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Schon zu Lebzeiten des alten Grafen brachte die Post selten Briefe, jetzt kamen nur noch Zeitungen an oder Briefe, die geschäftlichen Inhalt hatten und von dem Schreiber in der Kanzlei beantwortet wurden. Nicolaj Petrowitsch schien keine Privatkorrespondenz zu haben. Er hielt eine Menge Zeitungen, obgleich er kein großer Politiker zu sein schien, denn meist warf er nur einen flüchtigen Blick hinein und legte die Zeitungen fort.
»Es scheint, als ob der Graf etwas sucht,« dachte Michail, »ich bleibe dabei, er verheimlicht etwas, aber ich werde es mit der Zeit schon erfahren.«
Der versteckte Koffer erregte die Neugier des früheren geheimen Polizisten, Subotin hielt ihn stets ängstlich verschlossen und trug die Schlüssel immer in der Tasche. Das fiel um so mehr auf, da Subotin sonst eine merkwürdige Sorglosigkeit bekundete. Die Schieblade, in der er sein Geld hatte, blieb oft offen, Michail unterzog den Inhalt einer genauen Durchsicht. Es lagen einige Hundert-Rubel-Scheine und Gold und Silbergeld in dem Fach. Die Finger des Dieners zuckten, seine Augen funkelten habgierig, er öffnete und schloß die Schieblade dreimal, endlich konnte er nicht länger der Versuchung widerstehen und nahm ein Geldstück von fünf Rubeln.
»Er wird es nicht merken,« dachte der Dieb, »wer so viel besitzt, kann diese lumpige Kleinigkeit entbehren.« Im Mittelfach des Schreibtisches lag der Taufschein Nicolajs, Familiendokumente, die feststellten, daß der Besitzer des Schlosses ein Graf Subotin war.
Das Geld vertrank Michail mit seinem Freunde, dem Kutscher Iwan, in der Dorfschänke. Iwan hatte seinem Herrn Rache geschworen, weil er ihn wegen eines Versehens geschlagen hatte. Lange steckten die beiden würdigen Zechkumpane die Köpfe zusammen, sie schmiedeten ihre Ränke gegen Subotin.
»Wir müssen uns vor dem alten Drachen, der Akulina, hüten,« sagte Michail, »sie hinterbringt dem Grafen alles, und er bezahlt sie dafür. Ich werde mit ihr schöntun und sie glauben machen, daß ich sie heiraten würde.«
Subotin war nach X. gereist, um den Handkoffer selbst in Augenschein zu nehmen. Er bat Morschowskoi, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn sich etwas Neues in Sachen des verschwundenen Karmitow ereignete.
Eines Tages erhielt Nicolaj Petrowitsch einen Brief. Er saß gerade am Frühstückstisch, als die Posttasche gebracht wurde. Michail sah, wie sein Herr erbleichte, er stand vom Tische auf, ohne etwas gegessen zu haben.
»Ich habe einen wichtigen Brief zu beantworten,« sagte Nicolaj, »sorge dafür, daß ich nicht gestört werde.«
Der Diener verbeugte sich unterwürfig. »Sehr wohl, Herr Graf.«
»Bringe mir Wein auf mein Zimmer,« befahl Subotin, »den alten Madeira, den ich trinke.«
Michail pfiff leise durch die Zähne, sobald er allein blieb; er wußte, daß der Graf immer starke Weine trank, wenn ihn etwas aufregte. Oft vergingen viele Tage, an denen er die Mäßigkeit selbst war. Was mochte ihm heute zugestoßen sein? Der Brief mußte daran schuld sein.
Als Michail dem Befehl seines Herrn folgte, stand Nicolaj am Fenster und schien so tief in Gedanken verloren, daß er den gleitenden Schritt Michails überhörte. Die Falkenaugen des Spürhundes sahen den Brief im blauen Umschlage auf dem Schreibtische liegen, im Nu hatte er an der oberen Seite des Kuverts gelesen, was er wollte. Der Name Morschowskois und seine Adresse waren deutlich aufgedruckt. Lautlos entfernte der Diener sich, nachdem er das silberne Tablett mit der Flasche und dem Glase auf ein Nebentischchen gestellt hatte.
