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Es war Martin Frank ein tapferer Kriegsmann, der viele Jahre gedient, mehrere Feldzüge mitgemacht und für sein Vaterland rühmlich gekämpft hatte. Als er aus dem Feld zurückkam, waren seine dürftigen Eltern bereits gestorben. Sie hatten ihm nichts hinterlassen als ein baufälliges Wohnhäuschen und einen kleinen Baumgarten dabei. Der brave Mann befand sich nun in einer sehr traurigen Lage. Seine Wunden hatten ihn zu schweren Arbeiten untauglich gemacht. Er war sehr bekümmert und sann Tag und Nacht ernstlich nach, wie er sich ehrlich ernähren wolle. Da bemerkte er eines Tages in dem nahen Wald, dass die vielen Stöcke und Wurzeln der abgehauenen Wacholderbäume sehr schönes Maserholz lieferten, aber wenig geachtet wurden und unbenützt im Wald verfaulten. Er versuchte sogleich, aus diesem Holz Tabaksdosen und Pfeifenköpfe zu verfertigen, und brachte es zu einer ungemeinen Geschicklichkeit; besonders fanden die Pfeifenköpfe, die aus dem schönsten Maser zierlich geschnitzt und glänzend poliert waren, grossen Beifall und reissenden Abgang. Mancher vornehme Herr zog einen solchen, schön mit Silber beschlagenen Pfeifenkopf sogar einem solchen von Meerschaum vor.
Der fleissige Mann arbeitete die ganze Woche hindurch unermüdet in seiner Werkstätte oder holte sich Maserholz aus dem Wald, und war dabei nicht viel besser gekleidet als ein Tagwerker. Allein des Sonntags erschien er in seiner grünen Uniform mit roten Aufschlägen und mit seiner silbernen Ehrenmünze an der Brust, ging morgens, indem er sich wegen seines etwas gelähmten Fusses auf seinen Korporalstock stützte, in gemessenem Schritt zur Kirche, und abends auf eine oder längstens zwei Stunden in den Gasthof. Er hatte noch immer in Gang und Gebärde etwas Kriegerisches und trug auch seinen Schnurrbart noch. Wegen seiner Rechtschaffenheit, Erfahrung und Ordnungsliebe wurde er allgemein geachtet. Er gelangte durch seinen Fleiss und seine kluge Sparsamkeit zu einem nicht unbedeutenden Vermögen. Denn er war keiner von denjenigen, die sogleich grossen Aufwand machen, wenn sie gute Geschäfte gemacht haben, und da meinen, es werde immer so gehen. Unter anderem liess er sein altes, hölzernes Haus, das ein wohlhabender Mann hätte niederreissen und neu bauen lassen, bloss ausbessern; wusste es aber so gut herzustellen, dass er sehr gut und bequem darin wohnte und dass es sich mit der braunen Holzfarbe, den erneuten, runden Fensterscheiben und dem glänzenden Fensterblei zwischen den hohen Birnbäumen und weitausgebreiteten Apfelbäumen des Gartens sehr gut ausnahm. Er verheiratete sich, erzog seine Kinder, einen Sohn und eine Tochter, sehr gut und versorgte sie sehr gut. »Wer es nicht an Fleiss fehlen lässt, dem fehlt es nie an dem nötigen Auskommen«, sagte er öfter. »Auch die kleinste Kunst nährt ihren Mann. Tu das deine getreu und vertrau auf Gott, so wird Gott auch das Seinige tun und es dir nie an seiner so nötigen Hilfe fehlen lassen.«
Nachdem der ehrliche Martin Frank bereits ein ziemliches Alter erreicht hatte und seine gute, treue Hausfrau gestorben war, versah der wackere Kriegsmann seine kleine Haushaltung selbst, und zwar wie bisher ohne Magd. Indes nahm er seinen Enkel, einen munteren blühenden Knaben, zu sich, dem man dem Grossvater zu Ehren in der Taufe auch den Namen Martin gegeben hatte. Der kleine Martin hing bald mit Leib und Seele an dem Grossvater und tat ihm alles zu Gefallen, was er ihm nur an den Augen ansehen konnte. Der Grossvater bediente sich seiner als Gehilfen bei seinen Holzarbeiten und erzählte ihm während der Arbeit teils lustige, teils schauerliche Geschichten aus seinen Feldzügen, denen er aber immer die eine oder die andere gute Lehre beizufügen wusste.
