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Das Münster.
Die Frau von Linden, eine reiche, adelige Witwe, lebte seit dem Tod ihres Gemahls auf ihrem Schloss in ländlicher Stille und ward wegen ihres Verstandes, ihrer ungeheuchelten Frömmigkeit und ihrer Wohltätigkeit gegen die Armen von der ganzen Nachbarschaft allgemein verehrt und geliebt.
Einst musste sie wegen wichtiger Angelegenheiten sich in die Hauptstadt begeben und brachte dort gegen drei Wochen sehr beschäftigt zu. Am Tag vor ihrer Rückreise wollte sie gegen Abend noch einen Spaziergang um die Stadt machen. Es war Sonntag und nach langem Regen ein unvergleichlich schöner Frühlingstag. Die Einwohner der Stadt strömten, festlich gekleidet und frohen Sinnes, den Toren zu, den herrlichen Abend im Freien zu geniessen. Frau von Linden war bereits auf dem Weg zum Tor und wollte zu ihrer Begleitung nur noch eine Freundin abholen. Da kam es ihr auf einmal in den Sinn, die Hauptkirche der Stadt, das Münster, an dem sie eben vorbeiging, noch einmal zu besehen. Zu dieser Stunde, dachte sie, würde sie dieses Wunder alter Baukunst am bequemsten betrachten können, ohne jemand in seiner Andacht zu stören oder von jemand in ihren Betrachtungen gestört zu werden.
Mit frommer Ehrfurcht trat sie durch die Hauptpforte in den ehrwürdigen Tempel. Das hohe, erhabene Gewölbe, die langen Reihen prächtiger Säulen, die Farbenpracht der bemalten Fenster, der Hochaltar in der tiefen Entfernung des Chors, die Dämmerung und Stille an diesem gottgeweihten Ort, das Majestätsvolle des ganzen Baues erfüllte sie mit Bewunderung, und in ihrem Herzen regten sich die Gefühle der Anbetung und leise Ahnungen von der Nähe Gottes. Sie kniete sogleich in dem nächsten Stuhl nieder und blieb da einige Zeit in sich versunken und still anbetend knien.
Hierauf ging sie in dem Hauptgang des Tempels langsam vorwärts, stand öfter betrachtend still und sprach endlich bei sich selbst: »Welch' ein Denkmal von dem tiefen Gefühl der Ehrfurcht und Anbetung, das die Vorwelt gegen Gott hatte, ist dieser Bau! Wie mächtig und stark muss dieses Gefühl sein, wie tief in dem menschlichen Herzen gegründet, dass es etwas so Grosses und Herrliches zustande bringen konnte! Wie viele Menschen mussten sich vereinigen, welche Anstrengung, welcher Aufwand, welche Ausdauer wurde erfordert, bis – wie die Geschichte sagt, erst nach einem Jahrhundert – dieser Tempel endlich dastand und die Menschen hier ihren Schöpfer gemeinschaftlich anbeten konnten!«
Sie besah hierauf die einzelnen Merkwürdigkeiten, besuchte die Nebenaltäre und Seitenkapellen des grossen, herrlichen Tempels, und betrachtete die alten, vortrefflichen Gemälde voll Kraft und Ausdruck, auf denen die Botschaft des Engels und die heilige Jungfrau, die Geburt des Herrn, sein Leben und Tod, seine Auferstehung und Himmelfahrt, die hohen Apostel und heiligen Märtyrer und viele heilige Frauen und Jungfrauen mit den lebhaftesten Farben den Augen gleichsam als gegenwärtig dargestellt wurden. Die vornehmsten Begebenheiten aus der Geschichte Jesu, der Apostel, der ersten Kirche gingen so vor ihren Blicken vorüber und weckten in ihrem Herzen heilige Empfindungen und edle Entschliessungen.
Vor jedem der marmornen Grabmale blieb sie stehen und las die Inschriften, die in uralten, ihr ungewohnten Buchstaben Nachricht gaben von denkwürdigen Männern und tugendhaften Frauen, die vor Jahrhunderten gelebt hatten. Nirgends erblickte sie einen Menschen, beständiges Schweigen herrschte unter den hohen Gewölben. Sie vernahm nichts als ihren Fusstritt, und nur wie aus weiter Ferne her tönte das Getümmel draussen auf den Strassen.
Die Schauder der Vergänglichkeit bebten durch ihre Seele, da sie so als die einzige Lebende über dem Staub verstorbener Menschengeschlechter und unter Todesdenkmalen wandelte. Sie dachte mit Wehmut daran, wie alles auf Erden so gar eitel und vergänglich sei; sie erinnerte sich an ihre verstorbenen Eltern, Freunde und Verwandte; der Gedanke an ihren eigenen bevorstehenden Tod machte sie bekümmert und traurig. Allein die tröstlichen Sprüche auf den Grabsteinen brachten wieder Trost in ihre trauernde Seele und erfüllten sie mit froher Hoffnung der Unsterblichkeit. Mit frommer Rührung las sie auf einem Grabmal die Worte Jesu: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, wenn er schon gestorben wäre. Und ein jeder, der da lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.« Ebenso ging ihr der Ausspruch Jesu auf einem anderen Grabstein sehr zu Herzen: »Es kommt die Stunde, da alle, die in den Gräbern sind, die Stimme des Sohnes Gottes hören werden. Die da Gutes getan haben, werden hervorgehen zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.«
Ganz besonders rührte sie noch das Grabmal einer frommen Frau, die in dieser Welt vieles gelitten und viel Gutes getan hatte. Es standen da die Worte der heiligen Schrift mit goldenen Buchstaben geschrieben: »Selig sind die Toten, die im Herrn sterben. Denn der Geist spricht: Sie ruhen jetzt von ihren Mühseligkeiten aus, und ihre Werke folgen ihnen nach.«
Frau von Linden nahm sich vor, solange sie noch auf Erden wandeln würde, die Mühseligkeiten des Lebens geduldig zu ertragen und, soviel nur immer in ihren Kräften stehe, Gutes zu tun.
Das betende Kind.
Als Frau von Linden abermals in eine Seitenkapelle des herrlichen Tempels trat, erblickte sie ein kleines, ganz schwarz gekleidetes Mädchen von etwa acht Jahren, das ganz allein auf der Stufe des Altars kniete. Das Kind betete mit festgefalteten Händen so andächtig und blickte so unverwandt zu dem Altar auf, dass es gar nicht darauf achtete, wer da vorbeigehe. Die hellen Tränen tröpfelten ihm über die blühend roten Wangen. Das schöne, unschuldvolle Gesicht des Kindes hatte einen Ausdruck von Wehmut und Ergebung, von Andacht und Innigkeit, der über alle Beschreibung ging.
Die Frau von Linden empfand das innigste Mitleiden, das herzlichste Wohlwollen, ja selbst eine Art Ehrfurcht gegen das betende Kind. Sie wollte es in seiner Andacht nicht stören. Erst als es von dem Gebet aufstand, näherte sie sich dem Kind und sprach mit sanfter Stimme: »Du bist wohl sehr traurig, liebe Kleine! Was fehlt dir, und warum weinst du?«
»Ach«, sagte das Kind, und die Tränen flossen ihm auf's neue über die Wangen, »vor einem Jahr an ebendiesem Tag ist mein Vater gestorben, und heut vor acht Tagen haben sie meine Mutter begraben!«
»Um was hast du denn den lieben Gott so herzlich gebeten?« fragte die Frau weiter.
»Dass er sich meiner erbarme«, antwortete das Kind. »Ich habe keine andere Zuflucht als zu ihm. Zwar bin ich noch bei den Leuten, in deren Haus wir zur Miete wohnten. Allein bleiben kann ich da nicht. Morgen soll ich weiter; das hat mir der Hausherr erst heute wieder gesagt. Ich habe in der Stadt wohl noch einige Verwandte und wünschte wohl recht herzlich, dass einer oder der andere sich meiner erbarmen und mich annehmen möchte. Auch der Herr Pfarrer in dieser Kirche, der meine selige Mutter während ihrer Krankheit öfter besucht und ihr viel Gutes getan hat, sagte es ihnen sehr nachdrücklich, es sei ihre Pflicht, mich anzunehmen. Allein sie können nicht einig werden, wer die Last übernehmen soll, mich zu erziehen. Ich kann ihnen das auch nicht übelnehmen; denn sie haben selbst viele Kinder und nichts dazu als was sie mit ihrer Handarbeit täglich verdienen.«
»Armes Kind!« sprach die Frau von Linden, »Da ist es wohl kein Wunder, dass du traurig bist.«
»Freilich wohl«, sagte das Kind, »ich kam auch recht traurig hierher; aber der liebe Gott hat mir auf einmal alle Traurigkeit vom Herzen hinweggenommen; ich bin nun ganz getrost und habe keine Sorge mehr als nur immer nach seinem Willen zu leben, damit er Wohlgefallen an mir haben könne.«
Die Worte des schuldlosen Kindes und die Redlichkeit, die ihm aus seinen rotgeweinten Augen blickte, drangen der edlen Frau durch das Herz. Sie blickte das Kind so freundlich wie eine zärtliche Mutter an und sagte: »Ich denke, Gott hat dein Gebet erhört, meine liebe Kleine! Bleibe auf deinem Vorsatz; bleibe immer so fromm und gut und sei getrost. Dir soll geholfen werden. Komm mit mir!«
Die gute Kleine sah die fremde Frau verwundert an und blieb unentschlossen stehen. »Ja, wohin denn?« sagte sie, »Ich darf nicht, ich muss nach Hause.«
Die Frau von Linden sprach: »Ich kenne den Herrn Pfarrer, der, wie du sagst, deiner kranken Mutter so viel Gutes erwiesen hat, sehr wohl. Zu ihm wollen wir gehen. Mit ihm will ich überlegen, wie dir zu helfen sei.«
Nachdem sie dieses gesagt hatte, bot sie dem Kind liebreich die Hand, und das Kind ging nun voll Freuden mit ihr.
