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Margareta, ein armes Landmädchen, schreibt an ihre Mutter.
Liebste Mutter!
Ich bin recht glücklich dahier in der Stadt angekommen. Die Frau, bei der ich jetzt diene, war recht erfreut, dass ich so richtig auf den Tag eintraf, und grüsste mich auf das freundlichste.
Sie erzählte mir, was sie auf den Gedanken gebracht habe, mich in den Dienst zu nehmen. Da Ihr dieses nicht wisst, wie ich es bisher selbst nicht gewusst habe, so muss ich es Euch doch auch erzählen.
Als die Frau im letzten Frühling mit ihren zwei Kindern unsern Herrn Pfarrer, ihren Bruder, besuchte, hatte sie gar vieles mit ihm zu reden und einige Schriften mit ihm durchzugehen. Die Kinder, die das erstemal auf dem Land waren, wollten lieber ein wenig im Freien herumspringen als zu Hause sitzen. Da liess der Herr Pfarrer mich rufen, um die Kinder in den Garten, in das nahe Wäldchen und weiterhin auf die Wiese zu führen und wohl auf sie acht zu haben. Über eine Weile kamen aber doch die Frau und der Herr Pfarrer nach. Sie gingen in das Wäldchen und sahen uns auf der Wiese; wir aber konnten sie nicht sehen. Der Knabe bemerkte in dem klaren Bach einige Fischlein und wollte mit Gewalt in das Wasser waten, um sie zu fangen. Um ihn abzuhalten, sagte ich: »Kinder, kommt hierher, ich will euch noch etwas Schöneres zeigen.« Ich führte sie an ein Plätzchen, wo alles voller Blumen stand. Die Kinder hatten grosse Freude daran. »Nicht wahr«, sagte ich, »der liebe Gott kann doch recht schöne Blumen machen!« Die Kinder gaben mir recht. »Nun«, sagte ich, »so habt ihr den lieben Gott, der uns so schöne Sachen schenkt, auch recht lieb.« Dieses Gespräch gefiel der Frau sehr gut. Der Herr Pfarrer lobte nun Euch, liebste Mutter, gar sehr, und sagte, dass Ihr Eure Kinder recht gut erzogen; und dass wir Kinder, der Bruder und ich, in der Schule immer unter seine besten Schüler und Schülerinnen gehört. Als nun im Herbst darauf das Kindermädchen, das vor mir im Dienst der Frau gewesen, nach Hause musste, weil seine Eltern es nunmehr selbst nötig hatten, so schrieb die Frau an ihren Bruder, unsern Herrn Pfarrer, ob ich nicht Lust hätte, zu ihr in den Dienst zu treten. Der Herr Pfarrer schrieb, wie Ihr wisst, sogleich zurück, dass wir beide es als ein grosses Glück ansehen und dass ich mit dem nächsten fahrenden Boten eintreffen werde. So erzählte die Frau. »Und so«, sagte sie dann zu mir und nahm mich liebreich bei der Hand, »hat uns, wie ich denke, der liebe Gott zusammengeführt.«
Sie ging hierauf mit mir in die Kinderstube, die aber ein sehr schönes, helles Zimmer mit grünbemalten Wänden ist. Die Kinder kannten mich noch und sprangen sogleich auf mich zu. Der kleine Fritz fragte: »Was macht des Onkels Pudel, der mit uns auf die Wiese lief und so schöne Künste kann, und die Steine, die man in den Bach wirft, aus dem Wasser herausholt?« Das kleine Thereschen fragte, wiewohl es bereits spät im Herbst ist: »Hast du mir von den schönen Blumen, die auf deiner Wiese wachsen, keine mitgebracht?« Ich beantwortete die Fragen der Kinder und sagte: »Anstatt der Blumen habe ich von den Bäumen, die damals so schön geblüht haben, Euch Äpfel mitgebracht.« Ich teilte sie ihnen aus, und die Kinder hatten daran grosse Freude, und jedes behauptete, seine Äpfel hätten die schönsten roten Backen.
Die Mutter lächelte und sagte zu mir: »Sei gegen die zwei Kinder immer so liebreich und freundlich, und habe immer wohl auf sie acht.« – »Das werde ich mit Freuden tun«, sagte ich, »es sind ja gar liebe, artige Kinder!« – »Nun wohl, tu es«, sagte die Frau, »und ich werde dann auch dir eine liebreiche, freundliche Mutter sein.«
Diese Worte der Frau waren mir sehr tröstlich und erfreulich. Allein so liebreich und freundlich wie Ihr, liebste Mutter, kann doch kein Mensch in der Welt gegen mich sein. Ach, wenn ich Eurer Tränen und Eurer mütterlichen Ermahnungen beim Abschied gedenke, so kommen mir jetzt noch die Zähren in die Augen. Ich werde es in meinem Leben nicht vergessen, wie Ihr eines meiner zwei Päcklein getragen; wie Ihr, wiewohl ich es nicht zugeben wollte, im Regen stehenbliebt, um zu warten, bis der Wagen kam; wie Ihr einen kleinen Kuchen, den Ihr eigens für mich gebacken, nebst einigen Äpfeln in ein Taschentuch gebunden und mir mit auf den Weg gegeben; wie Ihr mich dem alten, ehrlichen Boten anempfohlen und mir Eure Ermahnungen noch einmal kurz wiederholt habt. Ja, liebste Mutter, ich werde Eure Worte nie vergessen; sie sind in mein Herz geschrieben. Ich werde immer Gott lieben, gern beten, jede Sünde scheuen, böse Menschen fliehen, meiner Frau treu und redlich dienen und die mir anvertrauten Kinder wohl pflegen. Das verspreche ich Euch und dem lieben Gott, betet doch recht für mich, dass Gott mir seine allmächtige Gnade verleihe, mein Versprechen zu halten. Ich bete auch stets für Euch, und werde immer sein
Eure liebende, gehorsame Tochter
Margareta Ost.