Der Grossvater brachte manchmal ganze Tage im Wald zu, um Wurzeln und Stöcke des Wacholders auszuheben und nach Hause zu bringen. Er nahm seinen lieben Enkel allemal mit sich. Dies waren die fröhlichsten Tage des Knaben. Es gefiel ihm nirgends so wohl als in dem Wald. Der Grossvater nannte ihm alle Bäume des Waldes und lehrte ihn die Eigenschaften und den Nutzen der verschiedenen Holzarten kennen. »Wir können dem lieben Gott nicht genug danken«, sagte er unter anderem, »dass er die herrlichen Bäume da um uns her wachsen lässt. Wenn es keine Bäume gäbe, so wäre es mit uns gefehlt. Die Tannen und Fichten dort am Berg liefern uns Balken, Bretter und Latten; unser ganzes Haus besteht ja aus Tannenholz, ja auch Tische und Bänke, Kasten und Bettladen sind daraus gemacht. Das Tannenholz ist übrigens etwas weich; andere Bäume aber, wie dort die Eichen und Buchen, haben sehr festes, hartes Holz. Wenn unser Schiebkarren hier nicht von solchem harten Holz wäre, so würde er nicht so lange dauern. Ohne hartes Holz hätten wir nicht einmal einen dauerhaften Stiel zu unserer Axt. – Sehr schön ist es, dass jede Holzart ihre eigentümliche Farbe hat, schön rötlich, bräunlich oder gelblich ist, und deshalb zu allerlei zierlichen Hausgeräten dient. Das Holz der Wacholderstöcke aber ist gar marmoriert; es ist so fein, dass man die Holzfaser gar nicht sieht, weshalb wir auch so feine Arbeiten daraus verfertigen können. – Man kann die Früchte der Waldbäume zwar nicht essen; diese Bäume ernähren aber dennoch viele tausend arbeitsame Menschen, die mit Holzarbeiten ihr Brot verdienen. Auch uns gewährt der Wacholderbaum unsern Lebensunterhalt. So hat Gott alles weislich eingerichtet. Wir wollen seine Weisheit und Güte in allem erkennen und stets ein dankbares Herz gegen ihn haben!«
Eine ganz ausnehmende Freude hatte der kleine Martin an den Vögeln im Walde und ihrem lieblichen Gesang. »Grossvater«, sagte er, »wollen wir nicht einige fangen und mit nach Hause nehmen?« – »Nein«, sagte der Grossvater, »das ist nichts.« – »Ja, warum denn nicht?« fragte der Knabe; »sie singen gar zu schön! Zu Hause könnten wir sie immer singen hören.« – »Du hörst sie schon hier im Wald singen«, sprach der Grossvater, »da klingt es viel schöner. Die armen Vögelein, die man so grausam einsperrt, leben selten lange, ja sie kommen durch Nachlässigkeit der Menschen gar oft elenderweise um.«
Einmal aber, an einem schönen Herbsttag, sass der Grossvater mit seinem Enkel an einem sonnigen Plätzchen des Waldes bei dem kleinen Mittagsmahl, das der Knabe wie gewöhnlich in einem Korb mitgenommen hatte. Da kam ein Rotkehlchen oder, wie man in jener Gegend sagt, ein Rotbrüstlein herbei und pickte die Brosämlein auf. Der Kleine war darüber ganz entzückt. »Was dies für ein wunderschönes Vögelein ist!« sagte er zum Grossvater, redete aber ganz leise, um es nicht zu verscheuchen. »Ich weiss nicht, was ich darum gäbe, ein solches Vögelein den Winter über in unserer Stube zu haben.« – »Nun«, sagte der Grossvater, »das mag wohl geschehen. Ein Rotkehlchen ist ein gar zutrauliches Vögelein und ist gern um die Menschen. Es bringt den Winter über vielleicht lieber unter Dach als im Freien zu.« Der Grossvater lehrte den Knaben die Anrichtung machen, um ein solches Vögelein zu fangen.