Nach langer Zeit ließ sich heute wieder der klagende Ton hören, der von der Nordseite des Schlosses kommend, im südlichen Flügel kaum vernehmlich war. Mehrere Male hatte Subotin Akulina nach der Ursache dieses ihm äußerst unangenehmen Geräusches fragen wollen, und doch entschloß er sich nicht dazu. Es hätte wie Furcht ausgesehen, und die wollte er nicht zeigen. Je sicherer er auftrat, desto besser.
Jetzt las er noch einmal den Brief durch.
Morschowskoi teilte ihm mit, daß er die Nachforschungen nach Feodor Karmitow unermüdlich fortsetzte und bat um die Antwort des Grafen, ob er ihm weitere Mittel zur Verfügung stelle.
Subotin brauchte lange, um die wenigen Zeilen zu schreiben, er verbrannte mehrere Bogen, bis er die Antwort zustande brachte. Er legte einige Hundertrubelscheine in das Kuvert, das sein Monogramm trug und bat darum, die Nachforschungen möglichst genau fortzusetzen, es geschähe ihm ein persönlicher Gefallen damit. Der Graf ließ sein Reitpferd satteln und sagte, er werde den Brief selbst zu dem im Städtchen gelegenen Postamt besorgen.
Kaum war Subotin fortgeritten, so betrat Michail das Zimmer seines Herrn. Schnüffelnd zog der Diener die stark parfümierte Luft ein. Subotin brauchte ein starkes, englisches Parfüm, das Mode war und white-rose hieß. Alle seine Sachen, seine Kleider und seine Wäsche waren davon durchdrungen. Die scharfen Geruchsnerven des früheren Geheimpolizisten entdeckten noch etwas anderes in dem eben erst verlassenen Zimmer. Es roch nach verbranntem Papier. Spähend blickte Michail umher. Richtig, da lagen im Korbe die Reste eines verkohlten Briefes. Subotin mußte mehrere Bogen geschrieben haben, die er später vernichtet hatte. Vorsichtig holte Michail die Asche hervor. Ein Stück Papier war unversehrt geblieben.
»Wie sonderbar,« dachte der Spürhund, »er hat Schreibübungen gemacht wie ein Kind. Es scheint fast, als ob er eine bestimmte Handschrift nachahmen wollte. Das große D zum Beispiel verändert sich jedesmal. Und hier die Unterschrift, er hat sie vier Mal ausprobiert, die Buchstaben sehen aus, als seien sie mühsam hingemalt. Nun, ich werde diese kalligraphischen Versuche doch lieber aufbewahren, wer weiß, ob sie mir nicht nützen werden.«
Michail barg die unverkohlten Stücke sorgsam in seiner Brieftasche. Seine Augen fielen auf den Schreibtisch Subotins, ein leiser Jubelruf entfuhr seinen Lippen. Die Schlüssel hingen an der Schieblade, in der Eile hatte der Graf sie abzuziehen vergessen. Waren nicht die Schlüssel zu dem geheimnisvollen Koffer auf den Ring gereiht?
»Nein, die trägt er bei sich«, dachte Michail enttäuscht, »na, ich werde mir wenigstens ein Goldstück nehmen.« Schritte näherten sich, Akulina trat ein. Sie sah sofort, daß der Schreibtisch offen geblieben war.
»Nicolaj Petrowitsch ist zu sorglos,« sagte die Amme tadelnd.
»Du tust ja, als sei er von lauter Dieben umgeben!« rief Michail, »Dich stopft er mit Geld, weil Du ihm alles hinterbringst.«
»Ich meine es ehrlich mit ihm,« versetzte die Alte salbungsvoll.
»Und ich mit Dir, Akulina Timofejewna,« versicherte Michail, indem er die rundliche Gestalt der Bäuerin zärtlich umfaßte.
»Laß mich, ich bin eine ehrsame Witwe,« entgegnete die Amme, verschämt lächelnd.
»Nun aus Witwen können wieder Frauen werden, es hängt nur von Dir ab. Was meinst Du, wenn ein braver Bursche zu Dir käme und Dich bäte, ihn zu heiraten.«
»Wie, wie meinst Du das?« stotterte Akulina.