Margareta an ihre Mutter.
Liebste Mutter!
Da schreib' ich Euch schon wieder, obwohl ich erst vor acht Tagen dem zurückkehrenden Boten einen Brief mitgegeben habe. Es ist mir gar so erfreulich und tröstlich, an Euch zu schreiben. Denn es ist mir da, als sitze ich bei Euch in unserm traulichen Stübchen und plaudere mit Euch. Die beiden Kinder, über die ich die Aufsicht habe, schlafen bereits sanft und süss. Da habe ich schon noch Zeit zu einigen Zeilen an Euch.
Meine Frau ist wirklich eine recht verständige, christliche Frau. Alles, was sie mir zu befehlen hat, sagt sie mir mit Freundlichkeit und belehrt mich liebreich über alles, was ich noch nicht weiss. Ich könnte mir keine bessere Frau wünschen. Auch die beiden Kinder haben mich sehr lieb gewonnen und sind so gern bei mir als bei ihrer Mutter. Das freut mich von Herzen und ist auch ihr sehr lieb. Denn die Frau muss, weil der Herr in seinen Geschäften viele Reisen zu machen hat, die meisten Stunden des Tages in ihrem Kaufladen zubringen.
Diesen Laden, liebe Mutter, solltet Ihr einmal sehen! Die Frau handelt mit Musselin, und Ihr könnt gar nicht glauben, wie alle diese Waren so blendend weiss und alle Fädelein so fein und gleich sind. In meinem Leben habe ich nichts so Schönes gesehen; ich konnte mich nicht genug wundern, dass man etwas so Schönes machen kann. Meine Frau sagte: »Alle diese Fäden wurden von Maschinen gesponnen.« Ich sagte in meiner Einfalt: »Von diesen Leuten habe ich zwar noch nie gehört, sie müssen aber sehr geschickt sein.« Meine Frau lachte von Herzen und erklärte mir die Sache. Sie zeigte mir hierauf gestickte Halstücher und ganze Kleider. Die weissen Blumen und Verzierungen darauf sind wunderschön. »Diese«, sagte meine Frau, »kann man nicht durch Maschinen zustande bringen; sie sind von Menschenhänden gestickt. Viele tausend Menschen – Gott sei Dank! – verdienen mit dieser Arbeit ihr Brot.«
Das Haus, das meiner Frau gehört, ist sehr gross und schön. In dem obersten Stock wohnt eine adelige Dame zur Miete. Sogleich am ersten Morgen, nachdem ich abends zuvor angelangt war, kam die Kammerjungfer herab und hielt einen weissen, steinernen Krug in der Hand, der mit blauen Blumen bemalt und mit einem glänzenden, zinnernen Deckel versehen ist. »Du!« sagte sie zu mir, »das vorige Kindermädchen hat meiner gnädigen Frau immer draussen vor dem Stadttor an dem Gesundbrünnlein das Trinkwasser geholt. Willst du es nicht auch tun? Denn unsere Köchin und die Magd haben nicht wohl Zeit dazu, und für mich schickt es sich nicht, mich mit dem Krug zu schleppen. Du aber findest abends, wenn deine Frau ihren Kaufladen geschlossen hat und auf die Kinder dann selbst achtgeben kann, leicht ein Viertelstündchen Zeit, zum Brunnen zu gehen. Du darfst es auch nicht umsonst tun. Meine gnädige Frau gibt dir für jeden Krug Wasser einen Kreuzer und wird dich am Ende der Woche immer richtig bezahlen. Nun, willst du?«
»Wenn es meine Frau erlaubt«, sagte ich, »recht gern. Allein wer wird sich denn für einen Trunk kalten Wassers bezahlen lassen? Ich will das Wasser mit Freuden umsonst holen.« Meine Frau, die dabeistand, sagte: »Nimm du diese Belohnung immerhin an. Die gnädige Frau kann sie leicht geben, und dir werden sechs Gulden des Jahres sehr wohl bekommen.«
Ich nahm den Krug und trat mein neues Amt als Wasserträgerin sogleich an. Heute abend hatte ich eben das Licht angezündet, meine Frau strickte und die beiden Kinder spielten, da trat die Jungfer herein und brachte mir sechs rote Kreuzer. »Sie kommen eben aus der Münze«, sagte sie, »und funkeln, obwohl sie nur von Kupfer sind, wie Gold.«
Ich hatte an dem schönen, glänzenden Geld grosse Freude und dünkte mich überaus reich, als ich selten war. Diese sechs Kreuzer schicke ich nun Euch, liebe Mutter. Ihr könnt nun abends zu Eurem Stück trockenen Brotes doch auch einen Schoppen Bier trinken. Ich werde Euch jeden Kreuzer, den ich bekomme, immer am Ende des Monats schicken. Der Bote hat ja versprochen, alle Briefe umsonst mitzunehmen.
Ihr werdet über mein armseliges Geschenk lächeln. Ich weiss aber doch, dass Ihr es so gut aufnehmen werdet, als es gemeint ist.
