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Heute kommt Nicolaj Petrowitsch, Väterchen,« sagte eine Frau in der Tracht der russischen Bäuerinnen, »Gott segne seinen Einzug in Antonowka.«
Die Sprechende mochte einige fünfzig Jahre alt sein; sie sah noch frisch und rüstig aus. Unter ihren ergrauten Haaren, die ein buntes Tuch bedeckte, blickten zwei klare, dunkele Augen, die rundliche Gestalt war in einen großen Schafspelz gehüllt. Der Kutscher Iwan, der die braunen Wagenpferde striegelte, brummte etwas in den Vollbart hinein. Es klang nicht eben erfreut.
Redselig fuhr die Bäuerin fort:
»Na, Du scheinst nicht allzuglücklich zu sein, Iwan, ja, ja, das Faulenzerleben hört jetzt auf. Der selige Herr war alt, er fuhr selten aus, die Pferde sind kastendick geworden und Du auch. Ha! Ha! Ha!« Sie lachte, daß sie sich schüttelte.
»Schweig' still, alte Hexe,« schrie der Kutscher erbost, »wie darfst Du mich höhnen? Mir kann es einerlei sein, ob der neue Herr kommt oder nicht.«
Er zog eine Flasche aus seinem faltigen Beinkleide und nahm einen tüchtigen Schluck.
»Den Branntwein wirst Du Dir abgewöhnen müssen,« bemerkte die Frau, »der Graf soll ein Feind der Trunkenbolde sein. Gott! Wie ich mich auf ihn freue, bin ich doch seine Amme gewesen und habe ihn auf diesen meinen Armen gewiegt, wenn er nicht einschlafen wollte. Er war ein zartes Kindchen, dessen Geburt der Mutter das Leben kostete. Ich weiß es noch wie heute, wie es war. Der Vater Nicolaj's kam zu mir ins Dorf und sagte:
»Akulina, Du mußt mit mir aufs Schloß kommen, mein junges Weib ist gestorben, und mein Kind schreit vor Hunger. Hilf mir in meiner Not.«
»Ja, Herr, das will ich,« entgegnete ich und küßte meinen Säugling, die Anna, die jetzt den Schmied in Ostrokino geheiratet hat und selbst schon zwei Jungen besitzt. So zog ich denn nach Antonowka und bin dort sieben Jahre geblieben. Zuerst war ich Nicolaj Petrowitsch's Amme, dann wurde ich seine Wärterin. Mein Mann, der Jegor, war inzwischen gestorben, da durfte ich mein Töchterchen zu mir nehmen, und die Annuschka ist mit Nicolaj zusammen aufgewachsen.«
Der Kutscher hörte schweigend zu. Er ließ den Redeschwall Akulinas geduldig über sich ergehen; wußte er doch, daß nichts ihn hemmen konnte.
»Und nun kehrt mein Kolja Kolja, Abkürzung von Nicolaj. endlich heim,« schloß die Bäuerin mit strahlendem Blick; es sind fast achtzehn Jahre her, seit er Antonowka als kleiner Knabe verließ, um die Schule in Moskau zu besuchen. Studiert hat er teilweise in Petersburg, teilweise in Deutschland, sehr gegen des Onkels Wunsch, der sich auch mit dem Vater Nicolaj's schlecht stand. Na, ich dachte, der selige Herr würde die Güter seinem andern Neffen, dem Dragonerleutnant Alexander Kyrillowitsch Subotin, vermachen, aber zum Erstaunen aller ist mein Kolja der Erbe geworden.«
Die große Stalluhr schlug die zweite Nachmittagsstunde. Akulina erschrak heftig; sie hüllte sich fester in ihren weißen Schafpelz und rief:
»Ich muß eilen und dem Koch helfen; der Zug trifft um vier auf der Station ein, ein gutes Mahl soll den Reisenden erwarten. Es sollen lauter echt russische Speisen sein. Kohlsuppe mit Piroggen, Kaviar und Sandart und –«
Iwan hörte den Schluß nicht mehr, mit trippelnden, geschäftigen Schritten eilte Akulina über den Hof, dem Schlosse zu.