Ein Geistlicher.
Der Pfarrer, ein etwas betagter Mann, so ehrwürdig von Aussehen, fast wie ein Apostel, stand mit frohem Erstaunen von seinem Schreibtisch auf, als er die Frau mit dem Kind an der Hand hereintreten sah. Frau von Linden erzählte ihm, wie sie das Kind eben jetzt erst kennengelernt, und hiess das Kind dann ein wenig hinausgehen, weil sie mit dem Herrn Pfarrer noch besonders zu reden habe.
»Lieber Herr Pfarrer!« sprach sie nun, als das Kind hinaus war, »Ich habe im Sinne, dieses Mädchen zu mir zu nehmen und Mutterstelle an ihm zu vertreten. Meine eigenen Kinder starben alle in ihrem zarten Alter. Mein Herz sagt mir, dass ich die Liebe, die ich zu ihnen hatte, diesem Kind zuwenden könnte. Doch wünschte ich zuvor noch zu erfahren, ob Sie, der Sie sowohl die Eltern als auch das Kind genauer kennen, mir dazu raten. Was sagen Sie nun dazu? Ich möchte mein kurzes, schnell vorübergehendes Dasein auf Erden gern mit wohltätigen Handlungen bezeichnen. Glauben Sie, dass die Wohltat, die ich diesem Kind erweisen möchte, gut angewandt wäre?«
Der fromme Mann erhob seine Augen und seine gefalteten Hände anbetend zum Himmel und sprach: »Gottes heilige Vorsicht sei ewig gepriesen! Ein grösseres Werk der Barmherzigkeit könnten Sie nicht leicht tun – und ein frömmeres, sittsameres und verständigeres Kind könnten Sie auch nicht leicht finden als die kleine Sophie. Ihre beiden Eltern waren die rechtschaffensten Leute von der Welt; wahrhaft fromm und christlich. Sie gaben diesem ihrem einzigen Kind eine sehr gute Erziehung. Schade, dass sie dieselbe nicht vollenden konnten! – Oh, ich werde es nie vergessen, mit welchem Kummer die sterbende Mutter auf dieses ihr innig geliebtes Kind hinblickte, das weinend und schluchzend unten an ihrem Sterbebett stand; mit welchem vertrauensvollen Blick sie aber auch zum Himmel aufsah und die Worte sprach: 'Du Vater im Himmel wirst auch hier Vater sein. Du wirst dieser meiner Tochter eine andere Mutter geben. Das weiss ich gewiss und sterbe getrost.' Diese Worte der frommen Mutter werden nun erfüllt. Es ist augenscheinlich, dass Gott, der Allmächtige, Sie, verehrungswerteste, gnädige Frau, dazu auserkoren hat, die zweite Mutter dieses Kindes zu werden. Deswegen mussten Sie in die Hauptstadt kommen; deswegen gab Gott es Ihnen in den Sinn, vor Ihrer Abreise noch seinen Tempel zu besuchen. Es ist offenbar sein Werk. Seine heilige Vorsehung sei dankbar gepriesen!«
Der Pfarrer rief nun die arme Waise herein und sprach: »Sieh, Sophie, diese gute, verehrungswürdige Frau will deine Mutter sein. Es ist dieses für dich ein grosses Glück, das der liebe Gott dir beschert. Willst du nun mit ihr gehen und ihr eine gute Tochter werden?«
Sophie sagte freudig »Ja!« und fing an, vor Freude zu weinen. Sie konnte vor Weinen nicht weiter reden. Sie dankte der gnädigen Frau bloss mit Blicken und küsste ihr stillschweigend die Hand.
»Sieh, mein Kind«, fuhr der Pfarrer fort, »wie Gott für dich sorgt! Da deine selige Mutter auf dem Sterbebett lag, hatte er diese deine zweite Mutter, ohne dass wir etwas davon wussten, schon hierher geführt, und er liess sie nicht von hier abreisen, bevor sie dich gefunden und zu ihrer Tochter angenommen hatte. Erkenne darin seine liebevolle Vatersorgfalt! Liebe ihn von ganzem Herzen, den lieben, guten, barmherzigen Gott, der sich deiner so sichtbar annimmt; vertrau auf ihn und halte seine Gebote. Sei gegen die gnädige Frau, diese deine neue Mutter, die dir Gott gegeben hat, ein so gutes, folgsames Kind, wie du es gegen deine verstorbene Mutter warst. Dann wird die gnädige Frau an dir Freude erleben, und es wird dir wohl gehen! Merke dir noch dieses besonders: Es werden dir in deinem künftigen Leben zwar Leiden und Trübsale nicht ganz ausbleiben; allein bete dann mit einem ebenso kindlichen Vertrauen zu Gott, wie du eben jetzt in unserer Pfarrkirche gebetet hast, so wird er allzeit dein treuer Helfer sein, wie er dir eben jetzt geholfen hat.«
Nun wurden noch die Verwandten des Kindes gerufen. Sie machten nicht die geringste Einwendung dagegen, dass die gnädige Frau die arme Waise annehmen wolle. Sie freuten sich vielmehr darüber und waren mit allem sehr zufrieden. Eine noch grössere Freude und Zufriedenheit zeigten sie aber, als die Frau von Linden erklärte, sie wolle das Mädchen so annehmen, wie es gehe und stehe, und die kleine Verlassenschaft der Verstorbenen nebst Sophies übrigen Kleidern ihnen und ihren Kindern überlassen. Sophie wünschte sich nur noch einige Andachtsbücher ihrer Mutter zum frommen Andenken, die man ihr dann auch gern überliess.
Am folgenden Morgen sehr früh nahm die Frau von Linden Sophie zu sich in den Reisewagen und fuhr mit ihr zurück auf ihr Schloss.
Die edle Pflegemutter.
Frau von Linden war auf ihrem Schloss spät in der Nacht mit Sophie angekommen. Da man sie erwartet hatte, so war das Abendessen schon längst bereit. Sie setzte sich zu Tisch und liess die kleine Sophie neben sich sitzen. Sie selbst ass nur noch einiges wenige, legte aber Sophie von allem reichlich vor. Hierauf führte sie das Kind auf ein kleines, artiges Zimmer. »Dies«, sagte sie, »ist von nun an dein Schlafzimmer. Da du das erstemal hier über Nacht bleibst, so bete dein Abendgebet mit besonderer Andacht und weihe gleichsam so dieses Zimmer zu deiner Wohnung ein. Bitte den lieben Gott, er wolle immer mit dir sein und dir deinen Aufenthalt dahier zum Segen gereichen lassen. Nun, gute Nacht, schlaf wohl, und vergiss nicht, das Licht auszulöschen.«
Sophie war über die Freundlichkeit der Frau und noch mehr über die Güte Gottes, der so väterlich für sie gesorgt hatte, ganz entzückt. Mit Tränen des Dankes in den Augen betete sie ihr Abendgebet, und mit noch gefalteten Händen schlief sie ein.
Als Sophie morgens erwachte, fand sie neue Ursache, sich zu freuen und Gott zu danken. In der Stadt hatte sie in einer finstern Strasse eine sehr enge, traurige Wohnung gehabt; in ihr dunkles Schlafkämmerlein hatte das ganze Jahr hindurch weder Sonne noch Mond hineingeschienen, allein hier in dem Schloss schien ihr sogleich die aufgehende Sonne in das Fenster und weckte sie.