So, nun gute Nacht! Es ist schon spät, und Ihr schlaft wohl schon so sanft wie die zwei Kinder hier neben mir in ihren Bettchen. Ich will mich nun auch zur Ruhe begeben, damit ich morgen wieder zur Arbeit aufstehen kann. Denn bevor morgens die Kinder erwachen, habe ich immer allerlei Hausgeschäfte zu verrichten. Gott sei mit Euch und Eurer
Euch herzlich liebenden Tochter
Margareta Ost.
Die Mutter an ihre Tochter.
Liebste Tochter!
Um des Himmels willen, was hast Du getrieben? Als ich Deinen Brief aufmachte, fielen sogleich sechs neue, blanke Goldstücke heraus. Ich erschrak und zitterte an allen Gliedern! Oh du lieber Gott, rief ich, das Kind wird das Geld doch nicht gestohlen haben! Mein Gott, wenn meine Margareta sich von dem Glanze des Goldes hätte blenden und zu einer solchen Übeltat verführen lassen, so wäre ich die unglücklichste Mutter.
Ich las nun Deinen Brief. Du schreibst da von roten Kreuzern und nennst sie ein armseliges Geschenk. Das verwirrte mich. Das Kupfer kann sich doch nicht in Gold verwandelt haben, dachte ich. Ich sann lange nach. Endlich fiel mir ein, ein Bedienter der gnädigen Frau könnte sich vielleicht den Spass gemacht haben, anstatt der roten Kupferkreuzer messingene Rechenpfennige in den Brief zu stecken, um mir anfangs eine eitle Freude und am Ende einen rechten Verdruss zu machen.
Ich lief zu dem Herrn Verwalter, der das Geld sehr gut kennt. Ich sagte, dass ich die Sache für einen mutwilligen Scherz ansehe; jedoch wolle ich ihm die gelben, glänzenden Geldstücke zeigen.
»Ja, ja«, sagte er, »das mag wohl so ein Streich eines mutwilligen Burschen sein.« Er setzte seine Brille auf und sprach: »Lasst die feine Münze einmal sehen.«
Ich gab sie ihm. »Alle Welt«, rief er, »das ist wahrhaftig echtes Gold; jedes Stück ist 11 fl. 40 kr. wert. Nein, das ist kein Spass. Ich wenigstens möchte niemand einen solchen Spass machen, und ich denke, kein Mensch in der Welt könnte dazu Lust haben.«
Ich liess ihn nun Deinen Brief lesen. »Da muss ein Irrtum vorgegangen sein«, sagte er. »Die gnädige Frau muss sich, zumal es bereits Nacht war, vergriffen haben; anstatt der Kupferkreuzer erwischte sie Goldstücke.
»Es kann wohl nicht anders sein«, sagte ich, »am nächsten Botentage will ich das Geld meiner Tochter wieder zurückschicken.«
»Tut das«, sprach er, »es könnte sonst einen schlimmen Handel ansetzen.«
Ich nahm das Geld wieder mit nach Hause. Ich konnte die ganze Nacht kein Auge zutun. Ich fürchtete immer, es möchten Diebe kommen und das Geld stehlen und mich wohl gar noch obendrein erdrosseln. Mit dem Gold kam nichts als Schrecken, Angst und Sorge unter mein Dach. Ich bin recht froh, dass ich des Unglücksgeldes heute loswerde. Geh' doch augenblicklich zur gnädigen Frau und gib ihr die Goldstücke wieder zurück. Ich kann meinen Kopf nicht ruhig niederlegen, bis ich weiss, das Geld sei wieder in der Hand, der es gehört. Schreib mir doch sogleich, ob Du es an den rechten Mann oder vielmehr an die rechte Frau gebracht hast.
Georg, Dein Bruder, hat geschrieben. Er befindet sich wohl, und es geht ihm gut. Ach du mein Gott! – als ihn das Los getroffen hatte, Soldat zu werden, und er mit den Rekruten fort musste, war ich wohl recht tief betrübt und weinte mir die Augen wund. Allein der liebe Gott macht doch alles recht. Da Georg so vergnügt und zufrieden in seinem Stand ist, so bin ich auch ruhiger. Indes hat er doch allerlei Kleinigkeiten notwendig und möchte auch zuzeiten mit seinen Kameraden ein Glas Bier trinken. Alle erhalten Unterstützung von Hause; ich aber kann ihm zur Zeit keinen Kreuzer schicken. Das tut mir recht leid. Ja, wenn die Goldstücke mein gehörten, da könnte ich ihm wohl helfen! Aber nein! Ich denke, wir alle drei wollten lieber verhungern und verdursten als nur einen Heller von fremdem Eigentum entwenden.
Gott sei mit Dir, liebe Tochter, und mit uns allen, und bewahre uns vor allem Unrecht! Lebe wohl – und noch einmal, schreib doch sogleich mit dem zurückkehrenden Boten
Deiner
bekümmerten Mutter.
Margareta an ihre Mutter.
Liebste Mutter!
Der Anfang Eures Briefes hat mich recht erschreckt und betrübt! Ich musste weinen, dass es Euch nur einen Augenblick einfallen konnte, es sei möglich, dass ich das Geld entwendet habe. Nein, lieber wollte ich mir die Hand abhauen lassen, als stehlen oder sonst etwas Unrechtes tun!
Ich lief, so schnell ich konnte, die Stiege hinauf zur Frau von Holm, legte ihr die sechs Goldstücke auf den Tisch und sagte: »Sie müssen mir aus Versehen anstatt der roten Kreuzer lauter Gold gegeben haben.« Die gnädige Frau schüttelte den Kopf und betrachtete die Goldstücke, eines nach dem andern. Sie schien darüber fast so erstaunt als Ihr.