Der kleine Martin lief die Woche hindurch alle Tage in den Wald, um nachzusehen, ob noch kein Rotkehlchen eingegangen sei. Immer kam er aber leer zurück und hatte die Hoffnung, eines zu fangen, bereits aufgegeben. Endlich kam er einmal voll Freuden nach Hause gelaufen. »Grossvater«, rief er, »jetzt habe ich endlich einmal eines! Oh sieh nur, welche schönen, schwarzen Äuglein es hat und wie unvergleichlich schön gelbrot das Kehlchen ist! Jetzt reut mich meine Mühe und Arbeit nicht!« Er liess das Vögelein in der Stube fliegen, und seine Freude ward noch grösser, als es gar nicht scheu tat, die Fliegen in der Stube wegschnappte, aus dem grünen irdenen Tröglein die geriebenen gelben Rüben mit Semmelmehl frass und sich in dem kleinen Wassergeschirr badete. Martin holte ein frisches, grünes Tannenbäumchen aus dem Wald und stellte es in die Ecke der Stube. Das Vögelchen flog sogleich darauf zu. »Aha«, sagte Martin, »es weiss schon, wo es hingehört. Wie munter es von Zweig zu Zweig hüpft! Wie schlau es zwischen den Ästen hervorblickt, und wie sich das ziegelrote Kehlchen in dem dunkeln Grün so lieblich ausnimmt!« Das Rotkehlchen gewöhnte sich bald an ihn, pickte ihm die vorgehaltenen Fliegen zwischen den Fingern hinweg; ja es setzte sich auf den Rand seines Tellers, ass mit ihm und liess sich sogar die Erdäpfel sehr gut schmecken. Es kam einige Male durch das offene Fenster in den Garten am Haus, schlüpfte in der Hecke piepend umher, kam aber allemal von selbst wieder herein. Das Vögelein machte dem Knaben tausend Freuden – und als es erst anfing zu singen, da lauschte Martin mit zurückgehaltenem Atem so entzückt auf das leise, liebliche Gezwitscher, dass wohl nie ein Fürst dem grössten Flötenspieler mit mehr Vergnügen zugehört hat.
Nun rückte der Namenstag des Grossvaters wieder heran. Der Grossvater sah abends an einem Sonntag in den Kalender und sagte: »Lieber Gott, wie doch die Zeit vergeht! Künftigen Dienstag ist schon das Fest des heiligen Martin. Ach, vor einem Jahr war es anders als jetzt! Da lebte meine selige Elisabeth noch, und wir assen die Martinsgans, die sie eigens auf meinen Namenstag gemästet hatte, miteinander. Aber heuer wird's ein trauriges Namensfest geben. Es ist doch nichts, wenn keine Hausfrau die Haushaltung besorgt. Nicht einmal den alten löblichen Gebrauch, in der Martinsnacht eine gebratene Gans zu essen, können wir mehr beobachten; ich habe darauf vergessen, und nun ist es wohl zu spät dazu!« Er zog etwas missmutig seine grüne Uniform an und ging zu dem goldenen Adler, wo er den Bauern am Sonntag abends gewöhnlich die Zeitung vorlas und ihnen die Kriegsnachrichten erklärte.