Sophie stand sogleich auf, trat an das Fenster und blickte nun so recht in den vollen Frühling hinaus. Der Gemüsegarten unten am Schloss prangte mit grünen Kräutern und farbigen Blumen aller Art. Seitwärts den Hügel hinauf zog sich der Baumgarten, der von reichlichen Blüten fast ganz weiss und rot war. Zur andern Seite hatte man eine schöne Aussicht über artige Dörfer, wohlgebaute, bereits herrlich grünende Getreidefelder und blumige Wiesen, die von waldigen Bergen begrenzt wurden. Sophie sank auf die Knie und dankte Gott von neuem, dass er sie an einen so freundlichen Ort und zu einer noch freundlicheren Frau geführt habe.
Die menschenfreundliche Frau bezeigte sich gegen Sophie als eine wahrhaft liebevolle Mutter; aber auch Sophie hing mit der kindlichsten Liebe an ihr und tat alles, was sie ihr nur an den Augen ansehen konnte, mit Freuden. Gar oft, ehe die Frau noch ein Wort sagte, war Sophie schon auf dem Weg, dieses oder jenes herbeizubringen. Sie war so fromm, so aufrichtig, so bescheiden, dass die Frau das Kind mit jedem Tag lieber gewann.
Frau von Linden schickte Sophie, die bereits sehr gut lesen konnte und auch im Schreiben und Rechnen einen guten Anfang gemacht hatte, sehr fleissig zur Schule, die durch die Wohltätigkeit der edlen Frau sehr wohl bestellt war. Den Unterricht in der Religion erhielt Sophie mit andern Kindern von dem würdigen Pfarrer des Dorfes, der die Schule fast täglich besuchte und ein wahrer Kinderfreund war. Sophie war nicht nur die aufmerksamste Schülerin, sondern sie befliess sich auch, die guten Lehren, die sie in der Schule hörte, zu Hause getreulich zu befolgen.
Ausser der Schulzeit musste Sophie in der Küche und dem Garten, soviel es ihre Kräfte erlauben, mithelfen, teils, um jede Arbeit frühzeitig zu lernen, teils, damit sie von Kindheit auf an ein arbeitsames Leben gewöhnt würde. Wenn es sonst nichts zu tun gab, durfte sie mit ihrer Stickerei oder ihrem Spinnrädchen auf das Zimmer der gnädigen Frau kommen, und die Gespräche der frommen, gebildeten Frau waren für sie sehr lehrreich. In der Folge unterrichtete sie die gnädige Frau selbst noch im Nähen und Sticken, lehrte sie alle einer guten Haushälterin nötigen Geschäfte.
Die verständige Frau liess Sophie auch sehr schön und anständig, aber nur bürgerlich kleiden. »Denn«; sagte sie, »manche Bürgermädchen, die sich über ihren Stand kleiden, finden schwer eine gute Versorgung. Dem Bürgersmann sind sie zu vornehm, und dem Vornehmen sind sie zu gering.«
Unter der Aufsicht und Leitung einer so vortrefflichen Erzieherin wuchs Sophie auf und ward in ihrer bürgerlichen Kleidung recht das Bild einer unschuldigen, bescheidenen Jungfrau. Sie blühte, weil nie eine unlautere Begierde ihr Herz entweiht hatte, schöner als eine Rose. Manches geputzte Fräulein, das durch Zorn, Tanzwut oder andere böse Leidenschaften ihre schöne Gestalt zerstört hatte, beneidete das liebliche Bürgermädchen um ihr blühendes Aussehen.
Die gute Pflegetochter.
Sophie hatte bei Frau von Linden über zehn Jahre sehr vergnügt und glücklich zugebracht. Allein nun wurde die vortreffliche Frau krank. Sophie wurde nun die zärtlichste Verpflegerin ihrer teuren Pflegemutter und bediente sie mit einer Liebe, als wäre die Frau ihre eigene Mutter. Sophies Sorgfalt für die geliebte Kranke erstreckte sich auf die kleinsten Dinge. Sie sprach immer so sanft und ihre Fusstritte waren immer so leise, dass die Kranke nicht im geringsten beunruhigt wurde. Sie öffnete und schloss die Türen so still und ohne Geräusch, dass man es kaum hörte. Frau von Linden hatte in ihrer Krankheit niemand lieber um sich als sie. Oft sass Sophie ganze Nächte hindurch in dem Lehnsessel des düsteren Krankenzimmers, das nur von einem dämmernden Nachtlicht schwach erhellt war, und wenn sie auch etwas einschlummerte, so eilte sie auf das leiseste Geräusch der Kranken wieder herbei. Die Frau war sehr lange krank, und Sophie ward nicht müde, sie zu bedienen.
Frau von Linden wusste diese kindliche Liebe zu schätzen und segnete den Augenblick, da sie Sophie zu sich genommen hatte. Einmal, in einer rauhen, sehr kalten Winternacht, in der die Kranke sich schlimmer als je befand, verlangte sie Tee. Sophie machte in der Küche den Tee und brachte ihn, zitternd vor Frost, an das Bett. Frau von Linden trank ihn, gab die Schale zurück und sagte: »Liebe Sophie, du tust sehr viel für mich! Eine Tochter könnte nicht mehr für mich tun. Gott vergelte es dir. Und auch ich werde es dir nicht ganz unbelohnt lassen. Ich habe dich in meinem Testament bedacht. Liebe lässt sich zwar nicht bezahlen. Du wirst aber doch sehen, dass ich nicht undankbar bin. Ich habe dir eine Summe ausgesetzt, dass deine Armut kein Hindernis mehr sein wird, dich ordentlich zu verheiraten. Nach meinem Tod wirst du es erfahren.«
Sophie weinte und bat, doch nicht mehr vom Sterben zu reden.
Allein die edle Frau sagte: »Weine nicht, gutes Kind! Der Tod ist nicht so fürchterlich, als er scheint. Er ist ein ernster Freund – aber doch ein Freund, der uns aus dem Gefängnis, in dem wir schmachten, aus diesem hinfälligen Leib befreit und uns das Tor in eine schönere Welt auftut. Ich freue mich, bald denjenigen zu sehen, an den ich geglaubt habe, ohne ihn zu sehen. Bleibe von Herzen fromm, liebe Sophie, wandle stets auf Gottes Wegen, habe unsern göttlichen Erlöser, der aus Liebe zu uns am Kreuz starb, stets von Herzen lieb, tue nie etwas Böses und immer nur Gutes, so wird dir einst der Tod auch leicht und süss sein! Es ist nichts Schreckliches, von allen Leiden befreit zu werden und es besser zu bekommen.«
Frau von Linden schwieg eine Weile. Sie hatte ein kleines hölzernes Kreuz in der Hand. Das Bildnis des Gekreuzigten war mit altdeutscher Kunst in das Holz sehr anmutig eingeschnitten. Sie küsste es mit Tränen frommer Rührung und sagte: »Noch sehe ich ihn, meinen Erlöser, nur in diesem Bildnis. Aber bald – oh der Freude! – bald von Angesicht zu Angesicht! Bis dahin erinnert mich dieses Bildnis – so unendlich weit es auch unter dem Urbild ist! – dennoch an die grosse Liebe, mit der er für mich am Kreuz blutete, erblasste, sein Haupt neigte und starb!«
»Glaube mir, liebe Sophie«, sprach sie über eine Weile, »er war schon hier auf Erden mein bester Freund; das habe ich oft an meinem Herzen erfahren. Die süssesten Stunden meines Lebens sind die, die ich in Betrachtung seines Wortes, seines Beispiels, seiner Liebe bis zum Tod und im Gebet und Herzensumgang mit ihm zugebracht habe. Es ist für uns Menschen kein anderes Heil als im Glauben an ihn und in Vollbringungen seines Wortes! Wenn wir im Leiden auf ihn vertrauen, so lässt er es uns nie an sicherem Trost fehlen!«
»Und so, meine gute Sophie«, sprach sie noch mit schwacher Stimme, »finde ich in seinen Worten auch jetzt den letzten Trost. Er sagte es ja seinen Jüngern so treulich: 'In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen – wenn es anders wäre, hätte ich es euch gesagt. Ich gehe hin, euch dort eine Stätte zu bereiten.' So sprach er, und ich denke, meine Stätte ist bereit – mein Herr kommt und ruft mich, und ich folge ihm mit Freude.«
Sie wollte noch einiges sagen. Allein ihre Stimme brach. »In deine Hände«, sagte sie jetzt noch ganz schwach und leise, »empfehle ich meinen Geist!«, und dieses waren ihre letzten vernehmlichen Worte. Sie ward sehr schwach und schloss die Augen. Sophie weckte die Leute des Hauses. Der Herr Pfarrer wurde gerufen. Er betete der Sterbenden vor. Sie öffnete die Augen und winkte, dass sie ihn verstehe. Man sah, dass sie still mitbetete. Nach einer Stunde verschied die fromme Frau, und Sophie weinte so heisse Tränen wie damals, als ihre eigene Mutter gestorben war.