Ich gab ihr nun Euren Brief zu lesen. Sie las ihn und sagte: »Das ist seltsam! Von mir aus ist aber keine Irrung vorgegangen. Für einen blossen Spass kann ich die Sache auch nicht ansehen. Ich denke, irgend eine unbekannte, wohltätige Hand hat das Gold in den Brief getan, um deine arme Mutter zu unterstützen. Diese Art zu geben ist freilich etwas sonderbar, aber doch gewiss wohl gemeint.«
Ich sagte mit Tränen in den Augen: »Liebste gnädige Frau! Diese unbekannte wohltätige Hand ist gewiss die Ihrige. Welche könnte es sonst sein? Sie waren so grossmütig, mit diesem reichen Geschenk eine bedrängte Mutter und ihre Kinder zu erfreuen.«
»Oh nein«, sagte die Frau, »wirklich habe ich, ausser einigen goldenen Schaumünzen, wenig Gold in meiner Kasse, und von so schönen neuen Goldstücken auch nicht ein einziges. Da, nimm dein Gold wieder, mein liebes Kind!«
»Aber«, sagte ich, »was soll ich denn damit anfangen? Es gehört nun einmal nicht mein. Wem soll ich es geben? Ich kann mir gar nicht einbilden, wer anstatt des Kupfers Gold in den Brief sollte gelegt haben. Raten Sie mir doch, was ich tun soll!«
»Schicke das Gold wieder deiner Mutter, der du die roten Kreuzer zugedacht hattest«, sagte die Frau. »Sie kann es mit gutem Gewissen zu ihrem Nutzen verwenden.«
Ich blieb stehen und brachte noch viele Bedenklichkeiten vor. »Ach, gnädige Frau«, sagte ich am Ende, »nehmen Sie das Gold in Verwahrung, bis man weiss, wem es gehört!«
Sie aber sprach: »Auf mein Wort, behalte das Gold. Sollte jemand darauf Ansprüche machen und deine Mutter es bereits ausgegeben haben, so will ich es vergüten.«
Da traten zwei adelige Fräulein herein, der Frau einen Besuch zu machen. Meine Kleidung war ihnen etwas Neues, da die Landleute, die aus der benachbarten Gegend in die Stadt kommen, anders gekleidet sind. Ich musste mich um und um drehen, damit sie mich recht betrachten konnten. Das kleine blaue Häubchen mit schwarzen Bändern, das rote Mieder, der grüne Rock, die weissen Ärmel und weisse Schürze wurden gemustert. »Du bist in der Tat ein hübsches Kind!« sagten sie. Das verdross mich. »Ich bin kein Kind mehr!« sagte ich. Da lachten sie und wollten mir weis machen, in der Stadt nenne man auch erwachsene Fräulein, ja mancher Herr seine Frau Gemahlin »Mein Kind«. Ich glaubte es ihnen aber nicht. Hierauf fragten sie mich, wie ich heisse. »Gretel«, antwortete ich. »Das ist ein garstiger Name«, riefen sie, »du musst dich Margot nennen.« – »Pfui«, sagte ich, »der Name, den Sie da nannten, kommt mir gar närrisch vor. Ich habe ihn noch gar nie gehört. Kein Mädchen in meinem Dorf heisst so, und ich glaube, auch keines in der Welt.« Da lachten und kicherten sie noch mehr.
Die gnädige Frau aber sagte: »Gretel, Gretchen oder das französische Wort Margot ist im Grunde einerlei Namen, und es liegt nichts daran, wie man ihn ausspricht; allein daran ist alles gelegen, dass die Menschen in einem andern Sinn auf ihren guten Namen halten und gute Menschen sind.«
Ich gab ihr Recht, nahm die Goldstücke, die noch auf dem Tisch lagen, und wollte gehen. Da machten beide Fräulein grosse Augen und fragten mich: »Gehört das Gold dir?« Die Frau erzählte, wie ich dazu gekommen. »Das ist wunderbar«, sagten die Fräulein, »allein ein grosses Glück für dich. Nun musst du dir sogleich anstatt deiner bäuerlichen Kleidung so schöne Kleider wie die Stadtmädchen anschaffen.« Ich sagte: »Das ist kein guter Rat. Die Spinnewebe-Kleidung der Stadtmädchen ist nicht gut für ein Landmädchen.« Die Frau sprach: »Du hast recht, liebes Gretchen! Bleib du bei deiner Tracht, die mir sehr wohl gefällt. Manche Landmädchen haben mit der einfachen ländlichen Kleidung auch die ehrbaren ländlichen Sitten abgelegt und sind eitel und frech geworden. Wende du dein Gold besser an.«
Liebste Mutter! Ich weiss die Goldstücke nicht besser anzuwenden, als dass ich sie Euch schicke. Schickt davon auch dem lieben Georg. Ihr beide habt das Geld nötiger als ich.
Noch habe ich eine Bitte an euch, liebe Mutter! Meine Frau, die Madame Maier, freut sich, dass ich gut spinnen kann und der Faden so rein und fest ist. »Diesen Winter musst du mir ein Stückchen Tuch spinnen«, sagte sie. – Schickt mir, liebe Mutter, daher mein nettes zierliches Spinnrädchen, das der selige Vater noch vor seinem Tod besonders für mich gemacht hat. Denn ich kann an keinem andern so gut spinnen. Der Vater war doch der beste Dreher in unserer ganzen Gegend! Und Ihr, liebe Mutter, seid doch die beste Spinnerin. Ach, wenn wir zwei so abends beisammen sassen und die Rädlein schnurrten, so waren wir doch recht vergnügt. Ich werde den Winter hindurch an meinem Spinnrädchen recht oft an Euch denken.