Der Grossvater war kaum zur Tür hinaus, so kam der kleine Adolf des Herrn von Waldberg, der im Schloss droben auf dem Berg wohnte, zur Tür herein, um nach dem Muster, das er mitbrachte, ein paar Pfeifenköpfe zu bestellen. Der kleine Martin spielte eben mit seinem Rotkehlchen, das ihm auf den Finger geflogen war und ihm einige zerdrückte Hanfkörnlein aus der Hand pickte. »Was willst du für das Vögelein?« fragte Adolf. »Es ist sehr zahm; ich will es dir abkaufen.« – »Es ist mir nicht feil«, sagte Martin, indem er dem Vögelein mit dem Finger der andern Hand die Federlein zurechtstrich; »ich gebe es um keinen Preis.« Der reiche junge Herr bot nach und nach bis auf einen Gulden. Da fiel es dem kleinen Martin ein, für einen Gulden könne er ja wohl gar eine Gans kaufen und dem Grossvater eine unvermutete Freude machen. Er überliess also das Vögelein dem jungen Herrn, indem er es auf das Nachdrücklichste anempfahl und ihn auf das dringendste bat, das gute, trauliche Tierchen ja doch recht gut zu halten. »Haben Sie doch recht acht«, rief er ihm noch nach, »dass die Katze im Schloss es nicht erwischt, und beschneiden Sie deshalb dem Vögelein die Flügel nicht.«
Martin lief nun sogleich von Haus zu Haus, eine feile Gans ausfindig zu machen. Eine Bäuerin hatte noch eine übrige gemästete Gans, sagte aber, sie könne sie nicht unter einem Taler geben. Martin sagte betrübt, dass er nicht mehr als einen Gulden habe, und erzählte, wie er sein Vögelein verkauft, um den Grossvater eine Freude zu machen. Das gefiel der Bäuerin. »Nun wohl«, sagte sie, »wegen deiner Liebe zu deinem Grossvater will ich dir die Gans für einen Gulden lassen.« Martin dankte erfreut und sagte, morgen abend wolle er die Gans abholen.
Am Sonnabend des langersehnten Festes trat nun der kleine Martin mit der wohlgenährten Gans unter dem Arm feierlich in die Stube, sagte den Glückwunsch auf, den auf Martins flehentliches Bitten der Herr Schullehrer in zierlichen Reimen verfasst hatte, den aber die Gans, zum grossen Verdruss des Kleinen, mit ihrem Geschnatter mehrmals unterbrach. Am Ende des Spruches überreichte Martin dem Grossvater, sich tief verneigend, die Gans als ein Geschenk zum Namenstag.
Der alte Mann, der streng auf Ehrlichkeit hielt, wollte sich anfangs nicht recht freuen. Er schöpfte Verdacht und nahm den Knaben in scharfes Verhör. »Wo hast du die Gans oder das Geld dazu her?« fragte er ihn mit grossem Ernst, stand aus dem Lehnstuhl auf und erhob drohend seinen Stock von Haselstauden. Er wusste den Korporalstock noch sehr gut zu schwingen, obwohl er bei seinem gutherzigen, folgsamen Enkel nie nötig hatte, Gebrauch davon zu machen. Martin schwieg. »Wo hast du sie her?« rief der Alte noch einmal mit seiner nachdrücklichen, tiefen Bassstimme; »das sag mir!« Martin erzählte die Geschichte von dem Verkauf seines geliebten Rotkehlchens. Der Grossvater war sehr gerührt und wischte eine Träne vom Schnurrbart, die während der Erzählung darauf herabgetröpfelt war. »Bravo!« rief er, »du hast dich wohl gehalten. Das freut mich, dass du auf deinen Grossvater so viel hältst. Jetzt wird die Martinsnacht doch noch ein Freudenfest für mich – ein wahres Fest für mein Herz. Doch gehe jetzt und sperre die Gans einstweilen in den leeren Gänsestall.«
Als der Knabe hinaus war, sprach der Grossvater: »Der Junge hat ein Herz, das lauter Gold ist. Was er da getan hat, ist eine wahre Martinstat. Der heilige Martin gab dem Bettler den Mantel; der Knabe da gab aber seine ganze Freude dahin, um seinem Grossvater Freude zu machen. Mein heiliger Namenspatron wird's mir ja doch nicht übel nehmen, wenn mir's so vorkommt, der Knabe habe fast noch mehr getan als der heilige Martin, der, soviel ich weiss, auch Soldat gewesen. Aus dem Knaben kann noch etwas werden.«
Der Grossvater, der im Feld öfters gekocht hatte und diese Kunst noch immer ausübte, bereitete die seltene Speise selbst zu und legte davon seinem Enkel bei der Mahlzeit immer das Beste vor. Während sie noch am Tisch sassen, kam ganz unerwartet ein Bedienter aus dem Schloss mit einer Flasche Wein herein und sagte, der gnädige Herr und die gnädige Frau hätten von dem jungen Baron Adolf vernommen, wie der kleine Martin sein niedliches Rotkehlchen verkauft habe, um auf das Namensfest des Grossvaters einen Braten anzuschaffen, und da wolle die gnädigste Herrschaft nun auch dem Herrn Korporal ein Glas Wein dazu senden, und lasse ihm zu dem heutigen Fest Glück wünschen. Der alte Mann fühlte sich durch diese Gnade sehr geehrt, und auch der kleine Martin freute sich, dass sein Rotkehlchen dem Grossvater ausser dem Braten noch zu einem guten Trunk verholfen habe.