Die Erbschaft.
Da Frau von Linden in der ganzen Gegend weit umher aufrichtig verehrt wurde, und da besonders die Armen in ihr die grösste Wohltäterin verloren hatten, so fand sich bei dem Leichenbegängnis eine grosse Menge Menschen ein, und unzählige Tränen wurden dabei vergossen. Auch viele vornehme Anverwandte waren, in tiefe Trauer gekleidet, dabei zugegen.
Nachdem die traurige Feierlichkeit geendigt war, wurde das Testament eröffnet. Für Sophie waren zweitausend Taler ausgemacht. Die Zinsen hatte sie von dem Tag an, wo das Testament eröffnet ward, zu geniessen; das Kapital aber war zu ihrem Heiratsgut bestimmt. Überdies ward ihr gestattet, aus den Kostbarkeiten der Verstorbenen eines der schönsten Stücke, was für eines sie nach reiflicher Überlegung nur immer verlangen würde, sich zum Andenken auszuwählen.
Einige der Herren Vetter und Frauen Basen hatten über die zweitausend Taler grosse Augen und sehr verdriessliche Gesichter gemacht. Die jungen Fräulein aber waren über den Verlust des schönsten Stückes aus dem Schmuck der seligen Tante höchst unzufrieden. Sie sagten indes mit verstellter Freundlichkeit zu Sophie: »Sieh, dieses Kleid von prächtigem Stoff mit den farbenreichen Blumen nimm! Schau es nur einmal an! Die Blumen sind von so seltener Art, dass noch kein Mensch dergleichen gesehen hat, und jeder Blumenstrauss ist beinahe so gross als ein Teller. Und wie dicht der Stoff gewebt ist! Wenn man das Kleid nur so hinstellte, ohne es anzuziehen, so bliebe es aufrecht stehen. Es war das Brautkleid der seligen Tante. Herrlicheres gibt es nichts. Das gibt einmal ein Brautkleid für dich.«
Einer der Verwandten aber, ein Herr von Hagen, ein sehr rechtschaffener, etwas ältlicher Offizier, sagte: »Das Kleid taugt ganz und gar nicht für Sophie. Schwätzt ihr kein solch tolles Zeug vor. Überhaupt habt Ihr nichts darein zu reden. Lasst sie selbst wählen!« Allein die Fräulein schalten ihn unartig und gaben sich alle erdenkliche Mühe, Sophie bald dieses, bald jenes Stück von geringem Wert unter grossen Lobpreisungen aufzudringen.
Sophie wurde von dem vielen Zureden fast betäubt und schien unentschlossen, was sie wählen sollte. Endlich sprach der brave Beamte, der das Testament eröffnet hatte: »Sophie ist eine arme Waise. Ich muss zufolge meiner Amtspflicht mich ihrer annehmen. Es sind Stücke da von grossem Wert – von Gold und Edelsteinen. Die Frau von Linden hatte, wie ich zuverlässig weiss und wie das Testament deutlich genug sagt, die Absicht, Sophie etwas von Wert zu hinterlassen, das ihr zur Zeit der Not ein Notpfennig sein könnte. Auch wird in dem Testament weislich darauf hingedeutet, Sophie soll die Sache zuvor wohl überlegen, damit sie sich nicht übereile. Ich gebe daher Sophie Bedenkzeit, was sie wählen wolle. Sie mag auch verständige Freunde zu Rat ziehen und dann morgen sich erklären, was sie wünsche – und ich werde es ihr dann ausfolgen lassen.« Hierauf gingen sie alle, und einige murrend und sehr unzufrieden, auseinander.
Nun schien es, dass es grosse Streitigkeiten abgeben würde. Die Köchin im Schloss riet Sophie, den Ring mit dem grossen Diamant zu wählen, oder die Schnur Perlen, die alle sehr schön und echt waren. Der alte Schlossgärtner sagte, das kleine, schöne Porträt der seligen Frau, das in Gold und Diamanten gefasst sei, schicke sich am besten zu einem Andenken für Sophie. Die fremden Bedienten und Kammerjungfern aber behaupteten, ihre gnädigen Herrschaften würden es nie zugeben, dass Sophie etwas wähle, das ein Bürgermädchen nicht einmal tragen dürfe; denn es könne nie der Sinn der gnädigen Tante gewesen sein, ihr etwas dergleichen zu vermachen.
Als man am andern Morgen zusammenkam, hatte der Amtmann sämtliche Kostbarkeiten schön geordnet auf einer grünen Tafel ausgelegt. Man erblickte da Haarnadeln und Ohrbehänge mit Edelsteinen, goldene Ketten, Spangen und allerlei Kleinode, den Diamantring, die Perlenschnur und das kleine Porträt mit Diamanten. Sophie sollte nun wählen. Die meisten Erben standen wie zum Streit gerüstet da, und besonders einige Fräulein schossen drohende Blicke auf Sophie.
Allein Sophie sagte: »Oh meine gnädigen Fräulein. Es ist mir nicht im geringsten darum zu tun, ein Andenken von Geldeswert zu erhalten. Das kleinste, unbedeutendste Stück würde, da es von einer so guten Frau ist, für mich schon den grössten Wert haben. Auch hat mich die selige gnädige Frau ja mit einer Summe Geldes reichlich genug bedacht, und ich habe diese nicht verdient. Da ich indes frei wählen darf, so bitte ich mir das kleine hölzerne Kreuz aus, mit dem in der Hand die gnädige Frau starb und das sie mit ihrem letzten Tränen und mit ihrem Todesschweiss benetzte. Dies ist mir das teuerste Andenken. Es wird mich an die letzten Ermahnungen erinnern, die sie mit bereits erblassten Lippen mir gab. Wenn ich diese guten Lehren befolge, so werde ich – im Glauben, dass es etwas Besseres als Erdengüter gebe – Gold und Edelsteine leicht entbehren können. Der Segen der seligen Frau wird dann auf mir ruhen.«
Sophies Bitte wurde von den Anverwandten mit grossem Beifall aufgenommen, und sie erteilten ihr über ihre fromme Wahl viele Lobsprüche, obwohl sie im Herzen darüber lachten. Die Köchin aber sagte im Herausgehen: »Du bist ein dummes Ding, dass du nichts Kostbares gewählt hast. Hast du denn nicht gesehen, wie ich dir immer winkte und heimlich auf den Ring und die Perlenschnur deutete? Das uralte, hölzerne Kreuz hättest du so zu dir nehmen können. Kein Mensch achtete darauf, und niemand hätte danach gefragt. Du bist nicht klug.«
Allein der alte Gärtner sprach: »Gott segne dich, liebes Kind! Du bist eine fromme, gute, dankbare Seele. Bei dem hölzernen Kreuz da wird mehr Segen sein als bei Gold oder Silber, und es wird dir in der Stunde der Not und wohl noch in deiner letzten Stunde mehr Trost gewähren als Perlen und Edelsteine. Denke an mich!«
Sophie verwahrte das kleine hölzerne Kreuz in ihrem Kasten, und es war ihr unter allem, was sich in dem Kasten befand, das schätzbarste Stück. Das Bewusstsein, aus Liebe zum Frieden sich mit wenigem begnügt zu haben, gewährte ihr das reinste Vergnügen und die seligste Beruhigung. Die eigennützigen Fräulein aber gerieten über die Teilung der Kostbarkeiten untereinander selbst noch in grosse Streitigkeiten und hatten von der reichen Erbschaft in der Tat mehr Verdruss als Vergnügen.
Die zufriedene Ehe.
Etwa ein Jahr, bevor die Frau von Linden starb, hatte der Sohn des Gärtners, ein sehr rechtschaffener, wohlgesitteter, blühender Jüngling, gewünscht, Sophie zur Ehe zu bekommen. Er hatte, da seine Mutter nicht mehr lebte, mit seinem Vater darüber gesprochen, und der Vater, der diese Wahl vollkommen billigte, hatte die Sache bei der gnädigen Frau angebracht.