Lebt wohl und macht Euch wegen der Goldstücke keine Sorge mehr, sondern schafft Euch dafür an, was Ihr den Winter hindurch braucht. Es wird bereits kalt. Kleidet Euch wärmer, und heizt bei diesem rauhen, unfreundlichen Herbstwetter doch auch ein. Friert nicht mehr so, um Holz zu sparen. Ich bin recht froh, dass ich denken kann, wenn ich so in dem warmen Zimmer sitze, Ihr habt nun auch ein warmes Stübchen.
Ich bleibe ewig
Eure gehorsame Tochter
Margareta.
Georg an seine Schwester Margareta.
Liebste Schwester!
Gott grüsse Dich, Du liebe Schwester, und ihm sei Lob und Dank, dass er durch Dich sowohl der Mutter als mir eine so grosse Wohltat erwiesen hat.
Die liebe Mutter hat mir die drei Briefe, die Du ihr geschrieben, und zwei von den Goldstücken, die Du ihr geschickt hast, durch die Post überschickt. Du kannst denken, wie ich mich darüber freute!
Eure Ehrlichkeit aber freute mich noch mehr als das Gold; wiewohl ich das Gold auch sehr gut brauchen kann. Es kam eben zu rechter Zeit. Denn ich habe allerlei Kleidungsstücke notwendig, die wir Soldaten uns selbst anschaffen müssen, wozu aber mein Sold nicht hinreichen will. Jetzt ist mir auf lange Zeit geholfen.
Die Sache machte indes bei dem ganzen Regiment grosses Aufsehen. Meine Kameraden wissen alle, dass unsere liebe Mutter sehr arm ist und nur kümmerlich zu leben hat. Sie wunderten sich daher, woher die Mutter auf einmal soviel Geld nehme. Einer hat nämlich den Brief an mich gesehen und auf der Adresse die Worte gelesen: Mit 23 fl. in Gold.
Ich erzählte ihnen, wie wir zu dem Geld gekommen, und las ihnen den Brief der Mutter und auch deine drei Briefe, die sie mir mit dem Geld geschickt hat. Allein einige aus ihnen sagten: »Geh', geh', das sind Schwänke. Kein Mensch ist so närrisch, dass er so heimlicher und verstohlener Weise für seine blanken Goldstücke rote Kreuzer eintauschen möchte. Die Goldstücke sind gestohlen.«
Die Sache kam vor meinen Herrn Hauptmann. Er liess mich rufen.
»Nun, Ost«, sagte er, »wie ich höre, ist Er ja auf einmal reich geworden. Die Geschichte kommt mir aber doch etwas sonderbar vor. Hat Er die Briefe von seiner Mutter und Schwester mitgebracht?« – »Oh ja wohl!« sagte ich, überreichte ihm alle vier Briefe und legte die zwei Goldstücke, die ich noch nicht hatte wechseln lassen, auf den Tisch.
Er las die Briefe aufmerksam und mit sichtbarem Wohlgefallen. »Nun wohl, mein lieber Ost«, sagte er, nachdem er die Briefe alle durchgelesen hatte, »seine Mutter ist eine grundehrliche Frau und hat auch ihre Kinder, wie ich sehe, zu ehrlichen Leuten erzogen. Seine Schwester ist ein sehr rechtschaffenes Mädchen, und auch Er hat sich immer als recht braver, ehrlicher Bursche betragen. Habt beide eure Mutter immer so lieb, befolgt ihre guten Lehren, und es wird euch wohl ergehen.«
»Noch besonders«, sagte der Herr Hauptmann, »gefällt mir an seiner Schwester, dass sie gegen die alte kränkliche Frau von Holm sich so gefällig und dienstfertig bezeigte und ihr das Trinkwasser täglich von der gesunden Quelle ausser der Stadt unentgeltlich holen wollte. Ich kenne diese Frau sehr gut. Sie ist meine Tante und – nicht nur nach meiner Meinung, die parteiisch sein könnte, sondern auch nach dem Urteil aller, die sie näher kennen – wirklich eine ganz vortreffliche Frau.«
»Sollte wohl«, sagte ich, »diese edle Frau sich das Vergnügen gemacht haben, durch Verwechslung der roten Kreuzer mit Goldstücken armen Leuten aus der Not zu helfen?«
»Oh nein«, sprach der Herr Hauptmann. »An gutem Willen fehlt es ihr zwar nicht; allein sie ist nicht so reich, dass sie eine kleine Gefälligkeit so überreichlich belohnen und einen Krug Wasser mit einem Goldstück bezahlen könnte. Was mit dem Kupfergeld und den Goldstücken vorgegangen, ist zur Zeit noch ein Geheimnis. Ich weiss es nicht; das weiss ich aber ganz gewiss, wenn ihr zwei Geschwister immer so gut bleibt und eure Mutter so ehrt und liebt wie bisher, so wird Gottes Segen auf euch ruhen, und ihr werdet unter den Menschen immer Wohltäter und gute Freunde finden.«
Nach einigen Tagen kam ein Kamerad, der den Herrn Hauptmann bisher bediente, nunmehr aber als Grenadier zu einer andern Kompagnie versetzt wird, und sagte zu mir, der Herr Hauptmann lasse mich rufen und werde mich, wie es scheine, zu seinem Bedienten nehmen. Denn du musst wissen, dass mehrere Herren Offiziere sich von Soldaten bedienen lassen.
