ohne sie berührt zu haben; noch ehe Jemand Worte fand, erscholl ein dritter Schlag, noch lauter dröhnend als die ersten; in immer kürzern Pausen folgten mehrere immer schneller, immer dringender, immer gellender auf einander.

»Heiliger Gott«, rief Friedrich aufspringend, »das ist Sturm!«

»Wahrhaftig«, sagte Riedl kaltblütig, »es klingt so! Sollte es schon zu etwas gekommen sein? Lassen Sie uns horchen.«

Während einer sekundenlangen athemlosen Stille hörte man von fern den Schall wilder, kreischender Stimmen herüberklingen.

»Es ist bei Gott Ernst«, sagte Riedl; »das sind Elemente, aus denen eine Schlachtsymphonie werden kann.«

Während Ulrike bemüht war, die Räthin zu beruhigen, welche so ergriffen war, daß ihr eine Ohnmacht drohte, eilte Beppo fast athemlos herbei.

»Was ist geschehen?« rief ihm Friedrich entgegen.

»Ach, Signor«, erwiderte dieser beinahe keuchend, »ein großes Unglück! Sie wissen wohl, es stand Alles dicht voll Menschen auf den Straßen und Plätzen, aber Alles war ruhig, weil sie eine Deputation an den Herzog geschickt hatten, die ihn bitten sollte, die neue Auflage zurückzunehmen. Da fiel es auf einmal einem jungen Offizier ein, die Leute vertreiben zu wollen, und als sie nicht wichen, ließ er drunter schießen.«

»Entsetzlich!« rief Friedrich.

»Das ist der Diensteifer dieser Schergenseelen«, murmelte Riedl, der noch bleicher geworden war als gewöhnlich. »Hat es Todte gegeben?«

»Ihrer acht oder neun, sagt man«, fuhr Beppo fort, »aber das Schlimmste war, daß es nun hieß, die Deputation werde in der Residenz gefangen gehalten. Darüber wurden die Leute wüthend, sie haben die Thore der Thomaskirche eingesprengt und läuten Sturm – das Militär rückt mit Kanonen an – der Himmel weiß, was es geben und wie das enden wird!«

»So ist keine Zeit zu verlieren«, rief Riedl, seinen Hut ergreifend. »Daß dieses schöne Zusammensein so unangenehm gestört wurde, ist vollkommen bezeichnend für unsere Zeit – es gilt kein Abschließen mehr gegen das, was draußen vorgeht! Wir müssen mit hinein in den Strom, und Alles, was wir thun können, ist, solange als möglich gegen das Untersinken zu kämpfen.«

Damit wollte er sich empfehlen, allein Führer bat ihn, zu verziehen, weil er ihn begleiten wolle. Dieser Entschluß rief großen Widerspruch hervor. Ulrike verbarg ihre Besorgniß nur mit Mühe hinter freundlichem Zureden. Die Räthin dagegen versuchte alle ihr zu Gebote stehenden Mittel der Ueberredung, um den Sohn von dem unheilvollen Schritte, wie sie ihn nannte, abzuhalten.

»Mein Sohn«, eiferte sie, »es ist eine alte Wahrheit: Was Deines Amts nicht ist, das laß! Was hast Du, der friedliche Mann der Wissenschaft, inmitten eines rebellischen Volks zu thun? Bleibe bei uns – bei uns ist Deine Stelle!«

»Mutter«, entgegnete Friedrich ruhig, aber fest, »die Zeit ist vorbei, wo die Wissenschaft die Stube oder das Haus für ihr Bereich halten durfte. Jetzt muß sie ins Leben hinaus und hat nur dann Bedeutung und Werth, wenn sie von ihm geprüft und erprobt wurde. Ich habe mich der Wissenschaft des Rechts ergeben, darum ist überall meine Stelle, wo es gilt, einem Bedrängten zu seinem Rechte zu verhelfen, oder die Verübung eines Unrechts zu hindern! Seien Sie meinetwegen ohne Sorge – auch Du, meine theure Ulrike! Ich komme bald, Gott gebe es, mit der Nachricht des Friedens wieder!«

Hastig drückte er die Braut noch einmal an die Brust, und während diese mit Beppo's Hülfe die Räthin in das Haus zurückgeleitete, eilten die beiden Männer davon. Von draußen aber erscholl immer lauter und drohender verwirrtes Rufen und Sturmgeläute, in das sich einzelne Flintenschüsse zu mischen begannen.


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