Antonowka war ein mächtiges, massives Gebäude, das zur Zeit Peters des Großen erbaut worden war. Die mannsdicken Mauern hatten den Jahrhunderten getrotzt; sie sahen grau und verwittert aus, aber sie boten sicheren Schutz vor den Unbilden der grimmen russischen Winter. Der jüngst verstorbene Graf Subotin war Junggesell und ein Sonderling gewesen, der ein abgeschlossenes Leben führte. Die reichen Einkünfte der beiden Güter wurden von ihm zum kleinsten Teil verbraucht, der Reichtum wuchs und häufte sich; in dem eisernen Schranke lagen wohlverwahrt die Wertpapiere, in denen das fürstliche Vermögen angelegt war. Und heute trat der Erbe über die Schwelle des alten Hauses, das so viele Generationen erlebt, in dessen Räumen die Wiege der Grafen Subotin gestanden hatte, unter dessen Dach sie gelebt hatten und gestorben waren. In dem großen Ahnensaal lagen die Toten des Geschlechtes aufgebahrt zum letzten Schlummer. Die Subotins gehörten zu den ältesten Adelsfamilien Rußlands, sie leiteten ihren Stammbaum von Rurik her und waren mit den vornehmsten Zweigen der russischen Aristokratie verwandt.
Es war draußen bitterkalt, ein strenger Frost hatte in der Nacht eingesetzt, tief verschneit lag der prächtige Wald, der sich von dem Schloß bis zur Eisenbahnstation hinzog. Der Oktobertag neigte seinem Ende zu, als die feurigen Tiere von Iwan kutschiert pfeilschnell über die Straße jagten. Die Orlower Traber warfen die edlen Köpfe zurück, und die vielen Glöckchen des Dreigespannes klingelten melodisch. In dem offenen Schlitten lag eine große, warme Bärendecke, und auch der Kutscher trug einen riesigen Kragen von demselben Fell über dem dunkelblauen, russischen Kaftan mit den vielen, silbernen Knöpfen. Die Aeste der Bäume bogen sich unter der Last des Schnees, der auf das linke Handpferd herniederstäubte.
»Ho! Ho! Nicht zu wild, mein Seelchen!« rief Iwan dem scheugewordenen Schimmel schmeichelnd zu, »strenge Dich an, Faulpelz, vorwärts, vorwärts, der Herr darf nicht auf uns warten.«
Die kurze Peitsche mit der langen Schnur traf das mittlere Pferd, Iwan rückte die schwarze Bärenfellmütze zurecht und dachte stolz:
»Ja, ich verstehe die wilden Pferde zu bändigen.« Der Weg nach dem Nachbargute Kraßlo kreuzte den zur Station Antonowka.
»Halt, lieber Freund!« rief eine kräftige Baßstimme, und ein kleiner Schlitten hielt vor den Dreigespann.
Es war der Besitzer Kraßlos, Herr von Tscherbatkin, der nächste Nachbar der Subotins. Tscherbatkin war als sehr neugierig bekannt.
»Wohin fährst Du?« fragte er den Kutscher.
»Zur Station,« entgegnete Iwan:
»Zur Station, wen holst Du von dort ab?«
»Graf Nicolaj Petrowitsch,« lautete die Antwort.
»Mit diesem langsamen Zuge,« sagte Tscherbatkin verwundert, »warum in aller Welt hat er denn nicht den Schnellzug gewählt?«
Iwan zuckte die Achseln und fuhr weiter.
»Ich muß schnell nach Hause, es meiner Frau und Natascha erzählen,« dachte Tscherbatkin, »sie werden sich freuen. Der Gärtner muß die schönsten Blumen im Treibhause schneiden, ein Bote soll sie morgen früh nach Antonowka bringen als Gruß von uns für den neuen Nachbar. Es liegt in unserem Interesse, uns gut mit ihm zu stehen.«
Herr von Tscherbatkin seufzte. Seine mißliche pekuniäre Lage trat ihm wieder einmal als drohendes Schreckgespenst entgegen. Die Familie war groß, das Gut war stark verschuldet, die Söhne kosteten jedes Jahr mehr, und die jüngeren Kinder wuchsen heran.
»Wenn Natascha und Subotin doch aneinander Gefallen fänden, wenn sie ein Paar würden,« dachte der sorgenvolle Vater.
Dieser rettende Gedanke hatte sich seiner bemächtigt, als er erfuhr, daß Nicolas Petrowitsch der Erbe der schönen Güter seines Onkels geworden. war. Tscherbatkin beschloß alles zu tun, um die Verwirklichung seines Planes herbeizuführen. – –
Es war fast dunkel, als der Zug die Station erreichte. Es waren wenige Reisende in den Coupés, denn der nach zwei Stunden fällige Schnellzug, der nur zwei Minuten hielt, wurde lieber benutzt.