Die gnädige Frau, der Sophies Gesinnungen schon bekannt waren, hatte sich so erklärt: »Euer Wunsch, mein lieber Gärtner, und der Wunsch Eures Sohnes ist auch der meinige. Ihr habt Euren Sohn sehr gut erzogen und ihn von Kindheit auf zur Gottesfurcht, zur Rechtschaffenheit, zur Mässigkeit, zu Fleiss und Ordnung gewöhnt. Er hat sich auch immer so wohlanständig und eingezogen betragen, wie es einem ehrbaren Jüngling geziemt. Ich habe also nicht nur nichts gegen die Heirat, sondern Euer Antrag macht mir vielmehr grosse Freude. Allein jetzt ist's noch zu früh, dass Ihr, lieber Vater, Euren Dienst abtretet; denn Euer Wilhelm muss noch eine Zeit in die Stadt, um in der Gartenkunst, die man jetzt sehr hoch treibt, auch das noch zu lernen, was heutzutage von einem herrschaftlichen Gärtner gefordert wird. Kommt er nach zwei bis drei Jahren wieder zurück und haben dann er und meine Pflegetochter noch die nämlichen Gesinnungen, nun, so werde auch ich – wenn ich anders noch lebe! – mich als Sophies Pflegemutter bei der Hochzeit einfinden.«
Mit dieser Antwort waren sowohl der Vater als auch Wilhelm und Sophie sehr wohl zufrieden. Frau von Linden hatte dem trefflichen Wilhelm noch einige Kleidungsstücke für die Reise machen lassen, ihn mit Reisegeld versehen und ihm ein Empfehlungsschreiben an den fürstlichen Hofgärtner mitgegeben, und Wilhelm war hierauf abgereist.
Jetzt, nach dem Tod der seligen Frau, da Sophie nicht wusste, wohin, nahm der alte Gärtner sie zu sich, und sie führte ihm die Haushaltung. Ein Jahr nachher kam Wilhelm zurück – und er und Sophie bedauerten herzlich, dass die gnädige Frau bei dem Hochzeitsfest nicht mehr zugegen sein könne. Allein Bräutigam und Braut besuchten, so wie sie an ihrem Hochzeitstag aus der Kirche traten, auf dem kleinen, ländlichen Gottesacker das Grab ihrer seligen Wohltäterin, das der junge Gärtner lieblich mit Blumen geziert hatte. Beide brachten ihr für so viele Wohltaten unter reichlichen Tränen den herzlichsten Dank dar.
Da Wilhelm und Sophie von Herzen fromm und tugendhaft waren, einander aufrichtig liebten und von Kindheit auf gelernt hatten, Eigensinn, Rechthaberei, üble Laune, Jähzorn und ähnliche Leidenschaften zu beherrschen, so lebten sie höchst zufrieden und vergnügt. Ihren alten Vater trugen sie gleichsam auf den Händen. Der alte Mann war hocherfreut, seine vier Enkelchen zu sehen. Unter diesen hatte das erstgeborene Knäblein dem Grossvater zu Ehren in der Taufe den Namen Friedrich erhalten; das zweite Kind, ein Mägdlein, bekam zum Andenken an die selige Frau von Linden den Namen Therese. Dem guten Grossvater war es Herzenslust, seine Enkel auf den Schoss zu nehmen oder auf den Armen umherzutragen. Die kleine Familie lebte in der seligsten Eintracht.
Allein ihr Leben blieb, wie das hier unter dem Mond nun einmal so ist, nicht frei von Leiden. Der redliche Greis genoss die Freude, bei seinen Kindern und Enkeln zu leben, nur wenige Jahre. Er starb nach einem kurzen Krankenlager. Wilhelm und Sophie waren darüber tief betrübt und weinten bei dem Leichenbegängnis die aufrichtigsten Tränen.
Ein Jahr darauf fiel Wilhelm von einem Baum, brach den linken Arm und ward sonst noch sehr übel zugerichtet. Er kam zwar mit dem Leben davon, allein er konnte den Arm nicht mehr recht zur Arbeit gebrauchen und den Gärtnerdienst nicht mehr versehen. Man bedeutete ihm, er müsse in Zeit von einem Vierteljahr die herrschaftliche Wohnung räumen, und da die neue Herrschaft sehr karg war, wurde ihm nur ein äusserst kleiner Gnadengehalt an Geld, nebst etwas Getreide und Holz, ausgeworfen.
Wilhelm war sehr traurig und niedergeschlagen, Dienst und Wohnung zu verlieren. »Wovon sollen wir nun leben«, sagte er bekümmert, »und womit unsere Kinder erhalten?« Er wusste seines Jammers kein Ende. Allein Sophie suchte auf allerlei Weise, ihn zu trösten und zu erheitern. »Lass dir einmal ein Gleichnis sagen«, sprach sie eines Tages. »Sieh dort im Käfig unser Kanarienvögelein, das ich noch von der gnädigen Frau habe. In ihrer letzten Krankheit war ihr sein Schlag zu laut, und sie sagte, ich sollte es auf mein Zimmer tragen. Allein täglich fragte sie, ob ich nicht vergessen habe, das Vögelein zu füttern, und noch am letzten Tage ihres Lebens sagte sie, ich solle nach ihrem Tod das Vögelein mitnehmen und wohl dafür sorgen. Ich war damals sehr bekümmert, wie es mir nach dem Tod der liebevollen Frau ergehen werde. Allein da fiel mir ein: 'Sieh, diese gute Frau ist so liebreich für ein Vögelein besorgt! Wie sollte der liebe Gott nicht für uns Menschen sorgen!' Daran habe ich indessen schon oft gedacht. Ja, so oft ich in unsern gegenwärtigen bedrängten Umständen das Vögelein füttere, denke ich allemal: Gott wird es uns und unsern lieben Kindern nie an dem nötigen Lebensunterhalt fehlen lassen. Sei daher getrost, lieber Wilhelm! Gott kann unser nie vergessen. Auf ihn wollen wir vertrauen. Er, der bisher half, wird weiter helfen. Nur müssen auch wir das Unsrige tun. Es ist nicht leicht eine Lage des Lebens so schlimm, in der ein Mensch, der auf Gott vertraut, und arbeiten mag, nicht noch Rettung finden sollte.«
Sie überlegten nun miteinander, was zu tun sei. Sie wurden bald einig, sich in dem Dorf ein Haus zu kaufen, und da kein Krämer am Ort war, einen Kramladen von solchen Waren anzulegen, die dem Landmann am nötigsten sind. »Den Laden«, sagte Wilhelm, »hoffe ich ungeachtet meines etwas gelähmten Armes mit leichter Mühe versehen zu können. Dabei wird es mir gut kommen, dass ich mit Schreiben und Rechnen wohl umzugehen weiss. Meinem Vater im Grab sei noch dafür gedankt, dass er mich so fleissig zur Schule schickte.« – »Wohl«, sagte Sophie, »und ich hoffe, mit Nähen und Stricken, worin mich die selige Frau von Linden sehr gut unterrichtete, neben meinen häuslichen Geschäften auch wohl noch etwas zu verdienen.«
In dem Dorf war eben ein Haus feil. Sie beschlossen, wiewohl es ziemlich baufällig war, es zu kaufen und wieder in guten Stand herstellen zu lassen. Allein zu dem Ankauf und der Ausbesserung des Hauses sowie zur Errichtung des Ladens hatten sie eine ansehnliche Summe Geldes nötig. Überdies beliefen sich die Kosten von Wilhelms Kur sehr hoch, und diese Kosten mussten noch vor allem anderen bezahlt werden. Sophies zweitausend Taler waren bei einem Kaufmann in der Stadt angelegt. Wilhelm begab sich in die Stadt, um einstweilen die Hälfte dieses Kapitals aufzukünden und sie sobald als möglich zu erheben. Allein der Kaufmann sagte, dass er in Zeit von einem Jahr nach der Aufkündigung, wie es in der Obligation ausbedingt worden, richtig bezahlen werde, früher aber keinen Heller. Wilhelm und Sophie sahen sich nun in grosser Verlegenheit. Allein ein reicher Bauer aus dem Dorf erbot sich, ihnen die erforderliche Summe gegen landesübliche Zinsen auf ein Jahr vorzustrecken. Sie nahmen das Anerbieten dankbar an. Das Haus wurde gekauft und ausgebessert und bekam ein sehr heiteres, freundliches Aussehen. Sehr lieb war es dem guten Wilhelm, als einem ehemaligen Gärtner, dass sich ein kleiner Garten an dem Haus befand. Denn obwohl Wilhelm wegen seines beschädigten Armes nicht mehr imstande gewesen, den grossen Schlossgarten gehörig zu bearbeiten, so machte es ihm doch keine grosse Mühe, sein kleines Gärtchen sehr schön und gut anzubauen, und es prangte bald mit trefflichem Gemüse und lieblichen Blumen.
