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I.

Am Rande des Olivenhaines, mit dem das Städtchen Manosque sich gegen das flache Land gürtete, schritt Mirabeau auf und nieder. Trotz der südlich sengenden Hitze des Maitages lief er mit hastigen gehetzten Schritten von einem Ende des Wäldchens zum anderen. Der Mann glühte und dampfte in innerem Aufruhr, dicke Schweißtropfen sickerten aus dem dichten Haare hervor, rieselten über das pockennarbige wuchtige Gesicht. Er spürte es nicht. Seine Gedanken siedeten.

Er wandelte in den Wehen seiner ersten ernsthaften literarischen Arbeit. Ein Posaunenruf sollte sie werden! Ein Fanfarenstoß, daß die Perücken wackelten. Eine Kampfansage an die Regierung und ihre Mißbräuche. »Über den Despotismus.« So sollte sie heißen.

Die Gedanken überstürzten sich. Die Hände gestikulierten in der flimmernden Luft.

Die Grundlagen dieser Regierung wollte er angreifen. Wilde Schmähungen gurgelten in ihm auf, gewaltige bombastische Phrasenklötze ballten sich in seinem Hirn zusammen. Die Willkür dieses Regierungssystems wollte er niederschmettern, ihre selbstmörderische Finanzverwaltung, ihre ruchlose Rechtlosigkeit – ja, diese Rechtlosigkeit! Wer war dazu vom Schicksal hehrer berufen als er, er, der mit seinen Fünfundzwanzig seit fast zehn Jahren ein Opfer dieser gesetzlosen Regierungswillkür war?!

Eine lettre de cachet nach der andern hatte ihn von Gefängnis zu Gefängnis gehetzt. Im Jahre 1765, mit sechzehn Jahren, hatte der erste königliche Haftbefehl ihn in die Zitadelle der Insel Ré geworfen. Freilich auf Bitten und Veranlassung seines Vaters. Aber war eine Willkür deshalb entschuldbarer, weil sie sich zum Handlanger eines tyrannischen verfolgungswütigen Vaters erniedrigte!

Ha, sie sollten seine Stimme hören, die Herren in Versailles, die Frankreichs grausame Geschichte machten, hören sollten sie und erbeben!

Er rannte und schmiedete Zorn und Haß im Feuer seines unbändigen Temperamentes, in der Glut seines umfassenden Wissens, in der Lohe seines wortbildenden Genies zu singenden Schwertern.

Ab und zu warf er das mächtige Haupt mit der gepuderten, sorgfältig frisierten buschigen Haarmähne heftig zurück und blickte hinaus in das unter der Provencesonne dunstende Land.

»Wo sie bleibt, wo sie bloß bleibt?!« schnaufte er ingrimmig und stürmte weiter, ein überhitztes, kochendes, zum Springen überfeuertes, lebendiges Kraftwerk.

Endlich blieb er stehen. Der Schweiß rann ihm in den Mund. Der bittere Geschmack ekelte ihn. Er zerrte das Taschentuch aus den blauseidenen Kniehosen, riß den Zweispitz vom Kopfe und trocknete sich Stirn und Gesicht. Die Spitzenmanschetten des Rockes waren feucht und klebrig.

Er lehnte sich gegen den Stamm eines Olivenbaumes und blickte hinaus in die Flur voller Hügel, die den Ausblick beschränkten.

»Wo sie bloß bleibt?!« dachte er wieder voller Zorn. »Längst könnte sie zurück sein.«

Ein Drang, ihr entgegenzueilen, packte ihn. Er löste sich von dem Baume und tat einige Schritte vorwärts. Doch zur rechten Zeit gewahrte er den Polizeikommissär des Städtchens, der auf einem Dienstgange querfeldein schritt. Er flüchtete zurück in den bergenden Schutz der Oliven, knirschend vor Wut und dumpf ungezügelt aufheulend in seiner gefesselten Ohnmacht.

Diese Ketten! Diese Folter! Hier stand er im Schraubstock und mußte tatenlos harren, bis dieses Weib ihm endlich die Bücher brachte, deren er so dringend für seine Arbeit bedurfte! Festgeschmiedet durch die letzte lettre de cachet, eingerammt in dieses elende Nest Manosque, ein Gefangener des Königs. Weshalb? Warum? Weil der Vater es wollte. Weil der Vater willfährige Freunde unter den Ministern besaß, weil der Herzog von Vrillière gegen den wehrlosen Sohn den Bannstrahl des königlichen Haftbefehls schleuderte, ohne Prüfung, ohne Verhör, blindlings, in feiler Willkür, bloß weil ein erbarmungsloser Vater es begehrte.