Aus dem einzigen Wagen erster Klasse stieg ein hochgewachsener Herr im kostbaren Biberpelz. Er händigte einem Träger den Gepäckschein ein, dann kehrte Subotin, denn er war der Reisende, noch einmal in sein Coupé zurück und ergriff eine braune Tasche aus Juchtenleder, die sein silbernes Monogramm und die Grafenkrone trug und begab sich in das Bahnhofsgebäude.
»Frage, ob der Kutscher aus Antonowka da ist,« befahl er dem Träger, der in dem Geschäftsraum stand und zwei große Koffer in Empfang nahm, die schon vor einigen Tagen angekommen waren.
»Ich gehorche,« erwiderte der Träger unterwürfig.
»Warte, kannst Du mir einen Schlitten besorgen, wenn die Koffer auf dem meinen nicht Platz haben?«
»Gewiß, Herr. Hier ist mein Bruder Andrej, er ist gern erbötig, das große Gepäck der Reisenden an den Ort ihrer Bestimmung zu befördern.«
Bald darauf saß Subotin, warm eingehüllt, in seinem eleganten Schlitten; behaglich rauchend, lehnte er sich in die weichen Polster zurück. Er freute sich seines Besitztumes und seines sicheren Besitzes, den er heute anzutreten im Begriffe stand. Ja, niemand durfte ihm das alte Erbgut der Familie streitig machen, es war sein. Sein war auch der prächtige Wald, durch den er fuhr, sein das Dreigespann, sein das stattliche Schloß, in das er als Gebieter Einzug hielt. Das rechtskräftige Testament des gütigen Onkels ließ sich nicht anfechten, es hatte ihn zum Erben gemacht, obgleich der Greis Nicolaj nur als kleinen Knaben gesehen hatte, später nicht mehr. Die Gedanken des neuen Herrn von Antonowka mußten angenehmer Art sein, denn er lächelte und begann leise ein russisches Volkslied zu pfeifen.
Mitten darin verstummte er plötzlich. Der mißtönende Schrei einer Eule ließ sich in nächster Nähe vernehmen, dicht über dem Schlitten flog es schwer und dunkel dahin, die Flügel des Vogels streiften fast das Gesicht des Grafen, und der Schnee fiel von dem Ast hernieder, auf dem die Eule gesessen hatte.
»Fahr' zu!« schrie Subotin den Kutscher an, »Deine Pferde kriechen ja wie Schnecken.«
Iwan hieb auf die Pferde ein, mit erhöhter Geschwindigkeit flog das leichte Gefährt über die Straße.
»Wir sind gleich da,« sagte Iwan nach einer Weile, »dieses ist das Dorf Antonowka und dort liegt das Schloß.«
Er deutete mit der Peitsche nach links.
Immer deutlicher erkannte Nicolaj Petrowitsch das Haus, das er heute als Besitzer betreten sollte. Mehrere Fenster waren erleuchtet und grüßten ihn freundlich, während der größte Teil des mächtigen Gebäudes sich dunkel und massig gegen den helleren Himmel abhob. Jetzt fuhr der Schlitten die Rampe zum Schloß empor, tief aufatmend betrat er die Schwelle seines stolzen Heimes. In der Halle trat ihm eine grauhaarige Frau entgegen. Sie trug den Sonntagsstaat der russischen Bäuerinnen, den weiten, bunten Rock, die lange, schöngestickte Schürze und die halblange Jacke aus blauem Tuch. In den Händen hielt Akulina, denn sie war es, eine große, runde Schüssel, auf der ein Schwarzbrot lag, in dessen Mitte ein Salzfläschchen aus Silber stand. Ein langes, leinenes Handtuch mit buntgestickter Kante und einer breiten Spitze lag über dem rechten Arm der Alten.
»Der Herr segne Deinen Eingang, Nicolaj Petrowitsch,« sagte die Amme bewegt. »Erkennst Du mich noch? Ich bin Deine Amme und bringe Dir Salz und Brot nach der Sitte unseres Vaterlandes. Möge es Dir in Antonowka wohlergehen.«
Subotin dankte und nahm die Geschenke an.
Die scharfen, dunklen Augen Akulinas musterten ihren früheren Pflegling voller Neugier.