Wilhelm und Sophie schätzten sich sehr glücklich, eine eigene Wohnung zu haben. Ihre kleine, ländliche Wohnstube war freilich nur sehr einfach, allein sehr heiter und traulich. Man sah nur die nötigsten Gerätschaften darin, und Tisch, Bank und ein paar Stühle waren nur von Eichenholz; allein sie taten doch die nämlichen Dienste, als wären sie von dem teuersten ausländischen Holz verfertigt. Anstatt einer kostbaren Uhr mit goldenen Verzierungen und Säulen von Alabaster hatte sie nur eine gemeine hölzerne Wanduhr; allein sie ging sehr richtig, wurde fleissig aufgezogen, und was das Beste war, die Hausbewohner teilten ihre Geschäfte den Tag über genau nach dem Stundenschlag ein. Ein Spiegel fehlte gar; indes standen einige gute Bücher auf dem Brettchen oben an der Wand, in die sie fleissig hineinsahen, um die Gestalt der Seele wohl zu ordnen. Wilhelm las, besonders an den langen Winterabenden, während Sophie spann, daraus vor. Das gesponnene Garn hing Sophie an der Wand auf, damit sie sehe, wieviel ihr an der Aufgabe, die sie für jede Woche sich selbst machte, noch fehle, und damit sie bis zum Samstag desto sicherer fertig werde. Dieses Garn war ein Spiegel von Sophies Fleiss und brachte mehr Nutzen im Hause als der prächtigste Spiegel in goldenem Rahmen. Anstatt der Gemälde erblickte man nur einen kleinen Schattenriss von Wilhelms Vater, der sie an die Tugenden des rechtschaffenen Mannes erinnerte. Das ganze Stübchen war immer höchst reinlich; Sophie duldete nirgends ein Stäubchen, und der Kehrwisch hatte immer sein bestimmtes Plätzchen an einem Nagel, um sogleich bei der Hand zu sein. Übrigens hatte Wilhelm immer einige Blumengeschirre mit blühenden oder grünenden Gewächsen in dem Stübchen stehen, die einen lieblicheren Anblick gewährten als in manchem Staatszimmer die gemalten Blumen auf den Tapeten und die kostbarsten Möbel, die nur zum Prunk dienen.
Ihren Kramladen versahen Wilhelm und Sophie mit guten und schönen Waren, und da beide jedermann freundlich begegneten, ihre vorzüglich guten Waren zu billigen Preisen verkauften, in Mass und Gewicht immer lieber etwas mehr als weniger gaben und den Leuten, besonders den Kindern, fast immer noch etwas in den Kauf schenkten, so bekamen sie grossen Zulauf. Sie überzeugten sich, dass die Redlichkeit am längsten währe und dass ein kleiner, oft wiederholter Gewinn sicherer nähre als ein grosser, übermässiger Vorteil, bei dem man auf einmal reich zu werden gedenkt, der aber um das Zutrauen und in üblen Ruf bringt und deshalb nicht leicht wiederkommt.
Wilhelm und Sophie fühlten sich nach den mancherlei Leiden und Beschwerden, die ihnen Wilhelms Sturz vom Baum, der Verlust des Dienstes, das Bauen, das Aus- und Einziehn verursacht hatten, wieder sehr glücklich. Sie konnten Gott nicht genug danken, dass er sie mit ihren zwei Kindern wieder in gute Umstände versetzt habe. Obwohl sie von ihrem Fenster aus das herrschaftliche Schloss, aus dem sie verstossen worden, immer vor Augen sahen, so sehnten sie sich doch gar nicht dahin zurück. Eintracht und Frieden, Freude an ihren Kindern, stete Beschäftigung und Genügsamkeit machen ihnen ihr kleines Wohnhaus mit dem Gärtchen daran zum Paradies.
Das Gebet in der Not.
Auf Erden gibt es kein ungestörtes Glück; es ist da ein beständiger Wechsel von Leid und Freud. Dies erfuhren Wilhelm und Sophie bald wieder auf's neue. Ehe ein Jahr verging, erscholl plötzlich in dem Dorf die Nachricht, der Kaufmann in der Stadt, bei dem Sophies Geld angelegt war, habe aufgehört zu zahlen, und die ganze Summe sei verloren. Der Bauer, von dem Wilhelm und Sophie die tausend Taler entlehnt hatten, war wohl sehr dienstfertig – allein nur, wo Geld zu gewinnen war. Seine Dienstfertigkeit rührte nicht von Menschenliebe, sondern nur von Eigennutz her. Sobald er vernahm, Sophies Kapital in der Stadt sei verloren, kam er wie rasend in ihr Haus und forderte auf der Stelle seine tausend Taler. Wilhelm und Sophie erboten sich, ihm Haus und Garten nebst dem Kramladen zu verschreiben. Allein der Bauer behauptete, das alles gewähre ihm keine hinreichende Sicherheit. Er schimpfte und fluchte fürchterlich über Wilhelm und Sophie, obwohl sie an dem Verlust ihres Vermögens unschuldig und ohnehin äusserst bestürzt waren. Er kündete ihnen an, wenn sie ihn nicht auf den bestimmten Tag bezahlen würden, so werde er ihnen ohne weiteres Haus und Hausgeräte und alle Waren im Laden, ja sogar die Betten verkaufen lassen. Dabei schlug er auf den Tisch und schäumte vor Wut.
Nun waren für Wilhelm und Sophie sehr traurige, kummervolle Tage angebrochen. Beide waren tief betrübt. Es waren kaum mehr drei Wochen bis zu dem Tag, und nirgends wussten sie so viel Geld aufzutreiben. Sie vertrauten indes auf Gott, wiewohl sie nicht sahen, wie ihnen könnte geholfen werden. Sie beteten ohne Unterlass. Sophie fühlte bei ihrer Liebe zu ihrem Mann und ihren Kindern den grössten Kummer; ihr Herz war voll unbeschreiblicher Bangigkeit. Allein sie fühlte auch das grösste Vertrauen auf Gott. Am Abend vor dem Tag, an dem sie bezahlen sollten, ging sie hinauf in ein kleines Kämmerlein unter dem Dach, um da ungesehen von Mann und Kindern zu weinen. Sie fasste in der Angst ihres Herzens das kleine, hölzerne Kreuz, das teure Andenken von den Leiden, der Geduld und dem frommen Vertrauen ihrer seligen Frau, fest zwischen ihre gefalteten Hände. Sie kniete nieder und fing an zu beten: »Oh mein göttlicher Erlöser, wie bin ich in so grossen Nöten! Ach, es ist mir gar nicht um mich! Es ist mir nur um meinen Mann und um meine Kinder! Ach, wie wird es den armen Kleinen gehen! Mein Mutterherz möchte mir zerspringen, wenn ich daran denke. Nicht für mich, nur für sie flehe ich! Wie du in deiner Todesangst zu deinem himmlischen Vater flehtest, so flehe ich jetzt auch: Vater, wenn's möglich ist, so nimm diesen Kelch von mir – doch nicht mein Wille geschehe, sondern der deine!«
Sie schwieg und weinte wieder – und das Kreuz in ihren Händen wurde ganz nass von Tränen. »Ach«, sagte sie, »mir bricht der Jammer meiner Kinder mein Mutterherz! Aber dein Vaterherz, lieber Vater im Himmel, ist ja noch unendlich liebevoller! Oh höre mich! Erbarme dich meiner und meiner Kinder! Wenn auch eine Mutter ihrer Kinder vergessen könnte, so willst du doch unser nicht vergessen. Das hast du ja selbst gesagt! Oh beweise nun deine Vaterbarmherzigkeit!«
Sie blickte wieder schmerzlich weinend auf das Kreuz, das sie zwischen ihren festgefaltenen Händen hielt, und sprach: »Oh du mein liebreichster Erlöser! Wie du vom Kreuz auf deine heilige Mutter herabblicktest – so blicke jetzt vom Himmel auf eine arme, sündige Mutter herab, die in ihrem Jammer vergeht. Ja, du bist allen nahe, die eines zerschlagenen Herzens sind! Oh giesse Trost in mein Herz und hilf mir! Schon in meiner Kindheit, da ich als eine arme, vater- und mutterlose Waise nicht wusste, wohin, und in meiner grossen Not und Verlassenheit dort in deinem Tempel zu dir flehte, hast du mein Flehen wunderbar erhört. Oh erhöre mich auch jetzt!«
Nachdem sie lange auf diese und ähnliche Art gebetet hatte – sieh, da war es ihr auf einmal so unbeschreiblich leicht und wohl um das Herz wie damals, als sie nach dem Tod ihrer Mutter dort in der Hauptkirche der Stadt an dem Altar gekniet hatte. Sie gedachte der Worte des ehrwürdigen Stadtpfarrers, die er ihr damals beim Abschied gesagt hatte: Gott werde allzeit ihr treuer Helfer sein, wie er ihr in jener Not geholfen habe. Getrost und gestärkt im Vertrauen auf Gott stand sie auch jetzt auf, nicht mehr mit Tränen des Jammers in den Augen, sondern mit süssen Tränen inniger Tröstung.