Er wütete berserkerhaft, er schlug sich Fäuste und Stirn blutig an dem Stamm einer Olive. Der Schmerz beruhigte ihn. Er betrachtete gelassen die zerschundenen Hände. »Bluten muß man aus den Wunden, die dieser Despotismus schlägt,« sann er, »um den Schrei gegen ihn mit Blut schreiben zu können. Ich blute, ich werde schreien, blutgurgelnd schreien!«

Von der Hitze des Tages und seines Ungestüms erschöpft, setzte er sich auf den Stumpf eines gefällten Baumes nieder. Die Wäsche klebte widrig am Körper, im Rücken war eine peinlich feuchte Kühle.

Er stützte den Ellenbogen auf das Knie, legte das Löwenhaupt in die Handfläche und starrte hinaus in den Glast dieser Stunde des großen Pan.

Vor ihm breitete die Provence ihre glühende Sommerherrlichkeit. Wolkenloser tiefblauer Himmel, rein wie Glas, aber tückisch. In Minuten verdüsterte er sich oft und schleuderte seine Blitze, als rase er in jähem Haß wider die Welt, die er wochenlang leuchtend mild überdacht hatte. Kein Blatt der Oliven regte sich. Doch der Verrat lauerte. In Sekunden erwachte bisweilen der schlafende Mistral und tobte über das Land hin, zauste die Blätter, fegte sie vor sich her, knickte die Reben, wirbelte einen Blütenschwall zum Himmel empor.

Mirabeau sah hinaus in diese attische Landschaft mit ihren harmonischen beglückenden Linien, mit ihren lavafarbenen Felsen, mit ihrer kochenden Erde, die rötlichbraun glänzte, als wäre zerstäubter Backstein über sie hingestreut. Das war diese rätselvolle ausgedörrte Scholle der Provence, die doch in trächtigem Überflusse Frucht trug: Wein und Olive, Korn und grünende Wälder. Und mit einem Meer von Blüten jedes Fleckchen Erde farbenselig überschwemmte und die Luft schwelgerisch sättigte mit dem betäubenden Dufte des Lavendel, des Thymian, der Salbei, des Rosmarin, der Rosen in allen Schattierungen.

Mirabeau blickte hinaus in dieses Wunderland, und eine inbrünstige Liebe zur Heimat quoll in ihm auf.

In südfranzösischem Gefühlsüberschwange flüsterte er vor sich hin: »Du geliebte, arme, reiche, treue, verräterische Muttererde bist ich, und ich bin du. Aus deinem Staube bin ich gebildet, zu dir werde ich zurückkehren, wenn mein Weg – mein leuchtender Kometenweg – getan ist. Wie du, bin ich. Deine Säfte schäumen in mir, deine Quellen brausen in meinen Adern, all dein Gutes und Böses lebt auch in mir. Süßes, geliebtes Mutterland!«

Er sprang wieder empor. Lange sitzen konnte dieser überschäumende Mann nicht.

»Wo sie bloß bleibt, dieses infernalische Weib?!«

Er blickte angestrengt aus seinen funkelnden Augen ins Weite. Gegen den flirrenden bläulich-roten Horizont standen matt vier Rundtürme mit gezackter Zinne und ein Hügel, auf dem sie ragten.

Dort lag das Stammschloß seines Geschlechtes, Schloß Mirabeau. Von dort mußte sie kommen. Früh am Morgen war sie aufgebrochen, die väterliche reiche Bibliothek für ihn zu plündern. Trotz des strengen Verbotes des Marquis, die geringste Kleinigkeit aus dem Schlosse zu entfernen.

Freilich hatte der Sohn, als er kurz nach der Hochzeit mit seinem jungen Weibe das Château bezog, Möbel, Einrichtungsgegenstände, Bücher, alles, was nicht niet- und nagelfest war, verschleudert. Freilich! Aber war es seine Schuld, daß diese Dinge zum Trödler wandern mußten? Konnte er von der kargen Rente leben, die der Vater und der Krösus von Schwiegervater ihm boten?! Er hätte Luxus getrieben, die junge Frau mit Brillanten und Firlefanz überschüttet! Nun ja – sie war ein junges Weib und Schloß Mirabeau eine Öde. Etwas muß man den Weibern schon bieten. Trotz dieser Verkäufe hatte er zweihunderttausend Livres Schulden gemacht. Wer konnte dafür, daß der elende Mammon wie Wasser zwischen den Fingern verrieselte? Er? Nein. Sein Blut! Der Vater ersoff ja auch in seinen Schulden. Warum spielte er ihm gegenüber den gewissenhaften Hausvater! Er verpuffte das Geld in närrischen Bodenreformspielereien. Nun ja. Und er, der Sohn, in anderen närrischen Kinkerlitzchen. Chacun à son goût. Aber deswegen lettres de cachet, Haft, Gefangenschaft! Der Satan hole die Welt, die Väter und die Ungerechtigkeit! Zum Teufel, wo blieb dieses infernalische Weib?!

