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Einer die Weisheit, Allmacht und Harmonie des Weltgeistes preisenden Weltanschauung muß es ein unbequemer Gedanke sein, sich ganz nüchtern klar zu machen, daß das Leben nur bestehen kann, indem es Leben vernichtet. Erhaltung und Erzeugung auf dem Umwege von Tier- und Pflanzenvernichtung! Dieses mörderische Gesetz vom Werden durch Sterben ist vom Standpunkte menschlichen Erkennens ebenso grausam und fühllos von Mutter Natur gedacht, wie es unästhetisch ist. Eine Art Lebewesen scheint immer nur geschaffen, um von der anderen vernichtet und gefressen zu werden: das wäre so eigentlich die Quintessenz des Kampfes ums Dasein, bei welchem dem zeitweisen Sieger am Ende dieselbe Vernichtung durch Verwesung droht, wie den Wesen, auf deren Kosten es sein mehr oder weniger kurzes Dasein gefristet hat. Sollte diesem unableugbaren, schrecklichen Grundgesetze des Lebens nicht doch eine versöhnlichere, dem menschlichen Fühlen weniger schmerzliche und peinliche Betrachtungsweise abgewonnen werden können?
Ja, hat nicht vielleicht die Chemie, die Beherrscherin der Kultur, aufgestiegen aus dem Schlamm der Alchymie wie eine schönheitleuchtende, schöpferische Göttin, die Möglichkeit, uns Menschen von diesem Bannfluche alles Lebendigen – der übrigens schon im Paradiese am Werke gewesen sein muß – zu befreien durch künstlich hergestellte Nahrungsmittel? durch Laboratoriumsbrot und Fabrikeiweiß? durch Synthese von Stickstoff, Kohlenstoff, Wasser, Kalk, Phosphor usw., kurz alles dessen, was in der Nahrung chemisch und theoretisch vorhanden sein muß, um den Stoffwechselbetrieb zu erhalten? Das ist durchaus keine Utopie vom Standpunkte der Eiweißchemie aus. Ist es doch gelungen, eine dem Eiweiß sehr ähnliche Verbindungsreihe von Körpern, nämlich die Peptonoide, eigentlich Eiweiße, wie sie im Magen zur Verdauung umgearbeitet werden, tatsächlich herzustellen und damit Tiere zu füttern.
Mit welchem Effekt? Mit dem des langsamen Verhungerns! Ich habe mich vor dieser Tatsache erschüttert gefühlt wie vor einem gedanklichen Elementarereignis! Es müßte etwas wie eine Weltanschauungskatastrophe, wie ein Erdbeben der Erkenntnis durch die wissenschaftliche Welt gehen, wenn diese Tatsachen wirklich bestätigt würden. Die Mehrzahl der Naturwissenschaftler steht selbstverständlich auf dem Standpunkte, daß, wenn es gelänge, das Eiweiß chemisch rein aus seinen Elementen aufzubauen, das Problem der Nahrungsmittelsynthese gelöst wäre. Dann reißt man Schlachthäuser nieder und baut den küchen-chemischen Großbetrieb!
Hier hat nun die Rechnung ein Loch! Man wird mit künstlichem Eiweiß nach meiner Ansicht weder Tier noch Mensch erhalten können, was schon die scheinbar gänzlich mißlungenen Versuche der Hundefütterung mit peptonähnlichen Körpern beweisen dürften; was aber erst würde für eine Verblüffung entstehen, wenn wirklich chemisch reines Eiweiß künstlich durch Aufbau im Laboratorium gewonnen – kein Nahrungsmittel wäre? Hier ist ein Rhodus für unser naturwissenschaftliches Denken, das wir überspringen oder überwinden müssen. Hier ist eine Probe auf die Stichhaltigkeit unserer gesamten naturwissenschaftlichen Überzeugung!
Man hat eben, befangen in der Lehre von Kraft und Stoff, das Mysterium in der Ernährung vergessen! So muß eines Tages die Lehre von den Wärmeeinheiten (Kalorien), die der Körper zu seinem Betriebe aus der Nahrung nimmt, erstaunlichen Schiffbruch leiden, weil der Ernährungsvorgang keine Maschinenheizung allein ist, sondern weil über seinem chemischen Mechanismus noch ein Rätsel, ein Wunder, ein Sonderbares schwebt, das erst erklärt, warum Leben nur durch Leben sich erhalten kann.
Ich stehe nicht an, hier meine eigenen Gedanken darüber auszusprechen, nicht allein weil ich sie für interessant genug auch für ein breites Publikum erachte, sondern weil ich die hier angeregte Fragestellung für durchaus neu und wichtig halte.
Meine Ansicht ist, daß die Ernährung eigentlich eine stetige Neuerzeugung ist, nicht nur eine Erhaltung des Bestandes. Wir erzeugen uns ständig in uns selbst von neuem, alle unsere Zellen erzeugen sich neu, nachdem sie abgestoßen und verbraucht sind. Wir werden immer von neuem geboren, täglich, stündlich. Wir sind nach Jahren nicht mehr dieselben, welche wir waren. (Welch Trost für veredlungs- und besserungsbedürftige Seelen!) Wir wechseln in dieser ununterbrochenen Selbsterzeugungskette nicht nur Haare und Haut, wie die Schlangen, sondern den ganzen Zellstaat, der uns in seinem Betriebsschwirren und Schöpfungsweben das Bewußtsein unseres Ichs zuflüstert, dieser ganze Zellstaat des Individuums stirbt fortwährend ein bißchen und wird fortwährend ein wenig geboren. Das ist bekannt und wird von niemand geleugnet. Was aber bisher nicht beantwortet ist, das ist die Frage nach der Herkunft aller der Saatkörner, die nun einmal für eine Zeugung unerläßlich sind. Sind sie gleich mit der Geburt uns schon mitgegeben, so daß der Zeugungsakt das ganze Leben hindurch abliefe wie eine Spule vom himmlischen Webstuhl der Liebe, oder erhalten wir von außen irgendwie neue in uns hineingetragene, an jeder Stelle unseres Leibes wirksame Saat?