Martin vermisste aber das trauliche Vögelein sehr hart; er mochte das Tannenbäumlein, das noch einsam und verlassen in der Stubenecke stand, kaum ansehen. Eines Abends sassen Grossvater und Enkel an dem wärmenden Ofen. Wegen des wolkigen Himmels war es in der Stube früher dunkel geworden, und sie hatten deshalb etwas früher Feierabend gemacht. Es war ein sehr schauerlicher Novemberabend; es schneite und regnete draussen durcheinander, und der Sturmwind sauste und brauste, als wollte er das kleine Haus mit sich fortführen. Da rief der kleine Martin mit einmal: »Je, da ist ein Vögelein am Fenster und pickt an die Scheiben, als wollte es hereingelassen werden!« Er öffnete das Fenster – das Vögelein flog herein – und wer beschreibt die Freude des Knaben, als er in dem Vögelein sein geliebtes Rotkehlchen erblickte! Er hatte ihm ein rotes Seidenfädchen an das Füsschen gewickelt; daran würde er es erkannt haben, wenn er es auch sonst nicht erkannt hätte. »Oh du liebes Tierchen!« rief er, »so bist du denn wieder da? So hast du deinen Martin noch nicht vergessen? Wie hast du denn unsere Wohnung wiedergefunden? Gefällt's dir unter dem niedrigen Dach hier doch besser als droben im prächtigen Schloss? Nun, nun, wir haben dahier im Winter auch eine warme Stube, um nicht zu frieren, eine warme Suppe, um uns satt zu essen, und – was über alles geht – ein fröhliches Herz. Und wer sollte auch mehr verlangen?«
Er streckte die Hand aus, und das Vögelein flog ihm darauf. »Nicht wahr«, sagte er, »du möchtest wieder dableiben? Aber das verstehst du nicht besser. Ich darf dich nicht hier behalten; das wäre gerade wie gestohlen! Ich muss – muss dich wieder heimgeben. Ach!« seufzte er und drückte das Vögelein auf die nasse Wange; »du glaubst nicht, wie hart es mich ankommt, dich fortzutragen; aber es muss doch sein.«
»Bravo, Junge!« sprach der Grossvater, »das ist recht, das ist deine Schuldigkeit. Darum trag das Vögelein nur gleich fort, sonst kommt's dich immer schwerer an. Was nicht unser ist, soll nicht einmal unter unserm Dach übernachten. Also mach', dass du fortkommst, ehe es vollends Nacht wird.« Martin nahm seine Pelzmütze, die ihm der Grossvater zum Namenstag geschenkt hatte, und lief im Schnee und Regen hinauf in das Schloss. Der kleine Adolf hatte eine grosse Freude, als er das Vögelein in der Hand des Knaben wieder erblickte. Die gnädige Frau aber, die mit ihrer Arbeit auf dem Kanapee sass und zwei hellleuchtende Wachskerzen vor sich auf dem Tisch stehen hatte, ward von der Ehrlichkeit des Knaben innigst gerührt. »Das ist ja recht schön von dir, Kleiner«, sprach sie, »dass du das Vögelein wieder zurück bringst. Du hättest es leicht