Aber jetzt – dort auf dem Feldwege – ein bewegter Punkt. Ohne Zweifel, ein Mensch. Das war sie!

Aller Vorsicht zum Trotze eilte er ihr entgegen. Er fieberte, endlich diese Bücher in Händen zu halten, die den Brennstoff der Wissenschaft in die Flamme seiner Abhandlung über den Despotismus schleudern sollten.

Doch bald erkannte er, daß er sich geirrt hatte. Der gemächlich nahende Mensch war nicht die sehnlich Erwartete, es war der Briefträger, der von der ländlichen Villa des Chevalier de Guibal zurückkehrte.

Enttäuscht blieb Mirabeau stehen und erwartete den Mann. Der grüßte devot den Grafen.

»Sagen Sie ja nicht, daß Sie mich hier draußen getroffen haben,« lächelte Mirabeau, »Sie wissen ja.«

»I, wo werde ich was sagen«, beruhigte der Beamte. »Ich weiß doch Bescheid.«

»Haben Sie was für mich, Tartarin?«

»Ich glaube fast.« Er kramte in der großen Ledertasche, die er am Riemen über die linke Schulter trug. »Mir war's doch so, als hätt' ich was für Euer Gnaden gehabt. Hier ist es schon. Ein Brief aus Bignon. Und hier noch einer. Aus Tain. An die Frau Gräfin. Aber den kann ich wohl gleich dem Herrn Grafen geben?«

Mirabeau nickte und zahlte das Porto.

Der Briefträger entfernte sich grüßend. Langsam schritt Mirabeau zum Olivenhaine zurück. Den Brief an die Gräfin barg er in der Tasche des Rockes, den anderen, aus Bignon, wog er unschlüssig in der Hand. Ein Gefühl des Unbehagens hielt ihn von der Lektüre zurück. Er war von dem Vater. Er enthielt sicher wieder nichts als Vorwürfe, Bosheiten, widrige Anwürfe dieses harten verschrobenen Mannes. Wozu sich ärgern!

Er drehte das Schreiben in den Händen. Doch als er den Schatten des Haines erreicht hatte, überkam ihn ein trotziger Mut.

»Pah,« dachte er, »fort mit der Feigheit! Ich werde mich über die Marotten dieses Menschen eben nicht ärgern. Basta.« Und flitzte das Schreiben auf.

»Mein Sohn,« schrieb der Marquis, »ich erfahre aus Mirabeau zu meinem Leidwesen, daß Du fortfährst, meine Bibliothek zu devastieren. Ich verbitte mir das. Ich werde mich gegen Dein impertinentes Freibeutertum zu schützen wissen. Du beschwerst Dich über meine Strenge und Ungerechtigkeit. Du! Wann bin ich ungerecht gewesen! Sind alle meine Maßregeln, Deine Haft, nicht jede einzelne durch Deine Vergehen, unerhörte Unbesonnenheiten, gemeine Tollheiten begründet worden? Wo ist der Vater, der nicht das Recht hat, seinen Sohn zu strafen, wenn der Sohn Dummheiten macht!?« Dann folgte die übliche Flut der Beschimpfung.

»Du bist eigensinnig, aufbrausend, unbotmäßig, zu allem Schlechten geneigt, ein struppiger Eisenfresser, von unglaublicher Niedrigkeit, Seichtheit, Lasterhaftigkeit, versunken in gemeine Leidenschaften, die Dein mütterliches – dieses verruchte – Blut verraten. Du kennst – wie sie – kein Schamgefühl, keine Wahrheit, keinen Glauben.«

Mirabeau lachte schallend. Diesen Kapuzinerton kannte er nun nachgerade. Der wirkte nur noch erheiternd wie die grotesken Zuckungen eines Polichinells.

Er las in angeregter Laune weiter. Doch da wurden seine weitläufigen breiten Züge steinern vor Staunen und Wut.