Ich ging auf der Stelle zu ihm. »Nun Ost«, sagte er, »will Er mein Bedienter werden? Da Seine Schwester so treu und redlich und gegen meine Tante so diensteifrig und gefällig ist, so denke ich, Er werde es auch gegen mich sein.«
Du kannst denken, liebe Schwester, dass ich diesen Antrag mit Freuden annahm und dass ich versprach, ihm ein treuer, guter Diener zu sein. Es ist ihm auch gut dienen; er ist gar ein lieber, freundlicher Herr. Auch kann ich die Dienste, die ich ihm zu leisten habe, neben dem Dienst des Königs leicht versehen. Ich habe ihm bloss täglich sein Mittagessen auf sein Zimmer zu bringen, seine Kleider reinlich zu erhalten und was er sonst noch nötig hat, zu holen und zu bestellen. Auch muss ich sein Pferd besorgen. Dafür belohnt er mich sehr gut und lässt von seinem Essen immer etwas für mich übrig.
Neulich, da er sehr viel zu schreiben hatte, sagte er zu mir: »Höre Er einmal, Ost! Da seine Schwester so gut schreibt, so wird Er wenigstens nicht schlecht schreiben. Ihr beide seid ja in eine Schule gegangen und beide gleich fleissig gewesen. Will Er mir nicht die zwei Bogen da abschreiben?«
»Oh recht gern«, sagte ich, »so gut ich es nämlich kann.« Ich brachte sie ihm am andern Morgen. Er war damit sehr zufrieden und sagte lächelnd und im Scherz: »Vortrefflich, Herr Sekretär!« Nun gibt er mir immer abzuschreiben und belohnt mich dafür besonders. Ich stehe nun so gut als mancher reiche Bauernsohn, der zu seinem Sold noch eine grosse Zulage von Hause erhält.
Sieh, liebe Schwester, so haben deine Briefe und deine Kreuzer mir ein grosses Glück beschert. Wir wollen Gott dafür danken, dass er alles so gut fügte, und wollen ferner auf ihn vertrauen.
Nun geht es bald wieder ins Feld. Bete, dass Gott mich und meinen lieben Herrn Hauptmann unter feindlichen Kugeln und Schwertern bewahre. Sei aber, weil ich mich so vielen Gefahren aussetzen muss, nicht traurig und kleinmütig. Gott gibt mir einen fröhlichen Mut, für mein Vaterland zu streiten. Auch der Mut unseres Herrn Hauptmann belebt den meinigen. Er sagt öfter: »Es ist süss und rühmlich, für das Vaterland zu sterben.« Er hat recht, ja ich glaube, es ist auch wahrhaft christlich, für sein Volk Blut und Leben dazugeben. Sollte ich dich und die liebe Mutter in dieser Welt nicht mehr sehen, so sage ich euch hiermit Lebewohl. Ach, es wäre mir freilich sehr leid, wenn ich das viele Gute, das die Mutter uns getan hat, ihr nicht mehr vergelten könnte. Auch das betrübt mich, dass ich mich dann deiner, liebe Schwester, nicht mit Rat und Tat werde annehmen können! Allein der gütige Gott wird, wenn er mich zu sich ruft, für euch beide sorgen – und in dem Himmel sehen wir uns ja wieder!
Gott sei mit Dir, liebste Schwester, und mit
Deinem treuen Bruder
Georg Ost.
Margareta an ihre Mutter.
Liebste Mutter!
Gottlob, dass es Friede ist! Ihr wisst zwar dies schon längst. Man hat ja dem lieben Gott in allen Kirchen dafür gedankt! Aber wir finden täglich neue Ursachen, Gott zu danken.
Viele Beurlaubte sind schon zurückgekommen. In vielen Häusern ist Freude; in manchem Haus aber auch Trauer über die Gebliebenen, die nie mehr zurückkehren, und es werden viele schmerzliche Tränen vergossen.
Aber ich, liebe Mutter, musste gestern vor Freude weinen. Denn, denkt nur, gestern kam Georg ganz unerwartet hierher. Ich kann es Euch gar nicht sagen, was für eine Freude ich hatte.
Anfangs erschrak ich zwar nicht wenig, als ein grosser, ansehnlicher Soldat mit einem Schnurrbart und einem fürchterlichen Säbel an der Seite in die Stube trat und auf mich zueilte. Ich schrie vor Schrecken laut auf. Er aber lachte und sagte: »Kennst du mich denn nicht mehr, liebe Schwester?« Da sah ich erst, dass es Georg sei, und war vor Freude fast ausser mir. Das Herz klopfte mir nun vor Freude fast noch mehr als zuerst vor Schrecken.
Georg erkundigte sich nun vor allem recht angelegentlich nach Euch. Er lässt Euch tausendmal grüssen und Euch sagen, dass er sobald als möglich selbst kommen und Euch besuchen werde.