»Ich meine, daß wir uns recht gut zur Ruhe setzen könnten, so nach einem halben Jahre. Der Kramladen im Dorf soll verkauft werden, wie wäre es, wenn wir uns heirateten und das nette Häuschen als Mann und Frau bewohnten.«
»Ja, das ließe sich hören,« antwortete Akulina erfreut. – – –
Subotin hatte auch Alexander Kyrillowitsch zur Auerhahnjagd gebeten. Widerstrebend, nur den Bitten seiner Tante, der Fürstin Dolgoljubow folgend, nahm der Dragonerleutnant an. Alle Versuche Nicolajs, dem armen Verwandten freundlich entgegenzukommen, scheiterten an der kühlen Reserve desselben. Alexander blieb fremd und abweisend gegen den Erben Antonowkas. Die Annäherung an Natascha wurde von Nicolajs Seite feurig fortgesetzt, sie nahm seine Werbung aus geschmeichelter Eitelkeit entgegen. Die Eltern des jungen Mädchens sprachen alle Tage auf sie ein und schilderten ihr die Vorteile dieser guten Partie. Sie sagten Natascha, daß Subotin ihnen in ihrer bedrängten Lage helfen müßte, sobald er ihr Schwiegersohn würde. Natalia war mit sich im Streit, sie war eine überaus zärtliche Tochter und hätte gern alles für ihre Eltern getan. Die oft wild hervorbrechende Leidenschaft des Grafen stieß sie ab, sie fühlte sich von ihr verletzt. Ein anderes Bild stieg vor ihr auf. Sie kannte Alexander Kyrillowitsch seit ihrer Kindheit, eine zarte Jugendneigung hatte sich zwischen ihnen gebildet, eine Neigung, deren sie sich noch nicht voll bewußt war.
Liebte sie wirklich den blutarmen Offizier? War es nicht klüger, den reichen Gutsbesitzer zu ermutigen, der ihr alle Freuden des Lebens erschließen konnte? – Dieser Zwiespalt marterte des jungen Mädchens Seele, sie wußte nicht ein noch aus.
Der Mai ist in Rußland oft kalt, und es friert noch zuweilen in den Nächten, das Eis auf Seen und Flüssen schmilzt erst gegen Ende des Monats. Gegen den zwanzigsten Mai jedoch änderte sich das Wetter endlich, laue Südwinde zogen über Land, es begann sich im Schoße der Erde zu regen, ein leiser, lichtgrüner Schimmer lag auf Baum und Strauch, auf Wiese und Anger.
Subotin ließ großartige Vorbereitungen für das Maskenfest machen, von dem die ganze Nachbarschaft seit Wochen sprach. Ja, der Schloßherr von Antonowka verstand es, sich durch seinen großen Reichtum Ansehen zu verschaffen, wobei ihn seine gewinnende Persönlichkeit unterstützte. In jedem Hause war er ein gern gesehener Gast, die Männer gewann der Graf durch seine Einladungen zur Jagd, durch seine exquisiten Diners und Soupers, bei denen wacker gezecht wurde. Für die Frauen hatte Nicolaj Petrowitsch zarte Aufmerksamkeiten, und den jungen Mädchen gefiel er durch seine Ritterlichkeit und geselligen Talente. Trotz seines lahmen Beines tanzte Subotin vorzüglich, und immer war er heiter und unterhaltend. Auf dem Balle wollte der Graf Natalia seine Liebe erklären und sich mit ihr verloben, zweifelte er doch nicht an ihrem Jawort.
Subotin hatte sich aus Petersburg das Kostüm eines russischen Bojaren aus der Zeit Iwans des Schrecklichen kommen lassen. Seine hohe kräftige Gestalt eignete sich besonders zu dieser Tracht. Akulina erhielt die Weisung, die herrlichen Diamantagraffen und den Rubinschmuck der gräflichen Familie auf dem köstlichen Samt des Rockes zu befestigen. Die hohe Zobelfellmütze erhielt einen Stern aus Diamanten und Smaragden, an denen ein Reiherstutz befestigt war. Es fehlte nur eines zu der Tracht des Bojaren, ein passendes Schwert, das wohl aus Versehen nicht mitgeschickt worden war. Die Zeit war zu kurz, um es noch vor dem Balle kommen zu lassen.
»Ich wüßte Aushilfe,« sagte Akulina »im runden Turm, der sich an der Nordseite des Schlosses befindet, liegt eine Kammer, welche die Garderobe der früheren Besitzer von Antonowka enthält. Ich mußte dort lüften, als der selige Graf noch lebte, in der Turmkammer sah ich verschiedene Schwerter, Wehrgehänge und altertümliche Waffen.«
»So wollen wir gleich nachsehen,« sagte Subotin erfreut, »Michail soll mitkommen und einen Armleuchter tragen, damit wir jeden Winkel durchforschen können.«
»Als Knabe hast Du Dich zuweilen mit meiner Anna in die bunten Anzüge gekleidet, Nicolaj Petrowitsch, weißt Du es noch?«
»Gewiß,« bestätigte Subotin lebhaft.