»Ich habe nun den letzten Schritt gegen Dich getan, der mir notwendig schien. Am 8. dieses Monats bist Du durch den Familienrat bei dem Zivilrichter des Châtelet in Paris entmündigt und unter Kuratel gestellt worden. Richte Dich danach!«

Eine Weile saß Mirabeau gelähmt, seine großen kastanienbraunen Augen waren erloschen. Doch dann wich die Erstarrung einer tobsüchtigen Lebendigkeit. Er sprang empor von dem Baumstumpf, auf den er sich zum Lesen niedergelassen hatte, er zerfetzte das Schreiben, er fuchtelte mit den Armen, er warf sich zur Erde nieder und biß tierisch in den grünen warmen Moosboden. Er schrie haßtolle Worte des Jähzorns. Dann kamen ihm Tränen. Diese Schmach konnte er nicht überleben. Diese nicht mehr. Zum willenlosen Kinde hatte ihn dieser entmenschte Vater gedemütigt. Wofür? Weshalb? War dessen eigene Jugend nicht toller gewesen als die seine? Hatte er nicht das Vermögen seiner Frau vergeudet? Hatte er nicht eine skandalöse Ehe geführt? Lebte er nicht heute – er, der Alte – öffentlich mit seiner Geliebten? War der zu seinem Richter berufen, gerade der? Heimtückisch hatte er den Familienrat bei dem Pariser Gericht beeinflußt und belogen und verhindert, daß man auch ihn vernahm!

Er weinte bittere Tränen der Verzweiflung. Dann überkam ihn wieder der Trotz. Ha, er würde sich gegen diesen entehrenden arglistigen Beschluß wehren! Ihn nicht lammsgeduldig hinnehmen. Bei Gott nicht! Zum König vordringen – nach Versailles eilen – trotz Haftbefehl – trotz Gefangenschaft. Er würde – er würde – tausend unausführbare Pläne drangen auf ihn ein.

Endlich straffte er sich. Jetzt galt es harten Kampf gegen diesen Vater. Jetzt! Er strich mit den kleinen schönen weißen Händen – seltsame Gegensätze zu seinem ungeschlachten Leibe – an seinen Flanken nieder, die ungeheuren Kräfte fühlend, die in seinem Herkuleskörper gärten. Da knisterte der Brief an seine Frau in der Tasche. Er hatte ihn vergessen. Jetzt zog er ihn hervor und betrachtete ihn sinnend.

Hm, aus Tain. Dort stand bei den Musketieren der Chevalier Gassaud in Garnison. Schau, schau! Sie hatten ja immer in Mirabeau zusammengehockt. Fast jeden Nachmittag seiner Urlaubszeit war der Herr Leutnant der Musketiere von Manosque nach dem Schlosse herübergeritten. Schau, schau! Nun schrieb er ihr!

Der Graf hob das Schreiben an die gewaltige Nase, die sein Gesicht arg verunstaltete, und roch an den Klebestellen des Briefes, als könne er seinen Inhalt erschnüffeln.

Plötzlich riß er das Schreiben auf. Starrte – starrte – und taumelte.

Dann raste er davon. Der Brief wehte in seiner Hand.

Er stürzte durch die kulissenhaften engen Gassen der kleinen Stadt. Die Buben rannten johlend hinter dem »verrückten Grafen«. Die Leute stutzten und zuckten die Achseln. Man war an seine seltsamen Launen gewöhnt. Er stürmte die Villa der Gassauds, in der er sich bei seiner Verbannung nach Manosque eingemietet hatte. Im Flur traf er auf die alte Frau von Gassaud, die Mutter des Verführers seines Weibes. Er stob an ihr ohne Gruß vorüber in sein Zimmer. Die alte Dame blickte ihm bestürzt nach, trippelte in den Garten, in dem der Chevalier mit seinem Bruder friedlich bei der Pfeife saß und über alte gemeinsame Kriegsfahrten plauderte.

Sie wollte den beiden ehrwürdigen Offizieren gerade ihr sonderbares Erlebnis mit dem Grafen berichten, als ein Poltern und Krachen sie lähmte, das aus den offenen Fenstern des Zimmers drang, in dem die Familie Mirabeau hauste. Auch die beiden Herren waren betroffen aufgesprungen. Ihre schwarzgewickelten Zöpfe hüpften ratlos hin und her.