Meine Frau liess eine Flasche Wein, Brot und drei Gläser bringen und sagte zu mir: »Die Ankunft deines Bruders muss gefeiert werden, und wir müssen auf seine Gesundheit trinken.«
Er setzte sich nun zu mir und meiner Frau an den Tisch und erzählte, wie es im Krieg ihm ergangen sei. Die merkwürdigste Begebenheit für uns, liebe Mutter, ist, dass er seinen vortrefflichen Herrn Hauptmann aus der Hand der Feinde und vom Tod errettet hat. Der gute Herr war verwundet und sein Pferd erschossen worden. Ein feindlicher Husar hatte schon den Säbel geschwungen, ihm den Kopf zu spalten. Georg kam eben noch im rechten Augenblick, hielt den Hieb auf und schlug sich mit dem ergrimmten Husaren tüchtig herum. Mehrere feindliche Soldaten kamen herbei; aber auch Georgs Kameraden kamen auf seinen Ruf »Rettet unsern Hauptmann!« ihm zu Hilfe. Die Feinde wurden in die Flucht gejagt. Georg verband seinen Herrn, bis man den Feldscheer rufen konnte, brachte ihn mit Hilfe seiner Kameraden in eine Bauernhütte und verpflegte ihn auf das sorgfältigste. Der Herr wurde wieder hergestellt; die Wunde ist ganz geheilt und bringt ihm keinen weiteren Nachteil. Sie ist aber für ihn noch ein schöneres Ehrenzeichen als das Ordenszeichen, das seine Brust ziert.
Der Herr Hauptmann, der bei der Frau von Holm, seiner Tante, hier im Haus ist, sagte zu Georg: »Ich muss deine gute Schwester doch auch kennenlernen. Rufe sie!« Als ich hereintrat, sagte er: »Es freut mich, die Schwester des Mannes kennenzulernen, der mir das Leben gerettet hat. Ich werde mich gegen ihn gewiss dankbar beweisen und auch dir und deiner Mutter soviel Gutes tun als ich kann. Schreib' das deiner Mutter und grüsse sie mir recht herzlich. Eine Mutter, die so gute Kinder erzogen hat, kann man nicht genug ehren.«
Heute früh reiste der Herr Hauptmann wieder ab, denn er eilt sehr, seinen Vater und seine Mutter, die beide noch am Leben sind, je eher je lieber wiederzusehen. Georg begleitete ihn und gab mir noch beim Abschied viele tausend Grüsse an Euch auf.
Die Frau von Holm, die immer recht gnädig gegen mich war, ist jetzt noch viel freundlicher. Sie trat heute, als ich aus der Kirche kam, in unsere Stube und sagte zu mir: »Ich habe eben Gott gedankt, dass er mich meinen Karl wiedersehen liess. Ich musste weinen vor Freude, als Karl mir erzählte, aus welcher grossen Gefahr dein Bruder ihn errettet hat. Sieh«, sagte sie, »wieviel Gutes die roten Kreuzer gestiftet haben. Hättest du diese Kreuzer aus kindlicher Liebe nicht sogleich deiner Mutter geschickt, so wäre dein Bruder nicht Karls Bedienter geworden, und Karl wäre vielleicht nicht mehr am Leben. Gott hat auf dieses dein kindliches Geschenk einen grossen Segen gelegt.«
»Das ist wohl wahr«, sagte die Kammerjungfer, die ihre Frau begleitete; »aber ich möchte doch nur wissen, wie die roten Kreuzer aus dem Brief herausgekommen und wie die Goldstücke dafür hineingekommen sind!«
Frau von Holm sagte: »Das möchte ich auch gerne wissen; allein nicht aus blosser Neugierde, sondern um dem unbekannten Wohltäter, der das Gold in den Brief tat, zu danken. Wir wollen indes Gott danken, der durch Menschen den Menschen Gutes erweist! Gott wolle die edle Seele, die nur er kennt und durch die er uns so grosses Heil widerfahren liess, reichlich dafür segnen.«
Um das, liebste Mutter, wollen wir den lieben Gott täglich bitten. Ich werde aber Gott doch auch bitten, er wolle es an den Tag kommen lassen, wer uns für die Kupfermünzen Goldstücke gegeben und uns so viele Freude gemacht hat. Ihr habt die sechs Goldstücke recht gut verteilt, indem Ihr zwei für Euch verwendet, zwei dem Bruder geschickt und zwei für mich aufbewahrt habt. Ihr wünscht gewiss auch, so wie ich und der Bruder, die milde Hand zu küssen, durch die Gott uns so viel Gutes getan hat.
Lebt indes wohl! Ich verbleibe mit einem Herzen voll der kindlichsten Liebe
Eure gehorsame Tochter
Margareta.
Georg an seine Mutter.
Liebste Mutter!
Es ist mir sehr leid, dass mein herzlicher Wunsch, euch wiederzusehen, bisher noch nicht erfüllt worden. Ich hoffe aber, nun recht bald zu Euch zu kommen, und dann auf immer bei Euch zu bleiben.
Wirklich habe ich Euch recht viel Angenehmes zu schreiben. Denkt nur, es ist jetzt aufgekommen, wer anstatt der Kupferkreuzer die Goldstücke in den Brief der Schwester getan hat.
Gestern kamen wir, mein Herr und ich, wieder hierher zu der Frau von Holm. Wir vernahmen sogleich, dass der Herr Oberst unseres Regimentes sich hier bei einem seiner Verwandten befinde. Mein Herr eilte sogleich zu ihm. Der Herr Oberst machte ihm einen Gegenbesuch und wollte auch die Frau von Holm kennenlernen. Die Frau lud ihn zum Essen ein. Er speiste da mit noch einigen Gästen. Ich musste bei Tisch aufwarten.
Die gnädige Frau erzählte während der Mahlzeit die Begebenheit mit den roten Kreuzern. Alle fragten begierig, ob das Geheimnis, wer das Gold in den Brief getan habe, noch nicht entdeckt sei.