»Wie groß und stattlich Du geworden bist, Nicolaj Petrowitsch,« sagte sie bewundernd, »ich kann stolz auf Dich sein, mein Seelchen.«
In der zutraulichen Art der russischen Bauern gab sie dem Grafen die Schmeichelnamen seiner Knabenzeit.
»Ja, Mütterchen,« lachte Subotin, »es ist auch lange her, seit ich hier war, die Jahre verändern uns, ich bin jetzt fünfundzwanzig, damals war ich erst sieben.«
»Du siehst aber älter aus,« versetzte Akulina, »ich würde meinen, daß Du wenigstens achtundzwanzig Jahre zählst.«
Subotin überhörte diese Worte, er gab Befehl, die beiden großen Koffer in die für ihn bestimmten Zimmer zu tragen. Die Halle des Schlosses war wunderschön. Sie war mit Jagdtrophäen und mächtigen Elchgeweihen dekoriert. Zwei riesige, ausgestopfte Bären standen zu beiden Seiten der Treppe aus Eichenholz, die in den oberen Stock führte, der die Wohnräume des Grafen enthielt. Bewundernd glitten die Augen des neuen Besitzers über alles, scharf und prüfend musterten sie sein Eigentum.
»Freust Du Dich, den Spielplatz Deiner Kindheit wiederzusehen, Nicolaj Petrowitsch?« fragte Akulina, »hier in der Halle hast Du Dich mit meiner Tochter, Deiner Milchschwester Anna, getummelt. Wie oft hatte ich Dir streng verboten, von dem blanken Geländer herabzurutschen, aber Du hörtest nicht auf mich, bis Du eines Tages stürztest und das Bein brachst, »weißt Du es noch, Herr?«
»Gewiß, gewiß, Mütterchen, ich hinke ja seitdem leicht auf dem rechten Bein.«
»Nein, es war das linke,« versicherte die Amme eifrig.
»Ja doch, ich versprach mich,« entgegnete Subotin, »die Freude, endlich wieder in Antonowka zu sein, ist an meiner Zerstreutheit schuld.«
Der Verwalter aus Ostrokino und der aus Antonowka, die Förster und Hausleute standen in einer Ecke der Halle, sie stellten sich dem Grafen vor, der sie mit gewinnender Freundlichkeit begrüßte.
»Es sind fast lauter neue Dienstboten,« sagte Akulina, »diejenigen des verstorbenen Herrn hat er pensioniert.«
Nicolaj Petrowitsch redete seine Untergebenen an, er sprach gut und gewann sich schon an diesem ersten Tage die Herzen der Beamten und Diener seines Hauses.
»Ich glaube, wir können mit unserem neuen Herrn zufrieden sein,« sagte der Förster aus Antonowka, ein Ostpreuße, zu dem Verwalter in Ostrokino, der aus den baltischen Provinzen stammte, »wir haben es jetzt mit einem gebildeten Menschen zu tun. Der selige Graf sah in jedem Dienenden noch einen Leibeigenen und soll parteiisch und ungerecht gewesen sein, gottlob, das wird nun anders werden.«
»Ich bin auch froh, daß ich gleich Ihnen erst jetzt den Dienst antrete, Herr von Dolgoljubow hat uns zugleich engagiert auf Wunsch des Grafen.«
Von Akulina geführt, schritt Nicolaj Petrowitsch durch das stolze Heim seines Geschlechtes. Die Amme schwatzte übereifrig und erklärte alles.
»Aber das mußt Du ja selbst noch wissen,« unterbrach sie sich, »verzeihe meine Plauderhaftigkeit.« Sie wurde jetzt nach der Freude des ersten Wiedersehens förmlicher.
»Ich war doch noch allzuklein, um mich deutlich zu erinnern,« entgegnete Subotin, »deshalb ist es mir lieb, wenn Du mich genau orientierst, Akulina.«
Sie standen jetzt im Ahnensaal, der durch das Licht hell erleuchtet war. Die beiden großen Kronleuchter strahlten, es war fast tageshell in dem hohen Raum. Eine dunkele, reich mit goldenen Arabesken verzierte Ledertapete bedeckte die mit Bildern in schweren, geschnitzten Eichenrahmen geschmückten Wände. Eine ehrwürdige Ahnenreihe blickte auf den Erben des Stammschlosses nieder. Man las die vornehmsten Namen unter den Oelbildern, Namen, die in der Geschichte Rußlands unsterblich geworden waren. Etwas wie ein wilder Trotz blitzte in den grauen, Augen Nicolajs auf, als er, in der Mitte des Saales stehend, seine Blicke von Bild zu Bild gleiten ließ. Seine Lippen bewegten sich. War es ein Versprechen, das er sich gab? Ein Schwur, den er den Verstorbenen leistete, die hier Jahrhunderte lang als Herren gelebt hatten? Oder sprach er ein Dankgebet, daß sich das feste Dach des alten Schlosses schützend über seinem Haupt wölbte, daß er den Ort gefunden, den er seine Heimat nennen durfte?