Mirabeaus geköpfter Gattenstolz war gerade dabei, über alle Nippesfigürchen, Lampen, Vasen, kurz, über alles, was zerbrechbar war, für die Untreue seiner Gattin ein vernichtendes Scherbengericht zu halten. Es klirrte, splitterte, barst, zerplatzte. Dazwischen wetterte seine gewaltige Stimme unverständliches Donnergeroll. Die drei Alten sahen sich entgeistert an, dann liefen sie, wie aufgescheuchte flatternde Hühner, auf das Haus zu.

Sie traten ins Zimmer ... Der Graf stand in einem knisternden Trümmerhaufen und suchte neue Opfer seiner Massakerwut.

»Mein Gott, Graf,« keuchte der alte Herr von Gassaud, der Vater, »was beginnen Sie?!«

»Graf, sind Sie des Teufels!« ächzte Gassaud, der Onkel.

»Meine lieben armen Sachen!« schluchzte Madame Gassaud, die Mutter.

Nun begann auch der kleine Gogo, Mirabeaus Kind, im Nebenzimmer die Furcht seiner neun Monate kläglich herauszuwimmern.

Sein Vater blickte in zynischem Triumphe auf die drei ängstlich starrenden Alten. Ein stolzes Bewußtsein des Rechtes schwellte seinen gewaltigen Brustkasten.

»Ha,« rief er in provenzalischer Gefühlspose, »was ich beginne? Das fragen Sie! Hier, lesen Sie diesen Brief Ihres sauberen Herrn Sohnes und Neffen. Lesen Sie! Aber ich werde vernichten – alles. Alles! Das ganze Haus – und Sie – und das Weib. Und diesen Burschen. Frikassieren werde ich ihn. Frikassieren!!«

Er sah sich um, packte einen Stuhl mit lieblich geschwungenen Beinen, schwenkte ihn hoch empor und schmetterte ihn gegen die Wand. Unter entsetzter Triobegleitung starb er eines krachenden Todes.

Da stelzte Gassaud, der Vater, auf den Mann zu, der in komischer Gelassenheit raste.

»Graf, um Gott, fassen Sie sich! Was ist geschehen?«

»Was geschehen ist? Oh, nichts. Gar nichts. Ihr sauberer Herr Sohn hat mir mein – –«

Er brach jäh ab. In der offenen Tür stand die Gräfin Mirabeau, erhitzt und staubbedeckt von dem weiten Wege vom Schlosse nach Manosque, mit Büchern bepackt, im bauschigen weißen Perkalkleide, ein Gazefichu um die entblößten gelblichen Schultern der südlichen Brünetten, einen großen gebogenen Strohhut auf dem blauschwarzen dichten Haare, einen Musselinschleier im Nacken. Klein und zierlich, ein wenig, nach ihrer Weise, zur Seite geneigt, stand sie da, den Pack Bücher im Arme.

Neugierig und erstaunt blickte sie auf die Zerstörung und die vier Menschen.

Die Alten wandten sich in der Richtung der starrenden Augen des Grafen. Eine lautlose Pause entstand.

»Was geht hier vor?« fragte arglos Emilies bestrickender Mezzosopran.

Da setzte der Graf mit einem Tigersprunge über die Trümmerhaufen, griff wortlos zu, umkrallte den nackten Hals der Gräfin. Vor dem wuchtigen Anprall taumelte sie, brach in die Knie, die Bücher polterten zu Boden.

Das Trio schrie gellend auf.

Emilie gurgelte unter dem furchtbaren Griffe.

»Gabriel – Himmel – Gabriel – meine Stimme –«

Er grölte: »Deine Stimme – deine kostbare Stimme!! Du wirst nicht wieder Theater spielen, du Dirne!«

Und würgte.

Sie verdrehte die dunkelblauen Augen, wurde weiß, daß die schwarzen dichten Brauen stark hervortraten, und rang nach Luft.

»Er tötet sie«, schrie Madame de Gassaud und schlotterte ohnmächtig gegen die Wand.

Da erwachten in den beiden alten Offizieren die Männer und die Kavaliere. Instinktiv sprangen sie gegen den Würger an, zerrten ihn zurück. Doch seine Faust hielt fest. Emilie hüpfte grotesk unter seiner drosselnden Hand nach vorn.

Da riß Gassaud, der Onkel, ein Pistol vom Tisch und legte auf Mirabeau an.

»Lassen Sie Madame, oder – bei Gott! – ich drücke ab.«

Mirabeau sah ihn erstaunt an – langsam lösten sich seine Finger. Emilie torkelte zur Erde, rollte hin und her und winselte klagend.