Der Oberst, der gar ein heiterer, freundlicher Herr und auch sehr reich ist, lächelte und sagte: »Da kann ich dienen. Weil ich sehe, dass Ihnen soviel daran liegt, so muss ich schon mit der Sprache heraus.«
»Während des Krieges«, so erzählte er, »waren wir auf alle Briefe sehr aufmerksam. Wir wussten, dass sich Spione in unserem Land befanden, und dem Feind von allem, was ihm nützlich und uns nachteilig sein könnte, Nachricht gaben. Da wurde mir nun ein Paket Briefe gebracht, die teils an die Post, teils an Boten abgegeben worden. Ein Brief darunter hatte die Aufschrift: 'An meine liebe Mutter, verwitwete Drechslermeisterin, mit sechs Kreuzer beschwert.' Dies kam mir etwas seltsam vor. Was soll das sein? dachte ich. Das Porto kostet ja mehr als sechs Kreuzer; ich schöpfte Verdacht. Die Spione suchen oft ihre Nachrichten unter einfältigen Adressen weiterzubefördern und an ganz gemeine Leute zu adressieren, auf die man den wenigsten Verdacht haben könnte. Ich öffnete den Brief. Je, dachte ich, den seligen Dreher Ost habe ich ja gekannt! Er war aus meiner Herrschaft gebürtig und ein sehr guter Mann. Er hat mir zu meinen Tabakspfeifen manches schöne Rohr gedreht. Gott habe ihn selig!«
»Der kindliche Brief der Tochter an die Mutter rührte mich innig. Ich hatte tags zuvor eine Rolle Goldes erhalten, das mir eben nicht nötig war, nahm die Kreuzer aus dem Brief heraus und legte dafür die Goldstücke in den Brief. Nun, Gott sei Dank, dass dieser augenblickliche Einfall unter Gottes Leitung so viele freudige Begebenheiten veranlasst hat.«
»Ich dachte«, sagte der Oberst, »es werde bei Tisch wohl von den roten Kreuzern die Rede sein. Ich habe die sechs Kreuzer zum Andenken aufbewahrt und bringe sie hier mit, um sie an die beteiligten Personen auszuteilen. Denn da Gott diese roten Kreuzer so gesegnet hat, so wird jedem aus uns ein solcher roter Kreuzer lieber sein als ein Goldstück.« Er gab einen davon der Frau von Holm und einen dem Herrn Hauptmann. »Und einen«, sagte er, »behalte ich für mich.« Die übrigen drei legte er neben seinen Teller. »Diese«, sagte er, »sind für Georg, seine Mutter und seine Schwester bestimmt.«
Die Frau von Holm sprach, indem sie den Kreuzer zwischen den Fingern hielt und betrachtete: »Dieser rote Kreuzer, an den sich so teure Erinnerungen knüpfen, indem er durch Gottes Leitung die Veranlassung gab, dass meinem Neffen das Leben gerettet wurde, soll mir ein so teures Andenken sein als eine goldene Denkmünze.«
Mein Herr sagte: »Meine Eltern sind auf meine Bitte darauf bedacht, sich meinem Georg erkenntlich zu bezeigen und seiner Mutter unter die Arme zu greifen. Das Haus der guten Witwe ist wegen des zu frühen Todes ihres Mannes und wegen verschiedener Unglücksfälle überschuldet. Georg hat wenig Hoffnung, das Haus schuldenfrei zu machen und sich darauf zu setzen. Wir haben daher, da ich dem Sohn so vieles zu danken habe, uns vorgenommen, ihn mit einer Summe Geldes zu unterstützen.«
»Nun«, sagte der Herr Oberst, »dazu werde ich mit Freuden beitragen.«
Nach Tisch, als die übrigen Gäste sich entfernt hatten, liess der Her Oberst mich rufen und beriet sich mit Frau von Holm und meinem Herrn über unsere Angelegenheiten. Es wurde von ihnen beschlossen, die unverschuldeten Schulden des seligen Vaters zu bezahlen und mich so zu stellen, dass ich mein Gewerbe sorgenfrei und mit Nutzen betreiben könne. Der Herr Oberst versicherte, er werde, da es jetzt Frieden ist, meine Entlassung aus dem Kriegsdienst bewirken, damit ich alsdann sogleich das Haus mit der Werkstätte übernehmen könne. In weniger als einem Monat wird alles berichtigt sein.
Hierauf befahl mir der Herr Oberst, meine Schwester heraufzuführen. Er grüsste sie sehr freundlich, lobte sie, gab ihr die drei roten Kreuzer und sagte: »Teile sie mit deiner Mutter und deinem Bruder, und sei immer eine so gute Tochter und Schwester wie bisher. Euch beiden Kindern sollen diese Kreuzer ein Andenken sein und euch sagen: Gott belohnt die kindliche Liebe. Eure Mutter aber wird, so oft sie ihren Kreuzer ansieht, sich freuen, dass sie euch Kinder so gut erzogen hat.«
Nun, liebste Mutter, wollen wir Gott danken, der uns aus allen Nöten und Trübsalen so gnädig errettet hat. Bald werde ich zu Euch kommen! Und da Ihr wegen Eures Alters die Hausgeschäfte nicht mehr wohl besorgen könnt, so werde ich meine liebe Schwester mitbringen. Wir drei wollen dann in Liebe und Eintracht ein recht glückliches Leben führen.
Wir, ich und Margareta, Eure liebevollen Kindern, können Gott nicht genug danken, dass er uns dazu hilft, euch ein fröhliches Alter zu bereiten.
Ich und Margareta, die diesen Brief mitunterzeichnet, sind mit gleicher kindlicher Liebe
Eure ewig dankbaren Kinder
Georg und Margareta.