Akulina war hinausgegangen, um die Zimmer Subotins noch einmal in Augenschein zu nehmen, der Graf blieb allein im Ahnensaal, allein mit allen den Männern und Frauen, die aus den Rahmen, auf ihn niederblickten. Er schauerte heftig zusammen, ein eisiger Lufthauch streifte sein heißes Gesicht, leise, klagende Laute drangen an sein Ohr. War es eine menschliche Stimme, war es der letzte Seufzer eines Sterbenden?
»Ich bin nervös,« dachte Nicolaj Petrowitsch, »es ist eine Täuschung.«
Er wollte den Saal verlassen, da fiel ein Bild mit lautem Krachen zu Boden. Subotin stieß einen Schrei aus und starrte auf den zerbrochenen Rahmen, auf das blasse, von einem schwarzen Bart umrahmte Gesicht eines Mannes in der Uniform eines Obersten. Eine häßliche, rote Narbe lief über die linke Wange, drohend und unheimlich sahen die großen, dunkeln Augen von der Erde empor in das Gesicht seines Ururenkels.
Akulina war herbeigeeilt, sie schlug voll abergläubischer Furcht die Hände zusammen und zitterte am ganzen Körper.
»Der schwarze Oberst,« stammelte sie, »der böse Geist des Schlosses! Es heißt, er künde Unglück, wenn er herabsteigt.«
Subotin versuchte zu lachen.
»Torheit,« sagte er, »siehst Du nicht, daß der Nagel, an dem das Bild hing, aus der Wand gefallen ist.« Seine Stimme klang rauh vor Erregung.
»Man soll das Bild fortstellen,« befahl er.
»Tu es nicht, um des Himmels willen tu es nicht,« flüsterte die Amme ängstlich, »der selige Herr Graf konnte den Schwarzen auch nicht leiden, er ließ das Bild in eine Dachkammer bringen. Acht Tage darauf starb Deine Mutter, die Frau seines Bruders, die schöne Vera Sergejewna und Du verwaistest. – Ein früherer Besitzer Antonowkas entfernte den Oberst ebenfalls aus dem Ahnensaal, der linke Flügel des Schlosses brannte ab, es ist jedesmal, als ob sich der böse Geist des Hauses rächen wolle.«
Subotin sagte kein Wort, er winkte der Amme zu schweigen.
In seinen Zimmern angekommen, sagte er kurz: »Laß mich allein.«
Er schloß die Tür und stand lange regungslos da. Seine Hände schlossen sich krampfhaft, als wollten sie etwas packen und nie wieder freigeben.
Die beiden großen Koffer standen an der Wand des Schlafzimmers, Nicolaj Petrowitschs Blick fiel auf sie. Er nickte schwer mit dem Kopf.
»Ja,« sagte er halblaut, »es wird, es muß gehen, später, später will ich alles ordnen.«
Er klingelte. Michail der Diener erschien.
»Bringe mir Wein,« befahl Subotin, »starken Wein, schnell.«
Der Besitzer Antonowkas stieß das Fenster auf, die eisige Luft tat ihm wohl, sie kühlte das Blut, das so wild in seinen Schläfen pochte. Die Nacht war kalt, und die Sterne funkelten am Himmel, in den hohen Bäumen, die das Schloß umgaben, rauschte es seltsam. – –
Als der Diener den Wein brachte, trank Subotin einige Gläser des schweren Rebensaftes. Lauernd betrachteten ihn die Augen Michails, über sein schlaues Fuchsgesicht glitt ein erstaunter Ausdruck.
»Um welche Zeit befehlen der Herr Graf zu speisen?« fragte er mit kriechender Unterwürfigkeit, indem er sich tief verneigte.
»Sobald wie möglich. Ich bin hungrig und müde von der Reise und will früh schlafen gehen,« erwiderte Subotin.