Die beiden alten Offiziere bemühten sich um sie, hoben sie behutsam empor und legten sie auf das Kanapee. Die alte Dame war inzwischen wieder zu sich gekommen und blinzelte benommen mit den Augen.

Mirabeau kreuzte die Arme über der Brust und blickte drein wie ein von seinem Walten befriedigter Jupiter tonans.

Emilie richtete sich jetzt auf, rieb den Hals, den die roten Streifen seiner Fingerabdrücke gürteten, und schluchzte:

»Bist du wahnsinnig geworden, du furchtbarer Mensch!?«

Da ging der Graf wortlos zum Tisch, nahm das Schreiben und reichte es der Gräfin dar.

»Lies«, gebot er großartig. Er spielte die Tragödie des betrogenen Gatten und fühlte sich als den erhabenen Träger der Titelrolle.

Die drei Alten blickten neugierig und erwartungsvoll drein.

Harmlos nahm die Gräfin den Brief, warf einen raschen fragenden Blick hinein, schrie leise auf, errötete unter dem Morbidezzateint und las. Las sehr langsam, Zeit und Ausflucht zu gewinnen. Der Bogen bebte in ihren Fingern. Dann ließ sie das Blatt in den Schoß fallen und blickte in kindlicher Angst zu Mirabeau hinüber.

»Was hast du darauf zu erwidern?« fragte er gewaltig.

Emilie suchte zu sprechen. Ihre Kehle war rauh. Sie räusperte sich und entgegnete heiser und leise:

»Ich meine, Gabriel, das haben wir beide doch wohl miteinander abzumachen.« Die alte Dame erhob sich hastig.

»Bleiben Sie«, wetterte der Graf. »Vor Ihnen, meine Herrschaften, soll dies erledigt werden. Sie sollen hören, wer Ihr Herr Sohn und Neffe, wer diese Dame ist. Den Brief her!«

Er riß ihn an sich, ehe Emilie es verhindern konnte. »Hören Sie, hören Sie, meine Herrschaften:

›Mein süßes Lieb! Träge schleichen die Stunden dahin. Ich denke Dein. Jede Nacht hat tausend Stunden. Ich denke Dein. Ich gedenke der göttlichen Wonnen, die Du mir geschenkt hast. An jeden Deiner Küsse, an jede Liebkosung, die mich zu einem Gotte erhob, denke ich! Wann werde ich wieder an Deiner warmen Brust liegen? Wann, wann endlich?‹

»O Gott!« stöhnte die alte Dame und verbarg ihr Gesicht.

»Sapperment!« ächzte Gassaud, der Onkel. Gassaud, dem Vater, hatte es den Odem verschlagen.

»Hören Sie weiter:

›Wie erträgst Du unseren grausamsten Feind? Trotze seiner Willkür, seinen Launen. Oh, wenn ich Dich doch bald von ihm befreien könnte! In Liebe, Liebe, Liebe Dein sich in Leidenschaft nach Dir verzehrender Laurent-Marie de Gassaud.‹«

Mit Triumphatorenblick überflog Mirabeau sein Auditorium.

»Entsetzlich!« Madame Gassaud rang nach Luft.

Die Herren schwiegen unter der Last der Familienschmach und blickten voll Verachtung auf die Ehebrecherin.

Die aber hatte sich gesammelt.

»Was hast du zu sagen?« herrschte der Graf sie an.

»Daß ich nur Gleiches mit Gleichem vergelte. Du schwärmst doch so sehr für Freiheit und Gleichheit«, erwiderte sie trotzig.

Da brauste der Jähzorn wieder über ihn hin. Mit einem Riesensatze seiner schweren langen Beine war er bei dem Kanapee, warf sich über die Frau und würgte sie von neuem. Sie schrie auf, strampelte mit den Beinen, daß die Unterwäsche weiß aufleuchtete, kratzte mit ihren schöngepflegten spitzen Nägeln und wehrte sich aus Leibeskräften. Ihr Widerstand reizte seine Wut. Sie wurde zur Besessenheit. Er würgte und würgte. Schaum zischte zwischen seinen Zähnen. Ihre Gegenwehr erlahmte, sie röchelte. Madame schrie um Hilfe, die Männer zerrten mit vereinten Kräften an den Rockschößen des Rasenden – ohne Erfolg. Da lief die Alte aus dem Zimmer, kam zurück mit wehenden Röcken, Gogo, das schreiende Kind, im Arme.