»Dein Onkel hat sich oft amüsiert, wie putzig Du und meine Tochter in den viel zu großen Sachen aussahen,« lachte Akulina vergnügt.
Sie schritt voran und öffnete mit einem mächtigen Schlüssel die schwere, eisenbeschlagene Tür. Mit einem häßlichen, kreischenden Laut drehte sie sich in den Angeln, dumpfe Moderluft schlug den Eintretenden entgegen. Subotin atmete beklommen und rief ungeduldig:
»Gibt es denn hier kein Fenster, das man öffnen könnte?«
»Nein, ich denke, Du solltest das doch wissen, Nicolaj Petrowitsch, nur einige Schießscharten sind oben angebracht. Ich habe Dir als Knabe die Sage dieses Turmes erzählt. Der schwarze Oberst hat seine erste Frau hier eingesperrt und hat sie verhungern lassen, weil er behauptete, daß sie ihm untreu geworden wäre. Man hat die Unglückliche hier verscharrt, manche Menschen wollen sie noch jetzt klagen und wimmern hören.«
Subotin erschrak, die geheimnisvollen Laute fielen ihm ein.
»Leuchte,« gebot er dem Diener. Das Licht der Kerzen flackerte im Zugwinde. Da hingen die Staatsroben und Kleider, die Rüstungen und Hofgewänder der früheren Schloßherren und Frauen. Verblichener Brokat, Samt und Atlas, gold- und silbergestickte Röcke, und dazwischen Waffen, Lederhüte und Schneppenhauben. In langen Reihen hing die vergilbte Pracht an der Wand des Turmes. Hier blitzte ein mit Gold bordiertes, rotes Seidengewand mit weißer Courschleppe, dort schwerer, grünlicher Samt mit blindgewordener Silberspitze. Die russischen Trachten vergangener Zeiten hingen hier nebeneinander, die Träger derselben waren lange gestorben, ihre Bilder hingen im Ahnensaal. Und seltsam raschelte und knisterte es in der starren Seide, in den Gewändern derer, die den alten Namen der Grafen Subotin getragen hatten.
»Du hättest mir den Gang in diese Rumpelkammer ersparen können!« rief Nicolaj ärgerlich, »alle diese Schwerter passen nicht zu meiner Maske, Akulina.«
»Hier ist noch eins,« sagte Michail, in eine Ecke leuchtend und reichte Subotin ein schönes, breites Schlachtschwert in breitem, goldgesticktem Bandelier.
»Ja, das ist gerade, was ich brauche,« entgegnete Subotin erfreut und streckte die Hand nach der Waffe aus. Aber er ließ sie sofort sinken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf eine Uniform, die er noch nicht bemerkt hatte.
»Der schwarze Oberst,« fiel es von den bebenden Lippen des Grafen. Michail warf einen raschen Blick auf das Gesicht seines Herrn. Es war totenbleich geworden.
Der grüne, silberverschnürte Frack mit dem hohen, roten Kragen, die gelbledernen Beinkleider mit den Radsporen hatten jenem grausamem Manne angehört, der sein junges Weib getötet hatte, der der böse Geist des Schlosses geworden war.
Durch die Schießscharten kam ein leiser, klagender Laut. War es das Wimmern der dem Hungertode nahen Gräfin? Subotin verließ den Turm so eiligen Schrittes, daß es fast wie Flucht aussah. Akulina hatte das Erschrecken Nicolajs nicht bemerkt, sie war in die Bewunderung eines Hauskleides vertieft, aber Michail entging nichts, und er zog seine Schlüsse daraus.
Der große Ahnensaal mußte für den Ball eingerichtet werden, er allein konnte die zahlreichen Gäste fassen. Das Parkett wurde gebohnt, in der Ecke eine Estrade für das Musikkorps errichtet, Palmen und schöne Blattpflanzen waren geschmackvoll verteilt, und Blumen dufteten in verschwenderischer Fülle dazwischen. An den Wänden hingen Laubgewinde, Fahnen und Draperien in den Farben des Hauses; blutrot und gelb, so war das Wappen der Subotins, im roten Felde der goldene Adler. Nicolaj Petrowitsch befahl, das Bild des schwarzen Obersten durch eine Draperie zu verhüllen, er hätte sich unmöglich auf dem Fest amüsieren können, wenn die stechenden schwarzen Augen seines unheimlichen Vorfahren ihn aus dem Rahmen angestarrt hätten. Der Tapezierer meinte, diese Anordnung des Grafen störe die ganze Harmonie.