Das letztere ist der Fall! Zu allem Leben ist die Zelle nötig. Aber sie selbst ist schon eine hochkomplizierte Maschine. Der Kern der Zelle scheint ihr Wesentlichstes. Der hat eine sonderbare Struktur und eine merkwürdige chemisch-physiologische Zähigkeit. Er besteht aus Nukleinsubstanz. Dieses Nuklein ist chemisch oder physikalisch schier unzerstörbar. Keine Säure, keine Lauge, keine Verdauung kann es vernichten. Nur dem Feuer widersteht es nicht. Hier im Nuklein der Kerne steckt das Mysterium der Ernährung. Dieses ist in jeder Pflanze – in jeder Tierzelle, die wir zu uns nehmen, enthalten. Ohne Nuklein ist keine Nahrung denkbar, es kommt aber nur im Zellkern vor. Es ist aber auch der Träger aller Befruchtungsvorgänge.
Durch einen Zufall sah ich einst ein Stückchen Schleimhaut von einem Menschenmagen unter dem Mikroskop, von einem Magen, der eben im Begriff war, zu verdauen. Ich war aufs höchste erstaunt. Die ganze Schleimhaut nicht nur, auch die gesamte Magenwand war durchsetzt mit weißen Blutkörperchen, dieser Armee von Heinzelmännchen und Liliputanerpolizei in unserem Leibe, in so auffallender Weise, daß ich das für eine Entzündung oder Eiterung hielt. Aber eine Eiterung der Magenwand bei einem völlig gesunden Menschen! Damals lebte noch mein alter Lehrer Virchow, dieser Meister der Deutungskunst des Kleinen. Er schüttelte den Kopf und meinte, das müßte ein Leukom (eine Geschwulst) sein. Ich weiß jetzt, belehrt durch weitere Erfahrungen, daß jede Magenwand im Zustand der Verdauung prall gefüllt mit diesen weißen Ameisen des Lebens ist und daß sie dort lauern auf die freigewordenen chemisch unverdaulichen Nukleinkerne der Nahrung. Diese nehmen sie in sich auf, tragen sie überall mit dem Blutstrom und treten durch die Gefäßlücken ins Gewebe und streuen, die echten Säemänner des Geheimen, die Samen aus, die sie aus der Nahrung nahmen, überall wo es nottut, wo der wallende, wogende, rollende Teppich des kleinsten Lebens eine Lücke, einen Defekt erhalten hat. Mag Darm und Magen seinen Chemismus treiben nach dem Gesetz der Maschinenheizung und nach dem Äquivalent von Wärme und Arbeit, die Millionen Nukleinkörnchen, kleine Wundersterne ewiger Erzeugung und ewigen Gebarens, würden ganz verloren sein und nur die Äcker düngen, wenn diese kleinen Wächter des Zellbestandes sie, die sonst Unverdaulichen, nicht abfangen würden, als die eigentlichen Träger des Wunders der Ernährung, und sie verteilten auf alle die mikroskopischen Wiesen und Zellrasenflächen, denen im kleinen Maßstabe das menschliche und tierische Gewebe gleicht. Das eigentliche Charakteristikum des Lebens sind die Nukleinsterne der Zelle, sie sind die Himmelsschlüsselein, die, eindringend in das Herz anderer Zellen, das ganze Wunderwerk der Zeugung aufschließen, die die Wunderfedern und Zaubermotoren anspringen lassen zum Ablauf alles kleinen und riesengroßen Lebens. Nuklein ist sogar der Träger der Persönlichkeit, der Artcharaktere, der Stammeseigenschaften, es ist schlechthin das Individuellste, was es auf Erden gibt, denn es gibt jedem Wesen sein ureigenes Gepräge, von einer beispiellosen, durch alle Generationen, alle Wandlungen fortwirkenden Konstanz.
Es ist meine aus dieser Betrachtung gewonnene Überzeugung, daß die Ernährung nicht erschöpft ist durch die Bilanz von Aufnahme von Wärme und Umsatz in Arbeit, sondern daß neben diesen betriebstechnischen Vorgängen noch ein Prozeß einherläuft, welcher das Rätsel des Lebens in sich schließt und darum mysteriös und wundervoll ist. So aufgefaßt ist die Wandlung, die die Nukleinsubstanzen des Lebendigen im Kreislauf aller Lebewesen durchmachen, gleich dem ewigen Kartenmischen eines allmächtigen Wesens, dessen gigantische Phantasie niemals Genüge finden konnte an dem schon Erreichten, sondern das unablässig am Werke ist zu variieren, zu kombinieren, zu hemmen und zu treiben und geruhig sich des bunten Spieles zu freuen an den wandelnden Erscheinungen des Alls; ein Wesen, für das Sonnen- und Kometenbahnen nicht wichtiger sind als die Staubflüge des Sonnenstäubchens und das Lieben und Zeugen der allerkleinsten Lebenseinheiten, der Nukleinsternchen in den Zellen von Mensch, Tier und Pflanze.