»Ihr Kind – sehen Sie Ihr Kind! Haben Sie Erbarmen! Machen Sie es nicht zur Waise!« flehte sie und sank auf die Knie, das zappelnde kreischende Kind hoch erhoben. Die beiden alten Herren fielen auch auf die Knie nieder. Es war ein Getümmel von Lallen, Bitten, Kindergeschrei, Todesächzen der Frau, wutbrünstigem Knirschen des Mordgierigen.

Plötzlich hielt er inne, blickte auf, sah die kniende Gruppe, sah sein Kind – hob den Kopf – lächelte seltsam – stand auf und ordnete sein zerrauftes Jabot. Die Herren erhoben sich und bürsteten ihre seidenen Strümpfe mit den Händen.

Madame Gassaud eilte zum Kanapee, legte das Kind nieder, richtete den Oberkörper der kraftlos zur Seite gebrochenen Frau empor und strich ihr zaghaft die anschwellende Kehle. Dabei dachte sie: »Mein Gott, mein Gott. Diese entsetzlichen Ereignisse! Daß schreckliche Unsittlichkeit herrscht, weiß man ja. Aber doch nur draußen in der Welt. In Paris und den größeren Städten und in unserer Hauptstadt Aix. Das weiß man ja. Da soll es ja toll zugehen.«

Sie strich sanft die Kehle mit Daumen und Zeigefinger. Emilie öffnete matt und erstaunt die Augen. Die Alte strich weiter. »Ja, da draußen geht es wild zu. Sogar die Dauphine – ach ja, jetzt ist sie ja Königin seit einigen Tagen – soll ja böse Dinge treiben. Aber hier – in Manosque – im eigenen Hause – der eigene Sohn – diese liebe kleine Frau – –«

Sie zog hastig die Finger zurück, denn erst jetzt ward ihr bewußt, daß sie das lebendige Laster streichelte.

Die beiden alten Offiziere blickten stumm und finster zu Boden. Mirabeau grübelte. Seine Gedanken hasteten. Ihm war eingefallen, daß es keinen rechten Zweck hätte, die Frau dort zu erwürgen. Ihre Untreue hatte im Grunde nur seine Manneseitelkeit verletzt. Er legte kein allzu großes Gewicht auf diese Körperlichkeiten. Er liebte sie auch nicht mehr allzu heftig. Er erkannte, daß ihr Fehltritt sich gewinnbringend ausmünzen ließ. Er hatte sie jetzt in der Hand. Nun wollte er ihrem Vater, diesem edlen Herrn Emanuel von Covet, Marquis von Marignane, Seigneur von Vitrolles, Gignac, Saint-Victoret und anderen Orten, Gouverneur der Isles d'Or und der Festungen Portiros und der Levante, diesem Midas der Provence, die Daumenschrauben anlegen. Jetzt sollte er den Verrat seines Geizes büßen. Dieser lockere Held mit den pomphaften Titeln, der mit seiner Geliebten den Liebeshof zu Tourves zierte, hatte ihn übel betrogen. Er hatte sehr wohl gewußt, daß der arme Graf Mirabeau auf eine reiche Mitgift der reichen Erbin rechnete. Und hatte ihn mit der Hungerrente von dreitausend Livres abgefunden. Dieser Harpagon war im Grunde schuld an allem Elend. Ihm fielen gerechterweise die hohen Schulden zur Last, für die er hier in jämmerlicher Gefangenschaft schmachtete. Aber jetzt hielt er ihn in der Faust. Es würde ihm nicht gerade angenehm sein, wenn von Herrenhof zu Herrenhof der Provence die Flüsterkunde lief, daß sein einziges Kind die Ehe gebrochen hatte. Jetzt zappelte dieser alte Lüstling im Netze.

Während der Graf die freudigen Aussichten dieser kleinen artigen Erpressung übersann, war ihr schuldvolles Objekt langsam zu vollem Bewußtsein erwacht. Emilie hob das brünette hübsche Gesicht und sah scheu zu dem Manne auf, der nachdenklich zu Boden blickte. Jetzt warf er die Löwenmähne zurück, daß der Puder stäubte, und rief in edlem Pathos:

»Meine Damen und Herren!«

Alles blickte ihn erwartungsvoll an. Selbst das Kind, das jetzt friedlich den Daumen lutschte, sah mit großen runden Augen auf den von erhabener Milde umstrahlten Vater.

»Meine Damen und Herren! Ich habe mich entschlossen, Gnade zu üben. Ich werde dieses verräterische Weib nicht töten.«

Er hob die Hand, der drei Alten Ausbruch der Freude, ihre Erlösung vom Grauen zu bannen. Er wollte reden. Er wollte, in schauspielerischer Selbsttäuschung, die Wollust seiner hohen Güte auskosten.