behalten können, ohne dass wir etwas davon gewusst hätten. Ja, wenn ich es auch in deiner Stube gesehen hätte, so hätte ich sicher geglaubt, es wäre ein anderes Rotkehlchen. Dass ein so kleines Vögelein so viele Anhänglichkeit an die Menschen habe, und dass es sogar die Wohnung, wo es gastfreundlich bewirtet worden, wieder finden könne, hätte ich nicht geglaubt. Da ein so kleines Geschöpf nicht ohne Gefühl, sondern erkenntlich und dankbar ist, wieviel mehr sollten wir Menschen es sein!«
Martin machte, indem er das Vögelein dem kleinen Baron Adolf übergab, ein recht betrübtes Gesichtchen. Die gnädige Frau aber sprach zu Adolf: »Lieber Adolf, du siehst, das Rotkehlchen war die einzige Freude des armen Knaben. Er hat, wie du wohl weisst, es recht von Herzen hinweg verkauft, seinen alten Grossvater zu erfreuen. Du hast das Vögelein aus Nachlässigkeit entkommen lassen; es hatte ihn aber so lieb gewonnen, dass es von selbst wieder zu ihm zurückkehrte. Er ist so ehrlich und bringt es dir wieder, so lieb er es hat und so gern er es behalten hätte. Wäre es nun wohl schön, ihm das Vögelein wieder abzunehmen?«
»Nein«, sagte Adolf, »das wäre nicht schön! Da, guter Martin, hast du dein Rotkehlchen wieder; ich schenke es dir zur Belohnung deiner Ehrlichkeit!« Martin wollte das Vögelein, das der junge Herr so teuer bezahlt hatte, nicht nehmen. Allein Adolf bestand darauf. »Nimm, nimm«, sagte er; »und wenn du einmal wieder ein Rotkehlchen fängst, so magst du es mir dann bringen.« Martin war hoch erfreut. »Wenn Sie mir Ihr ganzes Schloss geschenkt hätten«, sagte er, »so hätten Sie mir keine grössere Freude machen können.« Die gnädige Frau aber, die über die Denkart ihres Sohnes noch mehr erfreut war als Martin über das Rotkehlchen, ging an ihre Kommode, nahm ein schönes, glänzendes Goldstück heraus, gab es dem Martin und sagte: »Da mein Adolf dein edles Herz so gut zu schätzen weiss und dir zur Belohnung deiner Redlichkeit das Vögelein schenkte, wie sollte seine Mutter dich unbelohnt gehen lassen! Nimm da dieses Gold; denn deine Ehrlichkeit ist mehr wert als Gold!«
Martin eilte voll Freude und in hohen Sprüngen den Schlossberg herab und stürzte beinahe zur Stubentür herein. »Da hab ich das Rotkehlchen schon wieder!« rief er, »das ist schon das drittemal, dass es unter unser Dach kommt. Es ist ein wahres Glücksvögelein. Sieh nur, Grossvater, was es mir eintrug!« Er zeigte dem Grossvater das Geld und sagte: »Nicht wahr, das ist ein schönes Goldstück? Das musst aber du nehmen. Ich bin reich genug, da ich nun mein liebes Vögelein wieder habe.«