»Schweige,« herrschte Subotin den Handwerker an, »ich will es und damit basta.«
Michail lachte sich ins Fäustchen.
»Es ist richtig, er hat ein schlechtes Gewissen,« dachte der neugierige Diener, »na warte nur, ich habe eine gute Spürnase und werde hinter Deine Schliche kommen.«
Am Tage des Balles war Subotin nach Kraßlo hinübergeritten. Es war noch zeitig, und ein köstlicher Frühlingsmorgen hatte die taubeperlte Erde aus ihrem Traume geweckt. In bräutlichem Putz prangte die Welt. Kurz vor Kraßlo sah der Graf eine weißgekleidete Gestalt und erkannte Natascha. Sie schien auf jemand zu warten, denn sie hielt ihre Hände schützend über die Augen und spähte in die Ferne. Harrte sie auf den, den sie liebte, auf ihn, der ihr heute abend seinen Antrag zu machen gedachte?
Nicolaj sprang vom Pferde und eilte auf das junge Mädchen zu. Sie errötete, als sie ihn sah, was er zu seinen Gunsten deutete. Stürmisch klopfte sein Herz, und er zog die kleine, weiche Hand an die Lippen.
»Freuen Sie sich auf den Ball, Natalia Wladimirowna?« fragte Subotin.
»Sehr!« rief sie, »ich kann kaum die Stunde erwarten.«
»Wollen Sie, bitte, diese Brosche an der linken Schulter tragen, damit ich Sie erkenne. Auch ich werde den gleichen Schmuck an derselben Stelle anstecken.«
»Aber ich möchte Ihnen mein Inkognito nicht verraten,« warf Natalia ein.
»Es wird für uns einen besonderen Reiz haben, zu wissen, wer sich unter der Verkleidung verbirgt. Ich muß Sie auf dem Ball allein sprechen, Natalia, hören Sie, ich will und muß es. Während meine Gäste sich amüsieren, werden Sie mir in den Park folgen.«
»Weshalb?« fragte das junge Mädchen beklommen.
»Ich werde es Ihnen dann sagen, jetzt sind wir nicht ungestört, sehen Sie, da kommt Ihr Vater auf uns zu. Verstecken Sie die Brosche, – schnell.«
Das joviale, lebhaft gefärbte Gesicht Herrn von Tscherbatkins sah heute sorgenvoll aus, so daß es dem Grafen auffiel. Sobald die Männer allein blieben, sagte Nicolai Petrowitsch: »Sie haben Unannehmlichkeiten, lieber Freund, wollen Sie sie mir nicht mitteilen?«
»Mir ist eine Hypothek gekündigt worden,« entgegnete Tscherbatkin, »und ich weiß nicht, wo ich das Geld herschaffen soll.«
»Zwanzigtausend Rubel.«
» Rien que ça?« rief Subotin lachend.
»Ja, so können Sie sprechen, aber für mich ist es unerschwinglich viel.«
»Vergessen Sie mich nicht, lieber Nachbar, ich bin auch noch da.«
»Wie!« rief Tscherbatkin erfreut, »Sie würden mir helfen?«
»Mehr als gerne, aber nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Sobald Ihre älteste Tochter meine Braut wird, stehen Ihnen die zwanzigtausend Rubel zur Verfügung.«
»Ich – ich weiß wirklich nicht,« stammelte Tscherbatkin verwirrt.
»Nehmen Sie mich als Schwiegersohn an,« flehte Subotin, »ich liebe Ihr Kind, befürworten Sie meine Werbung bei Natalia.«
In leidenschaftlicher Erregung stand der Graf vor dem Vater Nataschas.
»Es ist der größte Wunsch meiner Frau und auch der meine,« gestand Tscherbatkin ein, »wir werden glücklich sein, unser geliebtes Kind als Ihre Gattin zu sehen.«
»So werde ich heute auf dem Maskenfest Fräulein Natalia meine Liebe erklären,« rief Subotin feurig.