Sie wollte nun das kleine Kreuz wieder an Ort und Stelle bringen. Da bemerkte sie, dass an der Rückseite des Kreuzes ein kleines Stückchen Holz los geworden war und eben jetzt auf den Boden herabfiel. Das hölzerne Kreuz war ehemals etwas beschädigt und wieder geleimt worden. Allein von ihren reichlichen Tränen und der Wärme ihrer Hände ward der Leim aufgeweicht. Sie trat an das kleine Kammerfenster, durch das die Abendsonne hereinschien, und wollte nachsehen, wie der Schaden wieder zu verbessern sei. Aber sieh – da glänzte aus dem Kreuz ein blendendheller Lichtstrahl hervor! Sophie erschrak. Sie untersuchte das Kreuz genauer und fand, dass es innen hohl und etwas Glänzendes darin verborgen sei. Sie entdeckte, dass an der Rückseite des Kreuzes kleine Schieber angebracht, aber so kunstreich und genau eingefügt waren, dass man sie bloss für eingelegte Arbeit hielt. Mit einiger Anstrengung gelang es ihr, die Schieber herauszuziehen, und sie erblickte nun in dem hölzernen Kreuz, das mit rotem Sammet ausgefüttert war, ein Kreuz von Diamanten, die in Gold gefasst waren.
Sie nahm das Diamantenkreuz heraus; sie betrachtete es näher. Es funkelte an der Abendsonne mit einer Klarheit, einem abwechselnden Farbenglanz, dass es die Augen kaum ertragen konnten. Sie hatte bei ihrer gnädigen Frau öfter Diamanten gesehen; sie hielt die Steine für echt. Sie fiel auf's neue, in Tränen ausbrechend, auf die Knie. »Oh du lieber, guter Gott!« rief sie, »Da hast du ja mein Gebet abermals auf der Stelle erhört. Oh, nimm diese meine Tränen als ein Opfer des Dankes gnädig auf! Du hast es mir auf's neue bewährt: Wer dir, du lieber Gott, vertraut, der hat auf keinen Sand gebaut.«
Freuden nach Leiden.
Während Sophie droben in ihrem Dachkämmerlein betete, sass Wilhelm in der unteren Stube traurig auf der Bank. Der Gedanke, mit seinen Kindern aus dem Haus vertrieben zu werden, war ihm schrecklich. Es war ihm ganz unbeschreiblich bange. Die Bangigkeit machte ihm so heiss, dass er ein Fenster öffnen musste. Er liess seinen Tränen, die er vor seiner guten Sophie immer zurückgehalten hatte, jetzt freien Lauf. Er flehte inbrünstig zu Gott um Hilfe.
Die zwei Kinder spielten in der Stube und schienen nicht auf den Vater zu achten. Allein der kleine Fritz bemerkte dennoch, dass der Vater weine. Er sprang eilends herbei, liess sein Spielzeug, ein kleines Wägelein, auf halbem Weg umgestürzt liegen und fragte voll Mitleid: »Vater, warum weinst du?«
»Lieber Fritz«, sprach der Vater, »du weisst ja, unser Nachbar, der Kaspar, will uns aus unserm Haus vertreiben und das Haus und alles, was wir haben, anderen Leuten verkaufen. Du hast ja neulich gesehen und gehört, wie zornig er gewesen. Er will uns zwingen, dass wir von hier fortziehen und betteln gehen. Hilf mir doch, den lieben Gott bitten, dass er dieses nicht zugebe.«
Der gute Fritz fing an, bitterlich zu weinen, legte die kleinen Händchen zusammen, blickte andächtig zum Himmel und sagte: »Lieber Vater im Himmel! Der böse Kaspar will uns das Haus nehmen. Leid' es doch nicht, ich bitte dich darum!«
Als die kleine Therese dieses hörte und ihr Brüderlein so herzlich weinen sah und dem Vater in die nassen Augen blickte, fing auch sie laut an zu weinen und zu schreien. Der Vater hob das gute Kind auf seinen Schoss, um es zu trösten. Allein das Kind schlug immer die kleinen Händchen zusammen und rief mehrmals: »Lieber Gott! Bitte, bitte! Hilf, hilf!«
Der Vater hatte neben seinem Gartenmesser auf dem Fenstergesims einen Apfel liegen, den er den Kindern hatte austeilen wollen. Er nahm jetzt geschwind den Apfel und gab ihn dem weinenden Kind, um es zum Schweigen zu bringen. Und Fritz sagte voll Mitleid: »Sei doch nur still, liebe Therese; dann lass ich den ganzen Apfel dir allein! Weine nicht mehr«, sagte er, selbst noch weinend, »und glaube mir, der liebe Gott hilft gewiss.« Der Vater aber sprach mit einem schmerzlichen Blick zum Himmel: »Sieh diese Kinder an, lieber Gott, und erbarme dich ihrer!«
In diesem Augenblick trat die Mutter mit dem Kreuz in der Hand herein und rief voll der höchsten Freude: »Nun hat Gott geholfen: Helft mir alle ihm danken!« Sie zeigte ihrem Mann das hölzerne Kreuz, in dem das Diamantkreuz lag, offen hin, und erzählte ihm, wie sie den verborgenen Schatz eben jetzt erst entdeckt hatte.
Wilhelm warf einen Blick auf die funkelnden Steine, sank auf die Knie, schlug die Hände zusammen und rief laut aus: »Oh Gott, welche wunderbare Rettung! Das Kreuz ist von grossem Wert. Wir können nun unsere Schuld bezahlen und brauchen mit unsern Kindern nicht zu betteln!«
Der kleine Fritz, der das hölzerne Kreuz, das ihm wohl bekannt war, nur von unten auf sah und nichts besonders daran bemerken konnte, streckte die kleine Hand empor und rief: »Ei wie, liebe Mutter, lass mich das Kreuz doch näher besehen! Ich begreife ja gar nichts davon, warum ihr beide, du und der Vater, Euch so wundert und Euch so freut.« Sie zeigte ihm das Diamantkreuz und sagte ihm, dass diese schimmernden Steine wohl mehr als tausend Taler wert seien. »Hm«, sagte der Fritz, »diese blitzenden Dingerchen gefallen mir nicht übel; aber zu was kann man sie denn brauchen?« Die Mutter sagte ihm, diese edlen Steine seien, da sie gar so schön glänzen, eigentlich nur zum Anschauen. »Ei«, rief Fritz, »da werden die Leute wohl schwerlich soviel Geld dafür geben! Die kleinen Sternlein glänzten wohl recht schön; aber doch nicht schöner als die Tautröpflein, die man jeden Morgen zu tausend an Gras und Blumen umsonst sehen kann.« Die kleine Therese wäre indessen doch geneigt gewesen, ihren schönen, roten Apfel, den sie noch in der Hand hielt, für das funkelnde Kreuz zu geben, wenn sie es hätte aushängen dürfen.
Der Vater, der sich von seinem Erstaunen kaum erholen konnte, sprach jetzt, indem er in Freudentränen ausbrach: »Oh meine lieben Kinder, Ihr begreift freilich noch nicht, was für eine grosse Wohltat Euch Gott erwiesen hat. Allein glaubt mir, von dem Geld, das ich für die Edelsteine bekommen werde, kann ich den Nachbar bezahlen. Wir dürfen nun wieder in unserem Haus bleiben, unseren Garten und alles, was wir haben, behalten.« – »Ei«, rief Fritz, »so haben wir zu dem lieben Gott doch nicht umsonst gebetet. Er ist doch recht gut, dass er uns gleich geholfen hat.« – »Das ist er«, sprach der Vater, »darum lasst uns ihm danken.«
Beide Eltern dankten Gott mit gefalteten Händen und blickten mit tränenvollen Augen zum Himmel. Auch die Kinder falteten die zarten Händchen und weinten vor Freude. Und diese Tränen, womit Eltern und Kinder Gott dankten, hatten vor ihm einen grösseren Wert als die kostbarsten Diamanten in den Augen der Welt.
Segen des Leidens.
Mit Anbruch des folgenden Tages reiste Sophie in die Stadt. Vor allem sprach sie mit dem edlen Stadtpfarrer, zu dem sie schon als Kind das ehrerbietige Vertrauen gefühlt hatte. Er war nunmehr ein ehrwürdiger, allgemein geschätzter Greis mit schneeweissen Haaren. Sie zeigte ihm das Kreuz und erzählte ihm die Geschichte. »So«, sagte sie am Ende der Erzählung, »sind die Worte, die Sie mir als einem Kind vor etlichen und zwanzig Jahren zum Abschied gesagt haben, in Erfüllung gegangen: 'Bete in Leiden und Trübsalen mit kindlichem Vertrauen zu Gott, und er wird allezeit dein treuer Helfer sein.'»