»Siehst du«, sagte der Grossvater, »dass es wahr ist, was ich dir immer sage. Auch die gnädige Frau schätzt die Ehrlichkeit höher als Gold. Alle guten Menschen denken so. So dachte auch der gute König, dem zu dienen ich einmal die Ehre hatte und der hier auf dem Gold abgebildet ist. Da sieh einmal sein Bild! Es ist zum Sprechen getroffen; und wenn es sprechen könnte, so würde es sagen, wie der alte Korporal Frank immer sagt: 'Bursche, werde ein ehrlicher Kerl!' Für das Goldstück will ich dich aber neu montieren lassen. Der Rock ist dann ein wahres Ehrenkleid für dich; du hast ihn dir durch deine Ehrlichkeit erworben. Mache nur, dass du dein Leben lang nie einen anderen Faden, als der ehrlich und redlich verdient ist, am Leib trägst.«
Dem kleinen ehrlichen Martin aber brachte sein Rotkehlchen noch mehr ein als einen Dukaten. Er und sein Grossvater wurden durch dasselbe mit der Herrschaft im Schloss näher bekannt. Einmal an einem heiteren Wintermorgen ging die Herrschaft spazieren und kam an Martins Wohnung vorbei. Der junge Herr sagte: »Ich möchte doch einmal sehen, ob das Rotkehlchen noch lebt!« Man ging hinein. Herr von Waldberg, der den alten Korporal Frank nur vom Ansehen kannte, liess sich mit ihm in ein Gespräch ein, erkundigte sich nach seinen Feldzügen und fand an ihm grosses Wohlgefallen. Er redete von nun an allemal mit ihm, wenn er auf der Jagd ihn im Wald traf; er kam wohl selbst zu ihm in das Haus, um sich einen Pfeifenkopf auszusuchen, und sah ihm bei seiner Arbeit unter mancherlei Gesprächen stundenlang zu. Adolf kam zuzeiten auch mit, unterhielt sich mit Martin und lud ihn manchmal ein, in das Schloss zu kommen.
Indes spürte der Grossvater nach und nach die Beschwerden des Alters; er machte daher eine Herzensangelegenheit daraus, vor seinem Tod seinen Enkel gut zu versorgen. Er hatte bisher immer gedacht, Martin werde sich einmal mit Verfertigung von Dosen und Pfeifenköpfen gut ernähren können. Allein mehrere fleissige Hausväter in dem Dorf, die sich im Sommer mit dem Feldbau beschäftigten und im Winter nichts zu tun wussten, hatten sich nach dem Beispiel des alten gewerbsamen Kriegers auch auf diesen Nahrungszweig verlegt. Die Dosen und Pfeifenköpfe wurden nun, da sie nicht mehr so selten waren, nicht mehr so gut bezahlt. Der Grossvater sann deshalb darauf, seinen Enkel ein anderes Handwerk lernen zu lassen, das zwar mehr Kräfte und Geschicklichkeit erfordere, aber seinen Mann auch reichlicher nähre. Allein er hatte schon seinem Sohn und seiner Tochter so viel gegeben, dass ihm selbst wenig übrig geblieben, und sein Enkel Martin hatte so viele Geschwister, dass dessen Eltern genug zu tun hatten, alle zu erhalten. Der gute Greis sah daher im Aufbringen des Lehrgeldes mit den Kosten nicht recht hinaus.