»Tun Sie es, Nicolai Petrowitsch, tun Sie es!«
Die beiden Männer umarmten und küßten sich nach russischer Sitte.
»Morgen schicke ich Ihnen eine Anweisung auf die Moskauer Bank, die Sie ermächtigt, das Geld zu erheben, bitte kein Wort mehr, es ist ja kaum der Rede wert, solch eine Kleinigkeit.«
Subotin verabschiedete sich und ritt nach Hause, während Herr von Tscherbatkin zu seiner Frau eilte, mit der er eine lange Unterredung hatte. Er schilderte ihr des Grafen Edelmut, und beide Eltern sprachen darauf mit Natalia. Man bestürmte sie, die Braut des reichen Mannes zu werden. Das junge Mädchen hörte schweigend zu. Ihr weiches, kindliches Herz war von verschiedenartigen, sich widerstreitenden Gefühlen zerrissen. Sie fühlte sich dem Retter in der Not verpflichtet, gern hätte sie die drückenden Sorgen von den Eltern genommen, aber der Gedanke, das Weib des Schloßherrn von Antonowka zu werden, fiel ihr schwer. Während ihr Vater mit Nicolaj Petrowitsch verhandelte, war Alexander Kyrillowitsch nach Kraßlo gekommen, Abschied zu nehmen.
»Sie machen den Ball nicht mit?« fragte Natalia erstaunt.
»Nein,« kam es von den Lippen des Dragonerleutnants.
»Warum nicht?« fragte Natascha.
»Ich kann es nicht, Natalia Wladimirowna, ich kann es nicht sehen, wie der reiche Freier Sie mir stiehlt, Sie, die ich schon als Kadett geliebt habe, die ich im tiefsten Heiligenschrein meines Herzens trage.«
Natalia brach in Tränen aus, sie wollte fliehen, da ergriff der junge Offizier ihre bebende Hand.
»Wenn ich reich wäre, würden Sie mich Nicolaj Petrowitsch vorziehen?« fragte Alexander mit vor Erregung rauher Stimme, »dürfte ich hoffen? O, sagen Sie es mir, sagen Sie es mir!«
Sie wollte gehen und mußte doch bleiben, ihre großen Augen blickten feuchtschimmernd zu ihm empor, sie verrieten, was der Mund verschwieg.
In trunkener Freude wollte sie Alexander Kyrillowitsch in seine Arme ziehen, aber sie riß sich los, sie floh vor ihm, ohne das heißersehnte Wort zu sprechen.
»Sie liebt mich und muß mein werden,« dachte der Leutnant selig, »jetzt ruft mich der strenge Dienst, aber ich werde wiederkehren, sobald als möglich und dann – dann – O, ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, damit sie meine Braut wird.«
Bei seiner Heimkehr fand Subotin einen Brief des Untersuchungsrichters vor. Morschowskoi schrieb:
»Sehr geehrter Herr Graf!
Endlich ist es in der Sie interessierenden Angelegenheit Licht geworden.«
Hier ließ Subotin den Bogen sinken, große Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn und die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Dann las er weiter:
»Feodor Feodorowitsch Karmitow ist als Leiche aufgefunden worden, unweit der Stelle, wo der Koffer lag. Er muß im vorigen Herbst verunglückt sein, denn der Körper lag unter der Bohlenbrücke, der erst seit einigen Tagen eisfreie Fluß hat so lange sein trauriges Geheimnis bewahrt. Die Leiche ist bis zur Unkenntlichkeit verändert, sie wäre wohl weiter abgetrieben worden, aber man fand fünfhundert Rubel teils in Gold teils in Silbermünze in der Tasche des schweren Pelzes. Es kann über die Identität der Leiche kein Zweifel sein. In der Brusttasche des Rockes befand sich ein silbernes Zigarrenetui mit dem vollen Namen des Verunglückten. Außerdem hatte er in einer festschließenden Brieftasche einen Paß, der auf seinen Namen lautete. Das Papier ist durchweicht, aber doch noch leserlich. An einen gewaltsamen Tod ist nicht zu glauben, da die Leiche nicht beraubt ist. Es liegt ein Unglücksfall vor. Wahrscheinlich ist Karmitow, des Weges unkundig, vom Unwetter überfallen worden und in den Fluß gestürzt. Der Frost hat wenigstens ein halbes Jahr das nasse Grab des armen Mannes umklammert gehalten. Die Leiche ist in aller Stille auf dem Friedhof in Bogbrodisch bestattet worden.