»Soll ich dem Herrn nicht auspacken helfen?«
»Nein, das besorge ich immer allein. Du kannst gehen.«
Der Diener entfernte sich geräuschlos.
Subotin leerte noch ein Glas, er fühlte sich wie neu belebt und ließ Akulina rufen.
»Höre, Alte,« sagte er freundlich, »ich schenke Dir fünfundzwanzig Rubel, kaufe Dir ein Andenken dafür.«
»Mein goldenes Täubchen!« rief die Amme hocherfreut und küßte die Hand des freigebigen Herrn, »die Heiligen mögen Dich segnen.«
»Schon gut.«
Subotin zögerte etwas, dann fuhr er fort:
»Ich bin in den langen Jahren meiner Abwesenheit hier fast fremd geworden, mir liegt natürlich daran, mich bald zu orientieren. Du wirst scharf aufmerken und mir alles erzählen, was man über mich spricht, hörst Du? Es soll Dein Schade nicht sein.«
»Ich gehorche,« entgegnete Akulina unterwürfig, »der Herr kann sich auf mich verlassen.«
Um sieben Uhr saß der Graf zum erstenmal in dem großen Speisezimmer an seinem eigenen Tische. Er wünschte, daß ihm die Amme Gesellschaft leistete zum nicht geringen Aerger Michails, der sie nun auch bedienen mußte.
Das trefflich zubereitete Mahl schien aber dem neuen Besitzer des Schlosses nicht zu munden, er aß wenig, sprach aber desto eifriger dem Weine zu, der in den schöngeschliffenen Karaffen funkelte.
»Wie Blut,« dachte Nicolaj Petrowitsch, schloß die Augen und leerte immer wieder den feinen Kelch. Seine Hand bebte, er stellte das Glas so heftig auf den Tisch, daß der dünne Fuß abbrach, und Scherben auf das Damastgedecke fielen.
»Lauter böse Omen,« dachte Akulina, sich heimlich bekreuzigend, »erst fällt das Bild des schwarzen Oberst von seinem Platz und jetzt gibt es Scherben.«
»Erzähle mir etwas von den Nachbarn,« befahl Subotin gegen Ende der Mahlzeit.
Der kaum gehemmte Redeschwall der Amme floß wieder, sie schwatzte wie ein aufgezogenes Uhrwerk. Aufmerksam lauschte der Graf, er stellte geschickte Fragen und orientierte sich schnell, wobei sein scharfer Verstand ihm zu Hilfe kam.
»Die kleine Natascha Tscherbatkin ist ein bildschönes Mädchen geworden,« erzählte Akulina, »sie ist von Herzen gut, das wäre die rechte Frau für Dich, Nicolaj Petrowitsch. Die Familie ist von gutem Adel, aber sie sind arm, es sind acht Kinder da. Es soll in Kraßlo nicht gut mit der Wirtschaft gehen, die Töchter müssen reiche Männer heiraten.«
Subotins Gedanken mußten abgeirrt sein, der zerfahrene Ausdruck seines Gesichts fiel der Amme auf.
»Du hörst nicht zu,« sagte Akulina verwundert.
»Ja doch, Du sprachst von den Tscherbatkins, wie hieß die älteste Tochter, ich überhörte es.«
»Natalia,« wiederholte die Alte, »Natalia Wladimirowna, aber man nennt sie meist nur Natascha.«
Subotin erhob sich, er ging nicht durch den Ahnensaal, obgleich es der nächste Weg war.
Michail blickte seinem Herrn kopfschüttelnd nach, er hob die fast geleerte Kristallflasche gegen das Licht, ein breites Grinsen entstellte sein Gesicht. »Der hat einen tüchtigen Durst,« sagte er lachend, »das muß ich Iwan erzählen, der wird sich freuen.« Er schenkte sich den Rest des Weines ein und trank ihn auf einen Zug aus.
Akulina begleitete Subotin in sein Zimmer.
Sie zögerte und schien etwas fragen zu wollen. Endlich entschloß sie sich dazu.
»Hast Du nichts von Ljuba Konstantinowna gehört, Nicolaj Petrowitsch?«
Subotin schien erstaunt.