»Eine unglückliche Kreatur, die ich vernichten könnte, windet sich zu meinen Füßen, umschlingt sie.« Er wies auf die Frau, die gelassen auf dem Sofa saß.

Trotz ihrer kaum verflatternden Todesfurcht entging Emilies ironischer Begabung die dichterische Lizenz dieses Bildes nicht. Sie biß die herrlichen weißen Zähne in die Unterlippe, ein Lächeln zu verbergen. Die Triole blickte ehrfurchtsvoll und dankbar drein und nickte.

Der Graf aber fuhr, hingerissen von seiner Großmut, in ekstatischem Schwunge fort:

»Ich sehe ihre Reue. Ihre Gewissensqualen entwaffnen mich. Ich denke an ihr schwaches Geschlecht, ihre Zweiundzwanzig, die zwei Jahre, die ich im Glück mit ihr gelebt. All mein Grimm fällt auf den Schurken zurück, der uns beide, sie und mich, vernichtet hat.«

Madame Gassaud hob flehend beide Hände, öffnete den Mund. Wieder hob der Redner die Rechte, Ruhe heischend.

»Aber muß ich ihn vernichten? Nein!«

Ein Atmen allgemeiner Erleichterung.

»Sein Vater wird sein Richter sein.«

Eifriges Nicken des Chevaliers de Gassaud, des Vaters.

»Ich brauche nur zu seinem Oheim zu sprechen, und sein Schicksal ist besiegelt.«

»Bei Gott!« rief heftig bestätigend Chevalier de Gassaud, der Onkel.

»Mein ist nicht die Rache. Ich kann mich nicht entschließen, das Leben einem Menschen zu entreißen, der zwar ein infamer Bursche, aber Sohn und Neffe der Menschen ist, die ich über alles achte und ehre.«

Jetzt gab es kein Halten mehr. Die drei Alten stürmten auf den Redner zu, umhalsten, küßten ihn, übergossen ihn mit den Strömen ihrer Dankbarkeit, ihrer Erschütterung ob seines Seelenadels und seiner gottähnlichen Vergebung.

Emilie lag in den Kissen des Kanapees behaglich zurückgelehnt und lächelte, lächelte nun schon ohne Verbergen.

Mirabeau war enttäuscht. In ihm ballten sich noch so herrliche Gefühle zu herrlichen Worten, die sich hatten entladen wollen. Der Ansturm des Kleeblattes hatte seine Rede schmählich untergraben. Er zürnte. Da er aber starkes Gefühl für szenischen Aufbau besaß und die Lage irgendwie gerettet werden mußte, entriß er sich den Händen der Dankbarkeit, schritt zum Tische, ergriff den unseligen Brief des Musketiers, entzündete eine Kerze und verbrannte ihn mit der Miene eines Hohenpriesters, der den Gewalten der Rache und des Zornes ein erhebendes Sühneopfer darbringt.

»Bravo, erhaben, ein herrlicher Mensch!« murmelte der Chorus.

»Und nun«, schloß Mirabeau die Feier, »wirst du diesem – diesem – jungen Manne schreiben. Komm her!« Er reichte ihr den Gänsekiel. »Schreib!«

»Ich habe mich, mein Herr«, diktierte er und blickte alle an, Anerkennung heischend. Sie wurde ihm üppigst zuteil. »Ich habe mich, mein Herr, aus meiner Verirrung zurückgefunden, und der erste Erfolg meiner Rückkehr zur Tugend ist der, Sie zu verständigen, daß jede Beziehung zwischen uns beendet ist. Der Zufall hat es gefügt, daß Ihr Brief ...«

Sie schrieb ruhig und sorgsam, sauber und mit flottem Schwunge. So, wie sie war. Die Alten standen dabei und nickten befriedigt zu jedem Worte. Als das Schreiben beendet war, nahm Mirabeau es an sich.

»Ich besorge es zur Post«, sagte er und ging. Doch auf der Post schrieb er darüber: »Mirabeau fils, ne varietur,« beglaubigte hiermit die Echtheit und steckte das Schreiben – nicht in den Kasten, sondern in seine Tasche. Es sollte noch ersprießliche Dienste tun.

An den Musketier aber schrieb er all die Worte, die der dankbare Aufruhr des Gassaud-Trios ihn verhindert hatte, in lauten Worten entströmen zu lassen.


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