Ich sehe hiermit diese Angelegenheit als beendet an und werde Ihnen den Rest des mir zur Verfügung gestellten Geldes und die bei dem Toten gefundenen Münzen zurücksenden. Ich glaube in Ihrem Sinne zu handeln, wenn ich dafür Sorge trage, daß die Ihnen gewiß schmerzliche Sache nicht in den Zeitungen erwähnt wird.
Hochachtungsvoll ergeben
Siemon Protassowitsch Morschowskoi,
Untersuchungsrichter.«
»Michail, sage Iwan, er solle sofort zum Telegraphenamt reiten und diese Depesche abschicken!« rief Subotin.
Der Diener gehorchte. Als der Graf ihm das feste Kuvert einhändigte, betrachtete es der Spürhund mit brennender Neugier von allen Seiten.
»Ich muß wissen, was er schreibt,« dachte Michail. Es war ihm leicht, jeden Brief zu öffnen. Er schloß sich in seine Stube ein und löste durch heiße Dämpfe das Kuvert, dann las er:
»Danke für Mitteilung, bin tief betrübt. Bitte das Geld den Armen zu geben. Graf Subotin.«
»Na, traurig sah er nicht aus, im Gegenteil, recht befriedigt,« dachte der Diener.
Er übergab Iwan die Depesche und kehrte in das Schloß zurück. Der Graf stand in der Halle und gab seine Befehle zur Ausschmückung derselben.
»Das Telegramm ist schon besorgt,« meldet Michail unterwürfig.
»Da hast Du zehn Rubel,« versetzte Subotin freundlich, »Du hast viel Arbeit, achte auf die Lohndiener.«
Der Beschenkte küßte demütig die Hand des gütigen Gebieters. Ein verschmitztes Lächeln kräuselte seine Lippen, jetzt war er seiner Sache gewiß. Er mußte nur noch erfahren, was in dem Briefe stand, den die Post kurz vor des Grafen Rückkehr gebracht hatte. Mit sicherem Auge erkannte der Geheimpolizist dieselbe große, steile Handschrift, die vor einigen Wochen auf dem Schreiben gestanden hatte, das Subotin zu den kalligraphischen Uebungen veranlaßte.
»Ob er heute den Brief verbrannt hat?« dachte Michail. Er durchsuchte den Papierkorb.
»Ha! Hier ist, was ich brauche!« rief er frohlockend. Er sammelte eifrig den in kleine Stücke zerrissenen Brief. Es war eine mühevolle Arbeit, die einzelnen Stücke so zusammenzufügen, daß man den Sinn verstehen konnte. Nach fast einstündiger Arbeit gelang es. Es fehlten hin und wieder Worte, aber der scharfe Spürsinn des Dieners reimte sich alles zusammen. Es ergab sich daraus, daß Subotin erstens ein persönliches Interesse an dem Tode Karmitows hatte, zweitens nach der Depesche, daß er einen Schmerz heuchelte, den er nicht fühlte. So heiter wie heute hatte Michail den Grafen noch nie gesehen. Die Bruchstücke des zerrissenen Briefes wurden von dem Diener sorgfältig aufbewahrt. Immer brennender wünschte der Geheimpolizist, in den Besitz der Schlüssel zu dem Koffer zu kommen, aber Subotin legte sie jeden Abend unter sein Kopfkissen, während die Schlüssel zum Schreibtische auf seinem Nachttischchen lagen.
»Ich muß die Schlüssel haben,« dachte Michail, »mein Bruder in S. ist Kunstschlosser, nach einem genauen Wachsabdruck wäre es für ihn leicht, neue Schlüssel anzufertigen. Entdecke ich des Grafen Geheimnis, so könnte es mir von großem Nutzen sein.«
Michail wünschte sehnlichst, wieder als Detektiv angestellt zu werden, durch Bestechlichkeit hatte er die vorzüglich bezahlte Stelle verloren und mußte auf andere Art sein Brot zu verdienen suchen.
»Die Herren in Moskau sollen sehen, welch ein Genie ich in meinem Fache bin, entdecke ich hier wirklich etwas, das das Licht scheut, so bin ich sicher, wieder als Geheimpolizist angestellt zu werden.«
Mit diesem Wunsche begab der Diener sich wieder an seine Arbeit.