Da kam nun der junge Martin, der jetzt bereits vierzehn Jahre alt war, wieder einmal in das Schloss, dem Baron Adolf zu seinem Geburtstag Glück zu wünschen. Adolf zeigte ihm einen sehr schönen Schreibschrank von kunstreich eingelegter Arbeit, den seine Eltern ihm zum Geburtstag geschenkt hatten. »Der geschickteste Meister in der Stadt hat ihn gemacht«, sagte Adolf; »sag einmal, wie gefällt er dir?« Martin betrachtete den Schrank mit grosser Aufmerksamkeit. »Das sind herrliche Maser!« rief er; »ich habe noch keine schönere gesehen! Auch das übrige Holz ist sehr schön. Dieses dunkelbraune da ist von Nussbaum, dieses rotbraune von Kirschbaun, das gelbe da von Birnbaum, und das schöne weisse von Ahorn.« Herr von Waldberg, der eben in das Zimmer trat, verwunderte sich, dass Martin alle Holzarten zu nennen wusste, und fragte: »Wer hat sie dich alle so gut kennen gelehrt?« – »Mein Grossvater«, sagte Martin. »Ich habe mir von allen Arten Holz, die es in unserm Wald und unsern Baumgärten gibt, eine Sammlung gemacht. Sie besteht aus lauter kleinen Brettchen, die ungefähr so geformt sind wie die kleinen hübschen Bücher hier auf dem Schrank; sie gleichen auch sonst den Büchern; die Rinde, die ich daran liess, stellt gleichsam den Rücken vor, und das übrige Holz, das ich schön polierte, den Deckel und den Schnitt.«
Herr von Waldberg dachte, den Geburtstag seines Sohnes nicht schöner feiern zu können als durch eine edle Handlung. Er sagte daher: »Nun, Martin! Du verstehst dich sehr gut auf das Holz. Wie ich weiss, bist du auch im Verfertigen der Pfeifenköpfe schon sehr geschickt. Allein ein solcher Schrank ist doch ein viel schöneres Stück Arbeit. Möchtest du nicht diese Kunst lernen und ein Schreiner werden?« – »Warum nicht?« sagte Martin; »nichts lieber. Aber mein Grossvater vermag das Lehrgeld nicht zu bezahlen.« – »Nun wohl«, sagte der gnädige Herr, »für das Lehrgeld will ich sorgen. Wenn es deinem Grossvater recht ist, so will ich dich dem Meister, der diesen Schreibschrank machte, in die Lehre geben.« Martin ward über dieses Anerbieten sehr erfreut, und auch der Grossvater sah es für ein grosses Glück, ja für eine Fügung Gottes an und forderte seinen Enkel auf, Gott für diese grosse Wohltat recht von Herzen zu danken.
Martin kam in die Lehre, wurde nach drei Jahren Gesell, reiste dann in die Fremde und kehrte als ein gesunder, unverdorbener junger Mann, wohl gekleidet, von blühendem Aussehen und seiner Kunst wohl kundig, zur grössten Freude seines alten Grossvaters wieder zurück. Herr von Waldberg war mit der ersten Arbeit, die er bei ihm bestellte, höchst zufrieden und sagte: »Nun wohl, mein lieber Martin! Es war lange mein Wunsch, einen geschickten Schreiner im Ort zu haben. Ich werde dich daher hinreichend unterstützen, eine eigene Werkstätte zu errichten.« Das alte Haus wurde nunmehr neu gebaut. Herr von Waldberg gab ihm alles erforderliche Holz dazu unentgeltlich, und der junge Meister verfertigte alle Schreinerarbeit daran mit eigener Hand; auch fand er, da er ebenso billig als geschickt war, reichlichen Verdienst und verheiratete sich in der Folge mit einer sehr tugendhaften, sittsamen und fleissigen Bürgerstochter.
Der Grossvater, nunmehr ein ehrwürdiger Greis, erlebte diese Freude noch und wohnte bei seinem Enkel in dem neuen Haus, sehr geehrt und zufrieden. Martin konnte auch seinen Eltern und Geschwistern sehr viel Gutes erweisen. Als einmal Martin am Namensfest des Grossvaters Eltern, Geschwister und die übrigen Verwandten auf eine Martinsgans eingeladen hatte und alle sehr vergnügt und fröhlich waren, sagte der Grossvater: »Es ist wohl das letztemal, dass ich alle meine Lieben an einem Tisch so beisammen sehe! Mit Freuden erinnere ich mich noch jenes Abends, da Martin noch als kleiner Knabe aus Liebe zu mir jenes Rotkehlchen verkaufte, um mir auf den Martinstag einen fröhlichen Abend zu verschaffen. Unter Gottes Leitung war jenes Vögelein die erste Veranlassung zu Martins Glück. Gott belohnte seine Liebe zu mir, seine Ehrlichkeit, seinen Fleiss, seine gute Ausführung und setzte ihn in den Stand, mir einen fröhlichen Abend meines Lebens zu bereiten und auch alle reichlich zu unterstützen. Nun will ich gerne sterben, da derjenige, der auch für die Vögel sorgt, durch ein Rotkehlchen so liebreich für uns alle gesorgt hat.«