»Ljuba Konstantinowna,« wiederholte er, »wer ist das?«
»Deine unglückliche Tante, die Schwester Deines Vaters. Sie entfloh mit dem Hauslehrer ihres Bruders, einem gewissen Feodor Karmitow. Der erzürnte Vater hat nie mehr etwas von ihr wissen wollen.«
»Laß mich mit der Ungeratenen in Ruhe!« rief der Graf heftig, »dieses wilde Reis meiner Familie interessiert mich nicht. Wahrscheinlich ist Ljuba Konstantinowna seit langen Jahren gestorben.«
»Sie hatte ein Kind, einen Knaben, er muß etwas älter als Du gewesen sein, Nicolaj Petrowitsch. Gott mag wissen, ob er noch am Leben ist. Verzeihe meine Frage nach Ljuba, wir waren einst Spielgefährtinnen. Zwei Jahre nach ihrer Verheiratung schrieb sie mir einmal aus Jekaterinoslaw, seitdem fehlte jede Kunde über sie und ihren Knaben. Es ist übrigens merkwürdig, wie sehr Du Deiner armen Tante gleichst, Nicolaj Petrowitsch, Du könntest für ihren Sohn gelten. Na, nahe genug ist auch die Verwandtschaft, das Blut läßt sich nicht verleugnen.«
»Nun ist es aber genug, schweig'!« donnerte Subotin, »geh', ich bin müde und will schlafen.«
Erschreckt duckte die Amme sich.
»Soll ich Michail rufen?« fragte sie.
»Nein, ich brauche ihn nicht,« versetzte Subotin kurz.
Akulina küßte unterwürfig den Arm des Grafen und machte das Zeichen des Kreuzes über ihn.
»Schlafe in Gottes Hut, Nicolaj Petrowitsch,« sagte sie salbungsvoll, »das Dach Deiner Väter beschütze Deinen Schlummer.«
»Vergiß unsere Abmachung nicht,« mahnte Subotin, »halte Augen und Ohren offen, ich werde Deine Dienste reichlich belohnen.«
Akulina knixte, dann verschwand sie hinter der schweren Eichentür, die jeden Außenlärm dämpfte. Subotin ließ sich in einen Sessel fallen, er stützte den Kopf in seine Hand und saß lange so. Welche Gedanken jagten sich wohl hinter der Stirn, über die das blonde, lockige Haar fiel? Eine tiefe Falte grub sich zwischen den schöngeschnittenen, dunkeln Brauen. Er ließ die Hände sinken, sie zuckten nervös auf der Platte des Schreibtisches. Ein düsteres Feuer blitzte in den grauen Augen, die halbgeschlossen waren. Endlich erhob sich der Graf, schleppenden Schrittes ging er zu dem Marmortischchen, auf dem die fast geleerte Weinflasche stand. Gierig schlürfte er den Rest des feurigen Getränkes.
Dann machte er sich an das Auspacken der beiden großen Koffer.
Es war spät geworden, ehe er die Sachen geordnet hatte. Vieles nahm er aus dem einen, Koffer und packte es in den zweiten, kleineren.
»Ich bin so müde, als hätte ich den ganzen Tag Holz gespalten,« murmelte Subotin und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. In Nachdenken versunken stand er da, seine Augen starrten finster auf den kleineren Koffer.
»Wo lasse ich ihn nur,« murmelte er, »hier darf der Koffer nicht bleiben, um keinen Preis, Akulina muß Rat schaffen. In einem so alten Hause wie Antonowka gibt es gewiß sichere Verstecke genug. Ich muß frische Luft schöpfen.« Er öffnete beide Flügel des Fensters und lehnte sich hinaus. Eine dunkle Gestalt huschte lautlos durch die Stämme der Bäume.
»Werde ich ausspioniert?« dachte der Graf. Aber er beruhigte sich schnell und lachte sich selbst aus.
»Ich sehe heute überall Gespenster, es wird irgend ein Stallknecht gewesen sein, der aus der Dorfschänke kommt.« Bei diesen Worten wollte er das Fenster schließen. Wie Geisterstimmen drangen leise klagende Laute durch die Nacht. Es waren dieselben Töne, die der junge Besitzer des Schlosses im Ahnensaal gehört hatte, kurz ehe das Bild des schwarzen Oberst von der Wand fiel.
Hastig schloß Nicolaj Fenster und zog die schwere Samtgardine davor, dann legte er sich rasch zu Bett. Er war todmüde, aber der Schlaf floh ihn. Lange wälzte er sich ruhelos auf dem weichen Pfühl umher. Erst gegen Morgen versank er in einen bleiernen Schlaf, aus dem er spät am Tage, an allen Gliedern wie zerschlagen, erwachte.