»Habt ihr diese Worte nicht vergessen?« sagte der gerührte Greis freundlich. »Das ist schön. Ihr seht nun, dass ich die Wahrheit gesprochen. Ja, Gott ist ein treuer Helfer in der Not! Niemand steht umsonst zu ihm. Zwar hilft Gott nicht immer so schnell und augenscheinlich, wie er Euch geholfen hat. Eure Rettung aus der Not gehört unter die seltenen Begebenheiten. Allein das bleibt immer gewiss: 'Wer Gott vertraut, den verlässt er nicht.' Gott gibt ihm Trost in das Herz, steht ihm bei, dass er dem Leiden nicht unterliege, lenkt ihm das Leiden zum Besten und führt es zu einem fröhlichen Ende. Das habt Ihr öfter erfahren. Von Eurer Kindheit an bis zu dieser Stunde hat er als ein treuer Vater für Euch gesorgt und Euch geholfen. Bleibt daher auch fernerhin unerschütterlich fest im Glauben an Gott und seinen geliebten Sohn, vollbringt Gottes heiligen Willen, vertraut in allen Leiden auf ihn, erzieht Eure Kinder in eben diesem beseligenden Glauben, und Gott wird ferner mit Euch und Euren Kindern sein und Euch alle auch ferner aus allen Nöten erretten, bis er einst jede Not enden und Euch in seine Freude dort oben heimnehmen wird.«
Sophie hatte nun noch eine grosse Bedenklichkeit, die ihr schwer auf dem Herzen lag. Sie war vorzüglich deshalb zu dem einsichtsvollen, frommen Greis gekommen, um mit ihm darüber zu sprechen. »Kann ich«, sprach sie, »das kostbare Kreuz als mein Eigentum betrachten, und begehe ich an den Erben der Frau von Linden kein Unrecht, wenn ich es behalte und zu meinem Zweck verwende? Ach, es ist von grösserem Wert als alles andere, was die gute Frau an Kostbarkeiten hinterlassen hat!«
Der edle Pfarrer sprach: »Das Kreuz ist Euer! Die selige Frau von Linden wusste zwar vielleicht selbst nicht, was für Kostbarkeiten in diesem alten Familienerbstück verborgen seien. Wahrscheinlich ist es von einem Onkel, der eine hohe kirchliche Würde bekleidete, an sie gekommen. Indes war zuverlässig ihre letzte Willensmeinung, Euch das kostbarste Stück aus ihrem Schmuck zu vermachen. Aus Liebe zum Frieden, aus frommer Zufriedenheit mit wenigem, habt Ihr bloss dieses geringe Kreuz von Holz gewählt, das Euch gar wenig Geldwert zu haben schien. Allein Gott hat Eure Wahl gesegnet, und unter seiner Leitung ist Euch doch noch das beste Stück aus den Kostbarkeiten der seligen Frau – wie das auch ihr Wille war – zuteil geworden. Gott hat Euch mit dem Kreuz einen geheimen Schatz gegeben. Die Diamanten sind sehr gross; das Kreuz kann zwei- bis dreitausend Taler wert sein. Nehmt das Diamantkreuz von Gott, verkauft es, steuert mit einem Teil des Geldes Eurer gegenwärtigen Not, legt das Übrige als einen Notpfennig zurück und geniesst Eures Glückes mit Freude, mit Mässigkeit und Dank gegen Gott! Das hölzerne Kreuz aber bewahrt auf, als ein teures Andenken für Kinder und Kindeskinder, an Eure Wohltäterin, die fromme Frau von Linden, und noch mehr an die grosse Wohltat, die Gott Euch erwiesen hat.«
Der fromme Greis legte das Diamantenkreuz in das hölzerne Behältnis, schob die Schieber wieder zu und sprach: »Wer sähe es diesem armen Holz an, was für reiche Kostbarkeiten es in sich enthalte? Allein glaubt mir: Wie mit diesem Kreuz hier, so ist es mit jedem Leiden hier, das wir Christen sehr schön und sinnvoll ein Kreuz nennen. Von aussen gleicht das Leiden diesem schlechten Holz, innen aber enthält es einen grossen Schatz, der mehr wert ist als Gold und Edelsteine. Denn Kreuz und Leiden führen uns näher zu Gott, lehren uns die Nichtigkeit irdischer Dinge einsehen, reinigen uns von Schwachheiten und Unvollkommenheiten, üben uns im Vertrauen auf Gott, in der Geduld, in der Demut, und machen uns erst himmlischer Freude fähig. Daran denkt bei allen Leiden, und haltet es für kein Unglück, sondern für lauter Glück und Segen, wenn Gott Euch mit Leiden heimsucht. Denn es wird die Stunde kommen, wo die rauhe Hülle, die solche Schätze umschliesst, abfallen und der reinste Gewinn, schätzbarer als Gold und Edelstein, erscheinen wird. Und geschieht dies nicht immer hier auf Erden, so werdet Ihr doch dort in jenem Leben inne werden, dass jedes Leiden eine geheime, unaussprechlich grosse Wohltat Gottes war, die uns reich macht für die Ewigkeit und uns dann noch Freude gewährt, wenn die Welt längst vom Feuer verzehrt und alle ihre Herrlichkeit, nebst allem Gold und Edelgestein, Staub und Asche sein wird.«
Der ehrwürdige Stadtpfarrer kannte in der Stadt einen Juwelenhändler, der ein guter Freund von ihm und ein sehr rechtlicher Mann war. Da der alte geistliche Herr nicht gut zu Fuss war, so schickte er hin und liess ihn bitten, auf einige Augenblicke in das Pfarrhaus zu kommen. Der Juwelier, dessen Handel in Edelsteinen sehr stark war, kam sogleich, besah das Diamantkreuz sehr genau und erklärte, er wolle dreitausend Taler dafür bezahlen – eintausend Taler sogleich, die übrigen aber in Fristen. Sophie war darüber hoch erfreut, begab sich am folgenden Tag zur bestimmten Stunde in das Haus des Juweliers und nahm das Geld in Empfang.
Sophie machte übrigens aus der Geschichte ganz und gar kein Geheimnis; die Nachricht davon erfüllte bald die Stadt und kam auch den Anverwandten der Frau von Linden, die in der Stadt wohnten, zu Ohren. Sie liefen augenblicklich zusammen, hielten Rat und beschlossen einmütig, Sophie vor Gericht zu verklagen, um den gefundenen Schatz an sich zu bringen. »Denn«, sagten sie, »es wäre ja Unsinn, eine Bettlerin, wie diese Sophie ist, ein Diamantkreuz von dreitausend Talern im Wert zum Andenken zu geben. Tolleres könnte man sich gar nichts denken.«
Da trat auf einmal der alte Herr von Hagen herein, fragte, was sie beschlossen hätten, und sprach dann mit grossem Nachdruck, indem er mit seinem Krückenstock öfter auf den Boden stiess: »Bleibt mit Eurer Klage zu Hause – und seid froh, wenn niemand weiters von der Sache spricht. Und wenn Eure Erbitterung Euch nicht aller Vernunft beraubt hat, ein vernünftiges Wort zu hören, so höret, was ich Euch jetzt sagen will. Wenn damals bei der Erbteilung es Euch allen bekannt gewesen wäre, was für einen kostbaren Schatz das von Euch verachtete hölzerne Kreuz enthalte, und wenn die gute Sophie dann darauf bestanden wäre, das kostbare Kreuz von Diamanten auszuwählen, so hättet Ihr geldhungrigen Leute kraft des Testaments es müssen geschehen lassen und mit Grund nichts dagegen einwenden können. Was damals trotz allen Widerspruchs gegolten hätte, das gilt ebenso unwidersprechlich auch jetzt. Gebt Euch daher zufrieden. Übrigens geschieht es Euch recht, dass Ihr um diesen herrlichen Fund gekommen seid. Euer Mangel an Frömmigkeit, Eure geringe Ehrfurcht gegen die Selige von Linden und Eure Hartherzigkeit gegen eine arme Waise ist schuld daran. Ihr habt immer über Sophies hölzerne Wahl, wie Ihr spottweise zu sagen beliebtet, gelacht; nun seid Ihr dafür bestraft, und die Reihe, verlacht zu werden, ist an Euch. Behaltet also Eure Klage zurück, um Euch nicht noch mehr zum Gespött und Gelächter der Menschen zu machen.« So ärgerlich sie waren, so mussten sie in ihrem Herzen ihm doch recht geben, und die Klage unterblieb.
Sophie aber begab sich, ehe sie mit ihrem Geld nach Hause reiste, zuvor noch in jene Kapelle der Hauptkirche, in der ihr kindliches Gebet vor mehr als zwanzig Jahren so wunderbar, wie späterhin in ihrem Dachkämmerlein, erhört wurde, und sie dankte noch einmal innig dem guten, treuen Gott, der die Seinen, die auf ihn vertrauen und ihm gehorchen, niemals verlässt.